Manche Träume ziehen sich fast durch ein ganzes Leben. Claudio Castiglioni war Anfang 20, als Rennlegende Giacomo Agostini Mitte der 60er-Jahre seine einzigartige Siegesserie auf MV-Agusta-Dreizylindern startete. Das schaurig-schöne Gebrüll dieser Motoren traf Castiglioni bis ins Mark, MV wurde für ihn die Motorradmarke schlechthin. Das hielt an, als sie längst vom Markt verschwunden war. 1997 erweckte er sie mit der F4 wieder zum Leben. Damit nicht genug. „Ich will auch einen Dreizylinder bauen“, sagte er schon vor Jahren in einem Gespräch mit MOTORRAD, „der hat für MV etwas Magisches. Und das Motorrad drumherum muss auf jeden Fall außergewöhnlich werden.“
Rund 45 Jahre nach Agos ersten Siegen geht der moderne Dreizylinder nun in Produktion. Technisch außergewöhnlich ist er tatsächlich geworden, und auch der Preis fällt für MV-Verhältnisse außergewöhnlich aus, nämlich relativ niedrig: Den Sportler F3 gibt es bereits für 11990 Euro, das Naked Bike Brutale 675, das im Frühjahr folgt, kostet in der Basisversion 8990 Euro. Castiglioni selbst erlebt die Verwirklichung seines Traums allerdings nicht mehr, er starb im August 2011. Die Geschäfte führt jetzt sein Sohn Giovanni (siehe Interview Seite 17), ihm zur Seite stehen Massimo Bordi, langjähriger Generaldirektor von Ducati, und Technikchef Marco Cassinelli, der von Lamborghini kam. Sie enthüllten exklusiv für MOTORRAD viele technische, einige ökonomische und auch ein paar menschliche Geheimnisse des Projekts.
Leicht war der Weg zum fertigen Motor nicht. Von gut konservierter jugendlicher Begeisterung fürs historische Vorbild getrieben, wollte Castiglioni anfangs nur die beste und aufwendigste Technik im neuen Dreizylinder verwirklicht sehen: Radial angeordnete Ventile, ein Stirnradsatz als Antrieb der Nockenwellen, die Lichtmaschine hinter den Zylindern, um auf eine Breite von maximal 300 Millimetern zu kommen - so lauteten seine Vorgaben. Weil die Yamaha M1 unter Valentino Rossi in der Phase der Vorentwicklung das dominierende Motorrad der MotoGP-Klasse war und ihr überlegenes Handling unter anderem mit der rückwärts drehenden Kurbelwelle begründet wurde, verlangte Castiglioni außerdem, dass auch die Kurbelwelle seines Dreizylinders entgegen der Fahrtrichtung rotieren solle.
Der damit einhergehende gyroskopische Effekt, so das Kalkül, würde demjenigen entgegenwirken, der von den vorwärts drehenden Rädern erzeugt wird, und so das Motorrad handlicher machen sowie die Wheelie-Neigung beim scharfen Beschleunigen mindern. Technikchef Marco Cassinelli sagt, den Messwerten zufolge sei der Effekt nicht sehr stark, nach den Eindrücken der Testfahrer aber sehr wohl spürbar. Es wäre interessant zu erfahren, welches Motorrad als Vergleichsobjekt diente. Etwa ein MV-Chassis mit dem Motor einer Triumph Daytona 675?

Damit das Motorrad bei rückwärts drehender Kurbelwelle nicht auch rückwärts fährt, braucht es in der Verbindung zum Hinterrad eine zusätzliche Welle, und für diese Aufgabe eignet sich die bei einem modernen Dreizylinder ohnehin nötige Ausgleichswelle. Sie wird beim MV-Drilling sogar zu einem wahren Multifunktionsteil. Zum Ersten versetzt sie die vibrationsdämpfenden Gegengewichte in Rotation, zum Zweiten stellt sie die Verbindung zwischen Kurbelwelle und Kupplung und dabei gleich die richtige Drehrichtung her. Drittens treibt sie das Ritzel der Steuerkette an und viertens nimmt sie den Geber zur Erfassung der Kurbelwellenposition auf. Technikchef Cassinelli bezeichnet sie gar als das Herz des Motors.
Was die anderen der ursprünglich geforderten technischen Spezialitäten betrifft, so rangen die Techniker ihrem „presidente“ vernünftigere Lösungen regelrecht ab. Dem Ringen fielen drei fertig konstruierte Motorvarianten und der Sage nach auch ein Hemdkragen zum Opfer. Die radial angeordneten Ventile, die eine besonders komplizierte Bearbeitung des Zylinderkopfes verlangen, verloren knapp den Leistungswettkampf gegen parallel hängende Ventile. Weil die Techniker Claudio Castiglioni dabei zugleich beweisen konnten, dass mit modernen Steuerketten Drehzahlen von über 15000/min problemlos machbar sind, durften sie auch auf den Stirnradantrieb der Nockenwellen verzichten.
Motorvariante drei geriet atemberaubende 299 Millimeter schmal, doch die sogenannte Rucksacklichtmaschine hinter dem Zylinderblock war leider weniger drehzahlfest als die Steuerkette. Nachdem etliche Versuchsexemplare geplatzt waren, bat der Vertreter der Zulieferfirma verzweifelt darum, doch bitte einen Generator zu verwenden, der direkt auf dem Kurbelwellenstumpf sitzt. Er baut zwar etwas breiter, aber er hält. Satte 80 Millimeter schmaler als der Motor der Triumph Daytona 675 ist der MV-Drilling mit dieser Lösung immer noch.
Technisch gesehen gereicht es dem F3-Motor also nicht zum Nachteil, dass er aus wirtschaftlicher Sicht immer vernünftiger wurde. Er ist die wichtigste Komponente der Preisoffensive von MV, indem er gegenüber dem Vierzylinder rund 40 Prozent an Herstellungskosten einspart. Dazu trägt bei, dass alle Zahnräder vom Primärtrieb bis zum Radpaar des sechsten Gangs mit dem gleichen Zahnmodul und also mit einem normal käuflichen Standardwerkzeug gefertigt werden. 40 Prozent besser als die F4 ist die F3 auch in der Umweltverträglichkeit, bezogen auf den Herstellungsprozess und die Lebensdauer bis hin zum Recycling.
Neben rationeller Fertigung ist dabei auch wichtig, dass die Entwickler das Motorkonzept nicht gleich am Anfang ausreizen. Die Durchmesser der Titanventile sind mit 31,8 Millimeter am Ein- und 26,7 am Auslass zwar 1,3 beziehungsweise 1,2 Millimeter größer als bei der Daytona, nutzen aber die Bohrung von 79 Millimetern längst nicht so radikal aus wie bei einer der verworfenen Motorvarianten. Ein Foto des dazugehörenden Zylinderkopfs erschien vor einem knappen Jahr in -MOTORRAD 5/2011. Mangels aktueller Informationen musste man damals noch davon ausgehen, dass dieser Stand in Serie geht.
Zwischen den Zylinderbohrungen bleibt auch viel mehr Material, als zuvor erprobt. Weniger als fünf Millimeter dick waren die Stege bei der schmalen dritten Variante, in der Serie sind es sieben. Das schafft die Möglichkeit, den Hubraum später auf über 800 cm³ zu erweitern, ohne dass die Außenmaße des Triebwerks wachsen müssten. Vielleicht wird das die Motorvariante für die von Giovanni Cas-tiglioni angekündigte Supermotard-MV, die 2013 erscheinen soll.

Ohne genauere Angaben zu erhalten, bekam die MOTORRAD-Delegation beim Besuch im Werk mehrere Nockenwellen in die Hände, die sich vor allem im Nockenhub unterschieden. Im F3-Motor mit 126 PS werden die nur 17 Gramm schweren Einlassventile rund 11,7 Millimeter aufgedrückt, zwei Millimeter weiter als bei der BMW S 1000 RR. Die Einlassnocke der Brutale 675 mit 115 PS nahm sich im Vergleich dazu wie ein sanftes Hügelchen aus, was dem Drehmoment im unteren Bereich jedoch sicherlich zugutekommt. Und dann lag da noch die Einlasswelle mit der Bezeichnung „RR“. Eine neugierige Frage danach beantwortete Marco Cassinelli mit einem Achselzucken und beiläufigem Wegräumen des verräterischen Teils bei erster Gelegenheit.
Weil der Dreizylinder als Plattform-Triebwerk von Anfang an in mehreren Motorrädern, darunter auch der sparsam verkleideten Brutale, eingesetzt werden sollte, verlegten die Techniker große Partien des Kühlkreislaufs in das Gehäuse. Die Fotos auf Seite 12 zeigen an der Vorderseite des Gehäuses die Kanäle, durch welche die Kühlflüssigkeit von der innerhalb der Ölwanne platzierten Wasserpumpe nach oben getrieben wird, bevor sie an der heißen Auslasszone vorbei in den Zylinderkopf fließt. So wird das wenig ansehnliche Schlauchgeschlinge zwischen Kühler und Motor aufs Nötigste reduziert, das attraktive Aussehen des Triebwerks kommt voll zur Geltung.
Drehrichtung der Kurbelwelle, Zylinderblock mit dem Gehäuse zusammengegossen, Kassettengetriebe, Titanventile - falls Hardcore-MV-Fans befürchtet hatten, der neue Dreizylinder sei nur noch vernünftig, so können sie erleichtert aufatmen. Es bleiben noch genügend technische Leckereien und Besonderheiten übrig. Und das Motorrad drumherum ist auch außergewöhnlich. Wie geplant.