Wahnsinn“, murmelt ein Grauhaariger in einer dunklen Textilkombi. Abgas hängt in der Luft. Ringsum hämmern Hunderte Motoren. Polizisten wedeln mit Armen und Dienstmützen: „Durchfahren, bis nach hinten durchfahren!“ Permanent fluten neu ankommende Motorräder den Parkplatz. Die Bierlaster, die sonst hier mit Kästen und Fässern beladen werden, haben fürs Wochenende ihr Revier hinter der Abfüllanlage geräumt. Der Grauhaarige schießt Fotos mit der Digiknipse.
Der Korso ist Höhepunkt der Motorrad-Sternfahrt nach Kulmbach. Zum zwölften Mal hatten das Bayerische Innenministerium und die Aktienbrauerei gemeinsam mit den Fahrlehrern und anderen Verbänden die Biker des Freistaats in die oberfränkische Biermetropole gerufen. Von 32 über Bayern verteilten Startpunkten aus hatten sich am Sonntag früh tatsächlich Tausende auf den Weg gemacht. Auf den Straßen der Fränkischen Schweiz, die als Kurven- und Motorrad-Eldorado gilt, verdichteten sich die geführten Gruppen schließlich zu einem konstanten Strom aus Zweirädern, den die Polizei zur Korso-Aufstellung auf einen Großparkplatz außerhalb der Kreisstadt lotst. Um zwölf Uhr mittags schließlich der Startschuss, der bayerische Innenminister auf der Rückbank eines weinroten Mercedes-Cabrios winkend vorneweg. Dann über 40 Minuten lang Motorräder, Mopeds, Roller, Mofas, Quads und Trikes hinterher: hupend und winkend, knatternd, röhrend, bollernd, pröttelnd und auch stinkend. Lautstark rollen sie ins Brauereigelände ein. Jeder Kulmbacher mit zwei gesunden Beinen steht jetzt entweder am Straßenrand und winkt zurück - oder ist längst fürs Wochenende aufs Land geflohen.
Wer sein Bike abgestellt hat, marschiert rüber auf die Festwiese. Ducati, Harley und BMW haben hier regelrechte Messestände aufgebaut, Kawasaki ist auch groß vertreten. TÜV und Dekra informieren, der ADAC wirbt mit Plakaten und lädt zu einer Runde auf dem Fahrsimulator ein. Auf jeden Sicherheitstrainingsgutschein gibt es in Kulmbach 20 Euro Rabatt. „Die Gutscheine werden schon nachgefragt“, gibt der junge ADAC-Mitarbeiter Auskunft. Wie viele Trainings er in Kulmbach unters Biker-Volk gebracht hat? Keine Ahnung, 100? Nein, waren es wohl noch nicht. Da geht bei „Bertl’s“ nebenan schon mehr: „150 Probefahrten haben wir hier übers Wochenende locker gehabt“, freut sich Michl Sillner, der Verkäufer des Bamberger Harley-Händlers. „Und ich bin sicher, von denen sehen wir einige bald im Laden wieder.“ Erst als Michl seine Tochter erspäht, wie sie sich am Stand nebenan für den MOTORRAD-Fotografen in Pose wirft, wird er grantig und ruft die Neunjährige streng zur Ordnung: „Jelena, komm hierher, nicht auf die BMWs setzen!“

Derweil blödelt sich auf der großen Bühne das Moderatoren-Duo eines bayerischen Privatradios warm. Gleich kommt der Minister zum ernsten Interview, da darfs vorher noch ein kleiner Gag sein: „Warum sind Polizeimotorräder immer zu zweit unterwegs? Das eine macht tü, das andere macht ta …“ Das Publikum macht dazu gar nichts. Schließlich entert Joachim Herrmann auf. Der CSU-Innenminister des Freistaats gibt sich in schwarzer Textilkombi mit Reflexstreifen an den Schultern leutselig, erklärt ins Mikro, dass er am Vormittag selbst mit dem Motorrad aus Erlangen angereist sei. Dann kündigt er seine „Sicherheitskampagne 2020“ an. Besonders Bayern erlebe derzeit einen „Motorrad-Boom“, so Herrmann, der ihn freue, der aber mit einem Anstieg der Unfallzahlen verbunden sei. Dagegen gelte es, vorzugehen. Mit Appellen und Kontrollen, denn immer noch sei zu hohe Geschwindigkeit Unfallursache Nummer eins (Herrmann: „Ich hoffe, das nehmen sich alle zu Herzen“), aber auch mit Investitionen in Straßenbau und vor allem sicherere Leitplanken. Auch die Sternfahrt sei, so der Minister, ein „ganz wesentlicher Teil der Verkehrssicherheitsarbeit in Bayern“. „Ein Wahnsinn“, sagt der Grauhaarige im Paralleluniversum derweil noch einmal und schießt ein weiteres Foto.