Als man ihn von der Leine lässt, macht Lucky seinem Namen alle Ehre, rast wild vor Freude über den Deich und fordert bellend einen Spielkameraden. Mensch, Hund, Motorrad – ihm wäre alles lieb. Seine Erziehungsberechtigten werfen brav Stöckchen, ansonsten genießt das Ehepaar Engelmann abendliche Spaziergänge entlang der Sude gern gelassen. Man hat sich an vieles gewöhnt. Aber nicht vergessen: Wenige Hundert Meter weiter strömt das Flüsschen in die Boize, ja, dort, wo die Montagehalle der Werft heute nutzlos in den Himmel ragt.
Da hat Frau Engelmann jahrzehntelang gearbeitet, zuerst in der Küche, dann im Kindergarten, und konnte vom Fenster aus die Scheinwerfer der Grenzanlagen sehen. Bis 1989 waren Sude und Vorland hell erleuchtet, mit Kontrolltürmen gespickt, damit die Soldaten jeden entdeckten, der abhauen wollte. Absolutes Sperrgebiet für alle, auch alle Boizenburger, denn hinterm Vorland fließt die Elbe, der Grenzfluss.
Was ist Zeit?
Bedächtig rollt die Yamaha auf winzigen Straßen hinüber in die nahe Carrenziener Heide. Wird noch langsamer, als der Asphalt endet, muss dann doch wieder Schwung aufnehmen, um nicht im Tiefsand einzusinken, bleibt unweit einer ausladenden Eiche stehen. Über die sandige Flanke eines bewaldeten Hügels schweift der Blick – die Wanderdüne von Stixe. Zur anderen Seite hin liegt weites Weideland unter noch weiterem Blauhimmel. Lange, lange gehörte dieser ostelbische Flecken zu Hannover, folglich nach dem Zweiten Weltkrieg zur britischen Besatzungszone. Das wiederum erschien angesichts einer fehlenden Brücke über den breiten Strom allzu umständlich, und so fiel das Amt Neuhaus kurzerhand an die Sowjets. Erst 1993 wurde dieser Fehler korrigiert, und seither zählt es mit seinen sieben Gemeinden wieder zu Niedersachsen. Die Wanderdüne bewegt sich in Richtung der vorherrschenden Winde mit zirka drei bis vier Zentimetern pro Jahr.
Was ist langsam? Dass Boizenburg ein Vierteljahrhundert nach der Wende immer noch anders wirkt als das 20 Kilometer elbabwärts gelegene holsteinische Lauenburg? Was ist Zeit? Auf jeden Fall relativ: Menschen finden, 25 Jahre seien viel. Eine Wanderdüne sieht das anders. Boizenburg mit seinem gewaltigen Marktplatz ist verdammt schnell wieder wunderschön geworden. Und über den Wiesen jubilieren Lerchen und fliegen Kiebitze zickzack und späht der Rote Milan nach Beute. Denen ist die Zeit egal, die kennen nur heute. Die TT 600 bollert zurück ins Hotel, es gibt auch ein Morgen, da soll es früh rausgehen.
Es bleibt grün, sandig, unasphaltiert
Der Tau hängt schwer im vorsommerlich langen Gras, Getreide und Raps wogen über die sanften Hügel, hängen – grün noch und nass – im Weg. In Senken oder tieferen Spurrinnen steht Wasser vom letzten Regen, jetzt locker bleiben, der Führungskraft grober Stollenreifen vertrauen, laufen lassen. Betulich drückt der alte Einzylinder eine Steigung hoch, da hinten geht es noch weiter hinauf, unter den Ästen der Erle den Kopf einziehen, auf dem verdichteten Boden das Hinterrad nicht wegschmieren lassen, den Wegrand als Anlieger nutzen. Aufregung ist anders, aber Genuss, der geht genau so, und der steigert sich noch, als die Kuppe endlich den weiten Blick voraus freigibt.
Es bleibt nämlich grün, sandig, unasphaltiert. Sogar die Ortseinfahrt von Tüschow verzichtet auf überflüssige Befestigungen, nur rund ums Schloss, da reihen sich ein paar Kopfsteine nebeneinander. Wer Mecklenburg-Vorpommern richtig gut kennt, kann noch immer weite Strecken über Sand und Schotter fahren. Das endurofreundliche Wegerecht ähnelt jenem aus Schleswig-Holstein, aber im Gegensatz zum Nachbarland konnten zwischen Elbe und Rügen mehr Pisten und Feldwege überdauern. Die letzten Kilometer vor Zarrentin allerdings, die sind geteert. Neben der Fischerhütte, direkt am Schaalsee, kippt die TT auf ihren Ständer.

Drinnen wird gerade filetiert, gegenüber im Imbiss fangfrisch verarbeitet. Zum Beispiel zu köstlichen Frikadellen aus Süßwasserfisch. Zwei Stück, bitte, mit Kartoffelsalat. Feinschmecker kommen hier übrigens wegen der Großen Maräne her, einem höchst schmackhaften Speisefisch, der es bis ins Stadtwappen von Zarrentin geschafft hat. Das gesamtdeutsche Wappentier, der Seeadler also, weiß ebenfalls vom hiesigen Fischreichtum, segelt über riesige Weiden und Pappeln hinweg und sucht ungeniert nah am Zarrentiner Ufer seine Beute. Bis heute profitieren Tier- und Pflanzenwelt vom einstigen Abseits, denn auch durch den Schaalsee verlief die Grenze.
Das Sperrgebiet hielt Menschen fern, gut 40 Jahre, und als sie endlich wieder reindurften, hatte sich ihr Umgang mit Löffel-, Reiher-, Schnatter- und Tafelenten so weit zivilisiert, dass diese aufs Überleben hoffen dürfen. Einzylinder versprechen hier gerne, sich ganz besonders für den Fortbestand der Kolbenente einzusetzen, und biegen so leise wie möglich auf den Weg nach Lassahn, wo direkt neben der alten Backsteinkirche eine wunderbare Kaffeeterrasse mit Aussicht über den halben See wartet. Fischfrikadellen wollen nämlich schwimmen.
„Dat lütt’ Museum“
Anderntags geht es wieder gen Süden, der Elbe nach. Die Wanderdüne scheint seit vorgestern nicht wirklich vorangekommen zu sein, bleibt aber sowieso rechts liegen. Gepflegte Feldwege unter alten Eichen geleiten durch die Niederung, gern mal begleitet von einem mit hohem Schilf gesäumten Bach oder Entwässerungskanal. Ganz allmählich wandelt sich das Landschaftsbild, der Boden wird karger, sandiger, Birken ersetzen die Eichen, der Weg wellt sich. Kurz hinter Lübthen verschwindet er im Wald, und dort kennt auch die mecklenburgische Enduro-Freiheit ihre Grenzen: Der Truppenübungsplatz ist tabu. Na und? In der Griesen (grauen) Gegend, so heißt dieser vor gut 100 Jahren mit Kiefern aufgeforstete Landstrich, bleiben Sandwege genug, und wenn es lange nicht regnet, können sie glatt zur sportlichen Herausforderung werden.
Einem morgendlichen Wolkenbruch sei Dank, trägt der Sand heute prima, schon grüßt die Kirche von Alt Jabel, und kurz dahinter wohnt ihr Pastor. Christoph Tuttas muss eben noch die jungen Gänse aus ihrem Stall lassen, dann setzt er sich zum Schwätzchen auf die Bank. Er war Student, als in den späten 80er-Jahren der Unmut wuchs, friedlicher Protest sich auch und vor allem in den Kirchen organisierte. Alles schon Geschichte, nach gerade mal 25 Jahren, und Tuttas weiß, was das bedeutet: Auf seinem herrlichen Pfarrhof heißt eine Scheune „Dat lütt’ Museum“, dort halten allerlei Gerätschaften und Dokumente die Erinnerung an alte Zeiten wach, an das harte Leben in der Griesen Gegend.
Wer rauswollte, musste sich ausweisen, zurück ging’s bis 23 Uhr
Auch in Rüterberg kämpfen sie mit musealen Mitteln gegen das Vergessen. Der Ort liegt auf einer Halbinsel direkt an der Elbe, und wer will, der kann den erschütternden Vergleich ziehen: Ein fünf Meter langes Stück Grenzzaun verdeutlicht bis heute, was die Rüterberger früher sahen, nämlich nichts. Links und rechts neben dem blickdichten Zaun dagegen herrscht die freie Aussicht über diese urtümliche Landschaft, so weit und gewiss, mit Deutschlands schönstem Strom mittendrin. Doch die Rüterberger hatten früher nicht nur einen Zaun vor der Nase, sondern auch hinterm Rücken.
Die hervorragende Lage ihres 150-Seelen-Dorfes erschien suspekt, und deshalb wurde es rundum eingezäunt. Wer rauswollte, musste sich ausweisen, zurück ging’s nur bis 23 Uhr. Das stank den Bürgern dann doch, und so erklärten sie sich am 8. November 1989 zur Dorfrepublik Rüterberg. Einen Tag später sprach SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski im Fernsehen: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt werden.“ Der wichtigste Satz der jüngeren deutschen Geschichte, überall ging nun die Grenze auf, in Rüterberg gleich doppelt.
Wahnsinn, der Blick ist frei
Wahnsinn. Die Nacht des 9. November hatte ihre Überschrift. Als erste Fähren gegen Ende des Winters wieder die Elbe querten, lag es immer noch allen auf der Zunge: Wahnsinn. Zum Einkaufen von Neu Bleckede nach Bleckede. Wahnsinn. Eben mal übersetzen und durch Dömitz bummeln. Wahnsinn. Die alte Festungsstadt träumt wie immer backsteinrot vor sich hin, die emsige Bäckereiverkäuferin brüht frischen Kaffee auf. Sie verkauft – Amerikaner! Wahnsinn, noch heute. Und jetzt weiter, zum alten Hafen, zur Elbe. Vorbei an rastenden Wohnmobilen zuckelt die Yamaha auf den Deich, und ja!, der Blick ist frei, kein Zaun hier, und da drüben stehen die Reste der alten Eisenbahnbrücke – wie ein Mahnmal des Krieges, der Teilung. Der Fähranleger von 1990 wuchert langsam zu, den brauchen sie hier schon lange nicht mehr: Da hinten hastet die Bundesstraße 191 mittels Stahlbetonbrücke über den Fluss. Wie sich das gehört.
In Schnackenburg endet Niedersachsen, von hier bis Boizenburg war die Elbe Teil der Grenze. Im Grenzlandmuseum
kann man noch mal ganz tief eintauchen in deutsch-deutschen Schrecken und mit dem gebildeten älteren Herrn an der Kasse freudig beklagen, dass die Jungen sich immer weniger interessieren. Die haben nämlich ihre eigenen Sorgen. Ja, die haben sogar ihre eigene Geschichte. Dann ziehen Wind und Wolken wieder nach draußen, zum Fluss hin, zur Fähre gleich um die Ecke. In Rühstädt, 30 Kilometer stromaufwärts, klappert es auf den Dächern, wohl 50, 60 Jungstörche üben ihr Handwerk und warten aufs Essen. In den Selbstversorgergärten entlang der Dorfstraßen malen Gemüsebeete, Gewächshäuser, Blumenrabatten, Lattenzäune und Hühnerhöfe romantische Bilder und bringen die Gedanken auf Reisen. Ins Gestern? Ins Innerste? Immer weiter zieht es die Yamaha stromaufwärts, bei Havelberg wieder ganz nah zur Elbe hin, gucken, ob diese riesige Eiche noch steht. Eine Gefährtin ist sie geworden, in mehr als 20 Jahren, aber was hat dieser Baum nicht schon alles gesehen? Tausende Yamahas, zum Beispiel, auf dem Weg zur Fähre. Eine Stunde später grüßen – wieder mal – die Türme von Tangermünde, und in die altmodische und hoffentlich gesamtdeutsche Freude, dies alles erleben zu dürfen und sich derart bereichert zu fühlen, mischt sich ein wenig Zuversicht: Geschichte wird gemacht. Es geht voran.
Weitere Infos

Die Elbe zwischen Lauenburg und Tangermünde gehört zum Schönsten, was Norddeutschland bieten kann. Links und rechts begleiten kleine und kleinste Straßen die breiten Flussauen.
Sehenswert: Als wichtiger Handelsweg wird die Elbe seit alters von bedeutenden Städten gesäumt. Im beschriebenen Abschnitt lohnen Lauenburg, Boizenburg, Hitzacker, Dömitz, Schnackenburg, Havelberg, Arneburg und Tangermünde einen Besuch. Mehr noch als altes Gemäuer fasziniert die Natur: Sowohl der Schaalsee nördlich von Boizenburg als auch die Biosphärenreservate entlang der Elbe begeistern mit auffälliger Artenvielfalt. Besonders ins Auge stechen natürlich die vielen Vögel. Im Frühjahr und Herbst bietet der Vogelzug begeisternde Bilder, im Sommer die Störche. Rühstädt gilt als storchenreichstes Dorf Europas.
Enduro: Noch immer sind in Mecklenburg und Sachsen-Anhalt etliche Verbindungen zwischen Dörfern nicht asphaltiert. Aber es werden immer weniger. In Mecklenburg-Vorpommern erlaubt das Wegerecht auch das Befahren vieler Feld- und Waldwege, aber Vorsicht: Nie allein aufbrechen und möglichst auf wirklich Grobstolliges umbereifen. Tabu sind natürlich alle ausgewiesenen Naturschutzgebiete.
Geführte Touren: Zu den Spezialitäten des Reiseanbieters Endurofun Tours zählen geführte Ausflüge durch Mecklenburg. Ab Boizenburg sind mehrere bis zu 250 km lange Schleifen möglich, alle mit fast unglaublich geringem Asphaltanteil und wahrlich unmittelbaren Landschaftseindrücken. Auf unterschiedliches Fahrkönnen gehen die versierten Scouts ein, auch Touren für Großenduros à la BMW R 1200 GS sind machbar. Wer seine eigene Maschine lieber schont, kann auf leichte Mietmotorräder zurückgreifen. Preise für eine zweitägige geführte Tour inklusive Übernachtung und Verpflegung ab zirka 220 Euro, Mietmotorrad Beta Alp oder ähnliche Modelle zirka 98 Euro/Tag. Weitere Infos unter: www.endurofuntours.com
MOTORRAD und die Wende

Wir waren spät dran, der Kollege Dieter Loßkarn und ich, als wir Anfang November eine herbstliche Reisegeschichte in der Eifel produzierten. Kalt und klar die Luft, bald würden die letzten Blätter fallen. Nach getaner Arbeit verschafften wir uns mit gutem Essen und noch besserem Bier die nötige Bettschwere, doch kaum lag ich, donnerte es an meine Tür. Dieter hatte die Spätnachrichten gesehen und brüllte: „Die DDR-Grenze ist gefallen, mach auf!“ Kurz nach Mitternacht hatten wir Chefredakteur Friedhelm Fiedler an der Strippe, das nächstmögliche Heft musste umgestellt werden. Anderntags fuhren wir zurück nach Stuttgart, überall auf der Autobahn Trabis, Wartburgs, Ladas. Am 12. November starteten Dieter und eine Fotografin, besuchten diverse Grenzstationen, sprachen mit Motorradfahrern, die aus der DDR in bayerische und hessische Grenzorte strömten. Was sie an Fotos mitbrachten, rührt mich noch heute zu Tränen.
Lachende Menschen, in Wintermäntel und lange Wollschals gehüllt, rollten auf Simsons und MZ unterm Schlagbaum durch, beklatscht und begrüßt von bundesrepublikanischen Landsleuten. Ich habe nie wieder eine solche öffentliche, tiefe und befreite Freude gesehen. Zwei Wochen später fuhr auch ich los, um entlang der deutsch-deutschen Grenze eine Reportage zu machen. So viel Hoffnung, so viel Staunen. Es folgten in kurzer Folge Reisen durch Mecklenburg, entlang der Ostseeküste, rund um Berlin, die ganze Elbe lang. Es war ein Fest. Alles nah und vieles doch fremd. Auf beiden Seiten. Nach 25 Jahren ist manches noch näher, aber einiges immer noch etwas fremd. Das Motorrad ist für diese bewegte Zeit nicht wirklich wichtig gewesen. Aber oft genug diente es als willkommener Anlass, um sich anzunähern. So haben das – von Rügen bis Aachen – wohl auch die Leser gesehen: Seit der Wende haben deutsche Themen Konjunktur. MOTORRAD bleibt dran. Voller Freude.
Fred Siemer, MOTORRAD-Mitarbeiter