Bol d’Or Classic
In bester Erinnerung

Die große Zeit der Langstreckenrennen war in den 70er und 80er Jahren – und der berühmte Bol d’Or das Fest der Feste. Beim Bol d’Or Classic lassen die historischen Boliden die alten Marathonschlachten noch einmal aufleben. Zumindest für einen Moment.

In bester Erinnerung
Foto: Deadline

Fünf, vier, drei, zwei, eins – im Minutentakt künden Tafeln die verbleibende Zeit bis zum Start an. Die letzten Sekunden ver-streichen wie eine Ewigkeit, dann fällt die Flagge, gibt es kein Halten mehr. Die längst heisere Stimme des Streckensprechers überschlägt sich, während die Piloten über die Startgerade zu ihren in Le-Mans-Manier-geparkten Maschinen sprinten, sich in die Sättel schwingen und davonpreschen. Nur einen Moment später ist die Meute hinter dem schnellen Linksknick am Ende der
Start/Ziel-Geraden verschwunden, einen Donnerhall hinter sich herziehend. Der Sound zahlreicher japanischer Vierzylinder, diverser
Zweizylinder-BMW und Norton sowie einiger dreizylindriger Triumph, BSA und Laverda vermischt sich zu einer fast vergessenen, unnachahmlichen Klangkulisse: Was an diesem ersten Aprilwochenende in Magny-Cours während des Bol d’Or Classic an den Start geht, gehört zur Crème de la Crème der Langstrecken-Rennmotorräder aus den 70er und 80er Jahren. Oder zumindest ins enge Umfeld dieser faszinierenden Motorradkategorie.

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Auch im Regen wurde hart gefightet.

Benzin im Blut scheint immun gegen widrige äußere Umstände zu machen, anders ist jedenfalls nicht zu erklären, weshalb die Begeisterung, die in der Luft liegt, trotz zwölf Grad und anhaltenden Regenfällen während des gesamten Wochenendes nicht um einen Deut abkühlt. Und niemand beschwert sich, dass die Teams ihre Motorräder nicht wie einst in der Hochzeit der Langstreckenrennen 24 Stunden lang um den Kurs treiben, sondern nur noch deren vier: zwei am Samstagabend und zwei am Sonntagnachmittag. Was Sinn ergibt. Die meisten Boliden wie Honda CB 900 F Bol d’Or, BSA Rocket, Moto Guzzi Le Mans 1000, BMW R 90 S, Suzuki GT 750 »Wasserbüffel«, eine rare Honda RSC oder die bärenstarken 1000er-Kawasakis haben sich ihren Pensionsanspruch längst erarbeitet. Und so mancher Fahrer ebenfalls: Mitten im Feld tobt Rennlegende Paul Smart im Sattel einer brandneuen, nach ihm benannten Replika aus dem Hause Ducati. Für solche Bikes gibt es beim Bol d’Or Classic glücklicherweise die Prototypen-Klasse, in der das Alter Nebensache ist. Hauptsache, die Mischung stimmt.

Überhaupt sind die Hürden für eine Teilnahme bei diesem Event weitaus ein-facher zu meistern als seinerzeit: Es genügt ein Motorrad der Baujahre 1969 bis 1980, dessen Urahn mehr oder weniger stark modifiziert an den legendären Langstreckenrennen teilgenommen haben sollte. Wer dann noch 700 Euro Startgeld aus der Tasche zaubert, ist dabei. »Das Teuerste ist die Verpflegung für das ganze Team«, so die Bilanz des niederländischen Triumph-Teams Van den Bossche/Lambrechts, das im Training sowie in den bei-den Rennläufen mit je einem Satz Reifen und einem Paar Bremsbelägen auskam.

Die andere Seite der Fahnenstange markiert das hochprofessionell arbeitende Godier-Genoud-Team. Echtes Werksmaterial von damals, die bestausgestattete Werkstatt im Fahrerlager und – so die Gerüchteküche – extra in Japan gebackene Regenreifen für die im Reglement vorgeschriebenen 18-Zoll-Räder, die ansonsten ohne spezielle Schlechtwetter-Pellen auskommen müssen. Ein großer Name verpflichtet eben.

Mit hohen Erwartungen ist ganz bestimmt auch Phil Read junior angereist. Für eine britische Zeitschrift pilotiert er eine Suzuki GS 1000, die von einem Harris-Rahmen in Form gehalten wird. Doch während eine der beiden Godier-Genoud-Kawas erwartungsgemäß als Erste durchs Ziel fliegt (Fahrer: Christian Haquin und Gilles Hampe), scheidet der Sohn des berühmten Rennfahrers im ersten Rennen wegen eines Defekts aus. Und da es am Ende des zweiten Laufs nur für Platz 20 reicht, schwört Read junior Revanche: »Wir wollen im nächsten Jahr auf dem Podium stehen!« Da zeigt er sich wie so oft an diesem Wochenende: der viel beschworene Sportsgeist.

Die nasse Rennstrecke forderte ihre Opfer.

Der sorgt auch dafür, dass die meisten es zumindest äußerlich mit Fassung tragen, wenn die klatschnasse Strecke für jede Menge Abgänge sorgt, glimpfliche gottlob. Oder dass eine Laverda nach wenigen Runden im ersten Lauf ihr gesamtes Motoröl großzügig über den halben Kurs verteilt. Während sich die Italienerin kurz darauf zur Überraschung aller wieder ins Geschehen einreihen kann, bleibt es bei vielen beim vorzeitigen Aus. »The real seventies feeling«, wie ein gestrauchelter Teilnehmer in der Boxengasse bemerkte – alles wie in den Siebzigern.

Als es dunkelt, ist die Illusion ohnehin perfekt. Bol d’Or? Oder Bol d’Or Classic? Die Frage wird in diesem Moment nicht gestellt, darf nicht gestellt werden. Von den Tribünen fällt der Blick auf die lange Bergab-Links-Passage sowie auf die Schikane vor der Start/Ziel-Geraden. Tanzende Lichtkegel künden von hart gefochtenen Duellen, und jeder spitzt die Ohren, um am Klang der Motoren herauszufinden, wer da wen gerade nass macht. Spätestens jetzt läuft ein echtes Rennen. Es geht auf einmal um alles, um die letzte Rille, um den Sieg. Das Publikum nimmt’s begeistert zur Kenntnis, verabschiedet sich in eine erstaunlich ruhige Nacht – nicht nur die Motorräder sind älter geworden.

Sonntag, 14 Uhr. Das letzte Rennen. Abermals feuchte Hände bei den Beteiligten während des Starts und im Laufe der folgenden 120 Minuten. Dramatik allenthalben und am Ende eine sympathische Mischung aus europäischen und japanischen Motorrädern in den Top Ten: drei Honda, zwei Kawasaki, drei BMW, eine Moto Guzzi sowie eine Triumph Trident. Fast alle wird man im kommenden Jahr wieder sehen. Allein der Ehre wegen.

Bol d’Or – die Legende

Der erste Bol d’Or fand bereits 1922 statt, damals traten noch Autos und Motorräder gemeinsam an, um 24 Stunden lang auf abgesperrten Landstraßen ihr Durchhaltevermögen unter Beweis zu stellen. Die Standzeiten (Tanken, Reparaturen, Fahrerwechsel) wurden addiert, vier Stunden durften dabei nicht überschritten werden. Das Team, welches am Ende die meisten Kilometer abgespult hatte, ging als Sieger hervor. 1955 wurde diese Art Rennen mangels Interesse jedoch eingestellt.

1969 war die Zeit wieder reif für einen neuen Bol d’Or – und zwar ausschließlich für Motorräder. Der Boom hatte begonnen. Anfangs mit zwei, ab 1982 mit drei Fahrern im Wechsel avancierte die zuerst in Le Mans und später in Le Castellet ausgetragene Veranstaltung rasch zu einem Rennsportklassiker mit Volksfestcharakter. Und zu einem Pflichttermin für Motorradfahrer: Aus ganz Europa pilgerten regelmäßig Zweiradkolonnen nach Frankreich, wenn der nächste Bol d’Or anstand – 150000 Zuschauer waren in den 1980er Jahren keine Seltenheit.

Seit 2000 wird das Rennen in Magny-Cours bei Nevers ausgetragen. Der Termin ist traditionell das dritte Wochenende im September, der Startschuss fällt in diesem Jahr am Samstag, den 15. 9. um 15 Uhr (weitere Infos: www.bolddor.fr). Der Siegerpokal besitzt die Form einer goldenen Schüssel, daher der Name Bol d’Or.

Vor fünf Jahren wurde der in der Reportage beschriebene Bol d’Or Classic ins Leben gerufen, der ebenfalls auf der Rennstrecke von Magny-Cours ausgefahren wird. Der nächste Termin: 13. bis 15. April 2007. Erwartet werden rund 60 Teams vornehmlich aus Frankreich. Neben den beiden je zweistündigen Läufen am Samstag und am Sonntag, zu denen Motorräder der Baujahre 1969 bis 1980 zugelassen sind, ist ein entsprechendes Rahmenprogramm geboten: Rennen der internationalen IHRO-Serie und der französischen Classic-Meisterschaft, Teilemarkt, zwei Live-Bands und Stuntvorführungen. Der Eintritt für das gesamte Wochenende beträgt 18 Euro, Camping ist kostenlos.
Infos: www.boldorclassic.com.

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Erscheinungsdatum 26.05.2023