Stell dir vor, es ist kein Rennen - und alle gehen hin. Das ist Goodwood, das Festival of Speed. Auf dem Landsitz von Charles Gordon-Lennox Earl of March and Kinrara steigt alljährlich die größte Sommerparty der Motorsportwelt.
Über 150 000 Rennsportfans überfluten das unglaubliche Areal rund eine Autostunde südwestlich von London, unweit der englischen Südküste. Und was sie erleben, hat mit einem normalen Rennbesuch, ganz egal welcher Art, wenig zu tun. Denn die "Rennstrecke" entpuppt sich als ein eher schmaler asphaltierter Weg auf dem Goodwood-Privatgelände, der über 1,86 Kilometer sanft, wirklich sehr sanft, bergauf führt und deshalb zur Bergrennbahn befördert wurde. Eine auf der Goodwood-Anlage ebenfalls existierende tatsächliche Rennstrecke - ein Flugplatz, eine Pferderennbahn mit immensen Stallungen, ein Golfplatz sowie die heutige Rolls-Royce-Autofabrik befinden sich so ganz nebenbei auf noch auf dem Gelände - wird beim Festival of Speed übrigens nicht benutzt.
Man braucht sie allerdings auch nicht, denn das Erzielen von Bestzeiten haben beim Festival of Speed tatsächlich weit weniger als zehn Prozent der Teilnehmer im Sinn. Sehen, zeigen und gesehen werden ist das, worauf es ankommt in Goodwood. Und was gezeigt wird und damit auch gesehen werden kann, ist für jeden Motorsportfan atemberaubend. Renn- und Sportfahrzeuge aus tatsächlich allen Epochen der Fahrzeughistorie betören alle Sinne, Augen, Ohren und Nasen der Rennsport-Eingeweihten beinahe ins Grenzenlose.
Wir müssen hier in einer MOTORRAD-Geschichte zwar durchaus einräumen, dass die große Majorität des Teilnehmerfelds aus Automobilen besteht. Aber die Zweiradfraktion liegt nur in der Quantität zurück. Highlights aus der Motorradsport-Historie wie die Ladepumpen-DKW-350 und zahlreiche Preziosen aus dem britschen Vorkriegs-Racing, die 500er-Weltmeister-Ma-
schinen aus den Jahren 1960 (MV Agusta von John Surtees), 1979 (Kenny Roberts Yamaha), 1984 (Freddie Spencers Honda) oder 1986 (Eddie Lawsons Yamaha), die 250er-WM-Honda des unvergessenen 2000er-Weltmeisters Daijiro Katoh sowie aktuelle Werks-Superbikes von BMW oder Kawasaki brauchen sich nicht zu verstecken vor dem Fiat-Weltrekordwagen von 1991, Bugatti-GP-Autos aus den 1920er-Jahren, weiteren legendären Formel-1- und Rennsportwagen aus den 50ern, 60ern und 70ern bis hin zum aktuellen LeMans-Sieger von Audi oder dem Lotus-Renault-Formel-1.
All diese Schätze und ungezählte mehr können die Fans sowohl auf wie neben der Piste hautnah bewundern, inklusive Kontaktchancen zu den Fahrern, die über reines Autogrammejagen weit hinausgehen.
Neben dem mit Abstand populärsten englischen Rennfahrer des Universums, Sir Stirling Moss, der diesen Titel verdient, obwohl er im Rennsport nie eine WM gewonnen hat, erregte John Surtees das meiste Aufsehen. Er ist auch im schwarzen Motorradleder aufgetreten und war während seiner aktiven Rennfahrerjahre zwischen 1949 und 1972 im Übrigen viel erfolgreicher als Moss:
Er ist bis heute der einzige Mensch, der sowohl auf einem GP-Motorrad als auch in der Automobil-Formel 1 Weltmeister wurde. Zwischen 1956 und 1960 gewann er auf MV Agusta vier 500-cm³- und drei 350er-Titel, bevor er 1964 im Ferrari Formel-1-Weltmeister wurde.
Und genau nach diesem Motto - "der Beste in beiden Welten" - engagierte sich Surtees in Goodwood in diesem Jahr gleich doppelt. Wie schon des Öfteren in der Vergangenheit trieb der inzwischen 77-Jährige in durchaus engagiertem Stil den Grand-Prix-Renner W165 von Mercedes-Benz den Goodwood-Hügel hinauf, mit dem Hermann Lang 1939 Europameister wurde, was dem heutigen Formel-1-Weltmeister-Titel gleichzusetzen ist.
Vor allem aber konnten die Fans ihren John Surtees auf der originalen BMW RS 500 Kompressor bewundern, auf der der unvergessene Schorsch Meier ebenfalls 1939 die TT auf der Isle of Man gewonnen hatte.
Die englischen Fanmassen an
der Strecke waren begeistert, weil John Surtees auch die schwarze BMW alles andere als rentnermäßig das Hügelchen hinaufjagte. "Das sind Rennfahrzeuge, die Leute wollen das sehen, auch heute noch", begründete der noch überaus rüstige Champion grinsend seine zügige Gangart.
Den Bogen zum heutigen Motorradrennsport in Weißblau schloss dann Werks-Superbiker Leon Haslam, der die Goodwood-Bergbahn weitgehend auf dem Hinterrad und in den Fußrasten stehend absolvierte.
Etwaige übergenaue Racing-Historiker vom europäischen Festland bekamen auf ihre vorlauten Fragen, was denn ausgerechnet John Surtees, der nie auch nur einen Meter für BMW im echten Renneinsatz gefahren ist, mit der BMW-Motorradhistorie zu tun hätte, eine ebenso überraschende wie originelle Replik (siehe nebenstehendes Interview).
Denn die vielleicht wichtigste aller historischen BMW-Rennsport-Preziosen auf zwei Rädern war lange Jahre im Besitz von John Surtees und würde ohne ihn womöglich überhaupt nicht mehr existieren. Was nicht nur für die begeisterten 150 000 Goodwood-Fanatiker ein herber Verlust wäre.
"Als Kind habe ich Schorsch Meier und seine BMW bewundert"
John Surtees, einziger Motorrad- und Formel-1-Weltmeister, im Gespräch mit MOTORRAD-Redakteur Michael Rohrer.
? John Surtees, Sie fahren in Goodwood beim Festival of Speed die BMW RS 500 Kompressor von 1939, obwohl Sie nie mit BMW Rennen fuhren. Ihre eigene Weltmeistermaschine MV Agusta 500 von 1960 fährt ein Freund. Wie kam es dazu?
! Nun, die BMW, es ist übrigens tatsächlich die Originalmaschine, mit der Schorsch Meier 1939 die TT auf der Isle of Man gewonnen hat, verbindet eine besondere Geschichte mit mir. Als fünfjähriger Knirps bewunderte ich Schorsch Meier damals unheimlich und sein mächtiges Motorrad. Die Maschine war, was ich zu dieser Zeit natürlich nicht wusste, durch die Kriegswirren verschollen. Wahrscheinlich ist sie auch irgendwann mal gestohlen worden. Viele Jahre später, als ich meine Autorennfahrer-Karriere und auch das Engagement des Team Surtees in der Formel 1 beendet hatte, wandte ich mich, eher als Hobby, wieder den Motorrädern zu. Und irgendwann wies ein Freund mich darauf hin, dass irgendwo in Frankreich eine BMW RS 500 Kompressor aufgetaucht sei und wohl auch zum Verkauf stünde. Ich habe die Maschine ausfindig gemacht und gekauft. Es war tatsächlich das originale Schorsch-Meier-Motorrad.
? Aber die Maschine gehört heute wieder dem BMW-Werk und steht in München im Museum.
! Ja, das stimmt. Ich habe sie vor ungefähr zehn Jahren an BMW verkauft, weil ich es irgendwie korrekt fand, dass die Maschine wieder nach Hause kommt. Und nun kam BMW auf die Idee, sie mit mir hier beim Festival of Speed zu präsentieren. Ich habe natürlich sofort begeistert eingewilligt. Es macht einen riesigen Spaß, das Motorrad zu bewegen.
? Sie fahren hier auf der BMW, aber auch im Grand-Prix-Wagen W165 von Mercedes-Benz, auch von 1939. Sind Sie ähnlich wie mit Ihren Motorrad- und Formel-1-WM-Titeln wieder der einzige Mensch, der innerhalb einer Veranstaltung als Werksfahrer für BMW und Mercedes auftritt?
! Ja vielleicht, aber wieder fällt mir Schorsch Meier ein. Der fuhr ja damals für BMW Motorrad, und nicht für Mercedes, aber für Auto Union auch Automobil-GP.
? Wie ist es denn nun, ständig zwischen dem Motorrad und dem Auto hin und her zu springen - und dann auch noch mit solchen Schätzen, die möglichst unversehrt bleiben sollten?
! Ja, du musst schon ziemlich schnell umschalten können. Und dann kommt ja noch dazu, dass beide Fahrzeuge ihre Besonderheiten auch innerhalb ihrer Gattung haben. So hat die BMW die Schaltung links und die Fußbremse rechts, ganz im Gegensatz zu den von mir früher bewegten Rennmaschinen. Beim Mercedes W165 dagegen musst du ständig daran denken, dass das Gaspedal in der Mitte und die Bremse rechts ist. Man sollte also schon noch einigermaßen geistig frisch sein, um keinen größeren Blödsinn zu machen.
? Warum sehen wir Sie nicht auch noch in Ihren eigenen Surtees-Formel-1- oder 2-Autos?
! Nun, hier haben wir jetzt keinen. Aber es gibt einige fahrfähige Exemplare, unter anderem das Auto, mit dem Mike Hailwood 1973 die Formel-2-EM gewonnen hat. Das fuhr ich zum Beispiel beim Goodwood Revival im letzten Herbst.
John, vielen Dank für das Gespräch, das mich auf eine illusorische Idee bringt. Sie waren als Fünfjähriger Schorsch-Meier-Fan. Ich stand als Fünfjähriger mit großen Augen an der Stuttgarter Solitude-Rennstrecke und habe John Surtees im Formel-1-Ferrari bewundert. Vielleicht sollte ich in Maranello für das Festival of Speed 2036 schon mal anfragen