Nichts geht mehr in Mandello del Lario. Sämtliche Straßen des Städtchens am Ufer des Comer Sees sind verstopft, eine Guzzi reiht sich an die nächste. Galletto-Roller und Motocarri aus der Nachkriegszeit, V7 und Le Mans aus den glorreichen 70er-Jahren, aktuelle Norge- und Stelvio-Modelle. Das Bollern und Beben der V2-Motoren erfüllt die Gassen, die Stimmung ist erwartungsvoll, die Atmosphäre hat etwas von einem Rockfestival vor dem ersten Gig.
Im Werk in der Via Parodi 57 bilden sich lange Schlangen vor dem reich bestückten Museum, der Produktionsstraße und dem beeindruckenden Windkanal von 1950, damals der erste, den ein Motorradhersteller sein Eigen nannte. Derweil feiern unten am Seeufer fröhlich vereint die Einwohner von Mandello und die Motorradfahrer. Eine ganze Zeltstadt ist entstanden, um die Gäste zu verpflegen; Juweliere und Bäcker, Wirte und Lebensmittelhändler haben ihre Fenster mit Wimpeln dekoriert und Guzzi-Flaggen gehisst. Hausbesitzer stellen ihre Vorgärten als Zeltplätze für die Besucher zur Verfügung, Bootsanleger werden zu Ausstellungsflächen für Oldtimer umfunktioniert, und mit der Fähre treffen immer wieder Motorradfahrergruppen ein. Ein heißes Septemberwochenende lang ist ganz Mandello fest in Guzzi-Hand.
Das Wort vom Mythos ist viel strapaziert, doch auf Moto Guzzi trifft es tatsächlich zu. Wie schafft es ein kleiner Hersteller nur, der im besten Fall 5000 Motorräder pro Jahr auf die Straße bringt, so viele Fans zu mobilisieren? Mehr als 20 000 sind zum 90. Geburtstag gekommen, rund 2000 davon allein aus Deutschland. Dabei kann Guzzi weder auf aktuelle Rennsporterfolge verweisen noch mit avantgardistischer Technik aufwarten. „Allein, dass es Guzzi noch gibt, ist ein Grund zum Feiern“, meint California-Treiber Alessandro aus Mailand strahlend. Andere schlagen in die gleiche Kerbe, das wechselvolle Schicksal der Marke steigert offenbar ihre Anziehungskraft. Einst Italiens größter Motorradhersteller, war sie in den 60er-Jahren erstmals von der Schließung bedroht, rappelte sich in den 70er-Jahren mit der ruhmreichen V7 Sport und der Le Mans wieder auf, wurde dann mit Benelli zusammengelegt und verlor fast ihre Identität. Später wechselten die Besitzer fast im Jahresrhythmus, Moto Guzzi balancierte gefährlich am Abgrund entlang. Ende 2004 verleibte sich der Rollerbauer Piaggio die Marke ein, wusste zunächst aber wenig mit ihr anzufangen. Vor zwei Jahren drohte dem Adler die endgültige Vertreibung aus seinem Horst, doch in letzter Sekunde legte er eine Notlandung hin, nicht zuletzt dank einer Protestdemo der Getreuen – derselben, die nun ihren Erfolg beim Geburtstagsfest feiern. Der Magie des Guzzi-Adlers kann sich eben nicht mal ein kühl kalkulierender Finanzier wie Piaggio-Boss Roberto Colaninno entziehen.
Ebenso wenig wie die Geburtstagsgäste, beispielsweise Rudolf und Christian aus Linz. „Durch diese alten Hallen zu laufen, wo seit 90 Jahren produziert wird – das ist ein echter Höhepunkt, wie es ihn bei anderen Marken nicht gibt“, bekennt Stelvio-Fahrer Robert fasziniert. Die beiden Ingenieure Xaver und Achim aus Ingolstadt stehen derweil mit leuchtenden Augen vor einem akribisch in seine Einzelteile zerlegten Vierventilmotor, den Guzzi in der Produktionshalle zeigt. „So viele begeisterte Leute sind hier, das muss doch einfach ein Motivationsschub für die Manager sein“, hofft Xaver, der neben einer Le Mans III auch den Zweitakter 250 TS in der Garage hat. Konzernchef Colaninno immerhin scheint die Botschaft verstanden zu haben: Das Werk bleibe erhalten und werde modernisiert, verspricht er in Mandello. „Wir werden künftig jedes Jahr ein neues Modell präsentieren.“ 40 Millionen will Piaggio in den nächsten Jahren in die Guzzi-Entwicklung investieren – damit der Adler auch an seinem Hundertsten noch fliegen kann.