Das Mekka für Motorradfahrer
Barber Vintage Motorsports Museum

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In der Hitze der Nacht eine Abend-Führung durchs taghelle, größte Motorradmuseum der Welt zu genießen, öffnet neue Sichtweisen. Auf Ästhetik, Technik und Geschichte.

Barber Vintage Motorsports Museum
Foto: Schmieder

Es ist heiß, sehr heiß. Ein schwüler Juli-Tag 2011 weicht einer subtropischen Sommernacht in den Südstaaten. Blutrot zerfließt die Sonne am Horizont. Die dünne Kleidung klebt am Körper. Schweiß fließt in Strömen, die Netzhaut glüht vor Reizüberflutung. Wir, sechs Journalisten aus vier Ländern Europas, sind auf Einladung von Honda USA im „Barber Vintage Motorsports Museum“. Im Foyer begrüßt eine Replik von „Captain America“, dem Chopper von Peter Fonda aus dem Kultfilm „Easy Rider“, die Besucher.

Schräg darunter ist ein Regal mit neun Motorrädern angefüllt, die Epoche machten. Und aussehen, als kämen sie gerade frisch aus der Fabrik. Eine feuerrote Moto Guzzi Falcone, eine dottergelbe Ducati 750 Sport und eine bordeaux-rote Indian V2. Dazu eine hellgraue Einzylinder-Harley-Davidson und eine rote BMW K1. Eine Honda CB 92 gehört ebenfalls zum Empfangs-Komitee.

Wir haben das Barber Vintage Motorsports Museum noch nicht ganz betreten, und sind schon baff. Das British National Motorcycle Museum im englischen Birmingham ist für Klassik-Liebhaber ein wahrer Wallfahrtsort. Aber wir sind ja einige Tausend Kilometer weiter westlich, in Birmingham/Alabama. Weshalb logiert ausgerechnet hier das größte aller Motorradmuseen der Welt? Was brachte das Mekka der Motorradfahrer just hierhin, auf eine grüne Wiese in die USA? Antworten geben uns Jeff Ray, der Museumsdirektor, und Brian Slark, technischer Berater, während einer Spezialführung durchs „Barbers“.

Unsere Highlights

Wir sind in einem Tempel, einem Heiligtum, einem Männerparadies angelangt. In das 70000 Besucher pro Jahr pilgern. Von außen wirkt das silberne Gebäude mit den abgedunkelten Fens-tern zwar modern, aber unspektakulär. Doch hier drinnen überwältigt die Architektur. Eine Spirale verbindet elegant fünf ausladende Ebenen, ein Aufzug führt in der Mitte des riesigen Raumes senkrecht empor. Alles inspiriert vom Guggenheim Museum in New York. Dem das Barbers 1998 einen Großteil der Exponate  „The art of the motorcycle“ lieh, die viel beachtete Wander-Ausstellung über die Ästhetik des Motorrads.

Davon inspiriert, präsentiert das Barbers Motorräder wie Kunstwerke. „Die Exponate sollen wirken wie in einer Galerie“, sagt Jeff. „Wir lieben Motorräder ganz einfach - und das soll man auch sehen“, bekennt Brian. Allein schon die vielseitige Darbietung ist absolut sehenswert. Maschinen in Hochregalen gestapelt und auf Podesten stehend, unter der Decke hängend oder an der Wand befestigt. Mal frei im Raum geparkt, in gleißendem Scheinwerferlicht, oder zu Dutzenden in einer gigantischen Stahlskulptur, einem Motorrad-Stammbaum, vereinigt. Wie Matchbox-Spielzeuge. Mal thematisch, mal nach Jahrzehnten geordnet. Nur Absperrungen fehlen. „Please don’t touch“-Schilder reichen, bitte nicht anfassen.

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Das 1995 gegründete Barber Vintage Motorsports Museum eröffnete 2003 im eigens dafür errichteten Neubau an seiner jetzigen Adresse: 6030 Barber Motorsports Parkway, Birmingham.

Der Rundgang beginnt oben. Brian und Jeff nehmen uns mit auf eine Reise durch die Zeit. Sie begeistern sich und uns für Ästhetik, Technik und Motorrad-Geschichte. Fülle, wohin das Auge blickt. Was für eine Vielfalt an Maschinen! „Wir zeigen hier Motorräder von rund 200 Herstellern aus 20 Ländern“, sagt Jeff stolz, aber nicht überheblich. „Von 2500 Produzenten, die seit 1900 existiert haben.“ Das Who is who der Motorrad-Geschichte steht hier versammelt. Un- und toprestaurierte Maschinen, alte, sehr alte und junge, Allerweltsmodelle, Renner, Einzelstücke und Meilensteine, Umbauten, Exoten und Millionen-Seller. 

Mehr als 1250 Motorräder gehören dem Museum. Davon sind 650 bis 700 ständig zu sehen. Der Rest steht im klimatisierten Keller, dem Museums-Depot. Dort warten sie darauf, im Rotationsverfahren nachzurücken, oder auf ihre Restaurierung oder Überholung in der museumseigenen Werkstatt. „99 Prozent der Maschinen“, sagt Brian, „sind binnen einer Stunde fahrbereit.“ Leere Motorgehäuse gibt’s hier nicht. Diverse Motorräder fahren öfter mal bei Paraden zu Klassik-Veranstaltungen. Daher müssen ständig Ersatzteile beschafft oder nachgefertigt werden. Bis hin zu Kurbelwellen, Gehäusedeckeln oder Bremsen.

Da heißt es dann in Eigenregie gießen und schweißen, drehen und fräsen, dengeln und lackieren. Hier oder bei bekannten Spezialisten. „Das ist bei Maschinen, die älter sind als 90 eine echte Herausforderung“, erklärt der 73-jährige Brian. Handwerklich, technisch, kon-struktiv. Beim Entschlüsseln von strittigen Typen oder  fehlenden Teilen hilft die hauseigene, nicht öffentliche Bibliothek. Sie hortet über 6000 Bücher und mehr als 50 internationale Motorradzeitschriften. Eine Fundgrube, die auch Forschungs- und Restaurierungsprojekte anderswo unterstützt.

„Unsere Museums-Stiftung hat den Auftrag“, erläutert Jeff, der Museums-Chef, „die gesamte internationale Motorrad-Geschichte zu bewahren!“ Nur ein Amerikaner kann solchen Anspruch bekunden, und dabei völlig bescheiden bleiben. Das Barbers spannt ohne die sonst in den USA übliche nationalistische Brille einen Bogen über gut 100 Jahre Motorrad-Historie. Zwar gibt es  allein 84 Harleys, etliche Indians, wenige Buells und viele andere Marken aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Aber  auch Hunderte europäischer und japanischer Modelle, bis hin zu Maschinen von Bridgestone und Showa - ehe im Land der aufgehenden Sonne nur noch vier Marken Motorräder fabrizierten.

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Parade der Schnellen und Schönen: Von Birmingham, Alabama, zur Rennstrecke von Daytona sind es nur 900 Kilometer, ein Katzensprung.

Das wohl älteste Exponat ist eine Steffey aus US-Produktion von 1902. Die luftgekühlte Einzylindermaschine erinnert mit hölzernen Speichenrädern und Riemenantrieb noch stark an ein Fahrrad. In der Nähe steht eine Erie mit französischem 2-PS-Single, gebaut in New York. Und eine V2-Peugeot mit 726 cm³ - jenem Triebwerk, mit dem Norton bei der ersten TT auf der Isle of Man 1907 in der Zweizylinderklasse siegte.

Das frühe 20. Jahrhundert liegt Brian besonders am Herzen: „Das war eine aufregende Epoche rapider Entwicklung“, begeistert er sich. „Innerhalb von zehn kurzen Jahren von motorisierten Fahrrädern zu echten Motorrädern, mit Getriebe, Kupplung, Vierventil-Zylinderköpfen und elektrischem Licht!“ Wir huldigen der „Flying Merkel“. Das meint nicht die fliegende Bundeskanzlerin, sondern einen Zweizylinder aus Ohio/USA. Das kaum restaurierte Model 71 leistete 1913 rund sieben PS und sah trotz Pedalen schon wie ein richtiges Motorrad aus.

Schon mal eine einzylindrige „Emblem“ von 1910 gesehen? Oder eine Pierce, das erste US-Vierzylinder-Motorrad aus dem gleichen Jahr? Aufs selbe Konzept, vier Zylinder längs in Reihe stehend, setzte auch die „Militor“. Hier als Beiwagenmaschine mit Dreiganggetriebe samt Rückwärtsgang, ganz in Grün lackiert. Nur das Verdeck über dem zweisitzigen Boot ist rabenschwarz. Die fürs US-Militär konzipierte Maschine hat 1918 im Ersten Weltkrieg in geringer Stückzahl in Frankreich Dienst getan.

Vollkommen begeistern uns die bildschönen Board Tracker, Harleys und Indians mit V2-Motoren und tief heruntergezogenen Lenkern, die artgerecht auf Holz stehen. „Stellt euch vor“, sagt Brian süffisant, „mit 75 Meilen pro Stunde, also 120 km/h, über 45 Grad schräge Planken zu rasen, mit nichts anderem als euren Füßen als Bremsen!“ Den gebürtigen Briten nahm sein Vater im Nachkriegs-London mit zu Speedway-Rennen. Seither war der Filius ein „motorcycle-lover“, sagt der 73-Jährige.

Wir hören weiter zu. Brian schwärmt von Hondas 1960er-Rennmaschine RC 161: „Mit der Vierzylinder-250er bewies Honda endgültig sein konstruktives Geschick im Grand Prix.“ Von 38 PS bei 14000/min und 220 km/h Spitze konnte Brian seinerzeit nur träumen. So wie wir es 2008 von der jüngsten Maschine der Schau taten, dem sündhaft teuren V4-Renner Ducati Desmosedici. Ebenfalls eine technologische Speerspitze, wie die Ovalkolben-Legende Honda NR 750 von 1997. Oder doch lieber die Morbidelli V8 bewundern, ein extrem rarer Prototyp, neben den vielen GP-Rennern der kleinen Italo-Marke?

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Feurig: Honda-Dirt Tracker mit 750er-V2.

Eine sagenhafte Vincent Black Shadow aus dem Jahr 1951 steht auch nicht in jedem Museum. Erst recht nicht die Black Prince von 1954. Die 200 gebauten Exemplare gelten dank großformatiger Vollverkleidung aus Glasfiber als Urahnen aller Supertourer. Die Honda CX 650 Turbo steht für Technik-Verliebtheit. Und die Victoria Bergmeister von 1953 mit V2-Viertakter für ein wenig Luxus im Alltag. Auch eine Imme 100 hat es in den Olymp der Motorradwelt geschafft. So genial war sie in Zeiten des Mangels im Nachkriegs-Deutschland konstruiert - mit einarmiger Parallelogrammgabel und Einarm-Triebsatzschwinge.

Brian und Jeff wissen, was sie zeigen müssen. „Man sieht nur, was man weiß.“ Sie preisen die Böhmerland von 1925 an, das längste Serienmotorrad der Geschichte. Innovativ mit Alugussrädern, und sogar mit Beiwagen. Wenn schon, denn schon. Noch ein paar Pulsbeschleuniger gefällig? Eine Ariel Square Four und eine Honda CR 750, den Daytona-Gewinner von 1970. Velocette- und Norton Manx-Single anhimmeln, oder die Sechszylinder Benelli Sei? Schwelgen vor der herrlichen Royal Enfield Interceptor oder staunen über die stromlinienförmige, vom Flugzeugbau inspirierte Aermacchi Chimera mit liegendem Viertakt-Single?

Die Triumph T120 holte sich ihre Bezeichnung Bonneville durch einen Weltrekord auf dem gleichnamigen Salzsee in Utah 1956. Ihr 650er-Paralleltwin, 46 PS stark, galt als Idealtyp des englischen Sportmotorrads zu jener Zeit. Wann sah man schon mal die revolutionäre Britten V 1000 aus der Nähe? Fast 320 km/h schnell, verkörpert die Visitenkarte ihres genialen Konstrukteurs den erfolgreichen Kampf von David gegen Goliath. Dann stehen die Yamaha TZ-Kollektion und die ehemaligen Werksrenner von Suzuki und Kawasaki für den Paradigmenwechsel in den 60ern und 70ern: Japan statt Europa, Zwei- statt Viertakt. Stadtflitzer und Roller, mit und ohne Anhänger, erzählen von der Motorisierung nach 1945.

Groß ist die Fülle an Renn- und Serienmaschinen von MV Agusta, darunter Drei- und Vierzylinder, mit denen Giacomo Agostini und Phil Read erfolgreich waren. Daneben prangt der  750er-Werksrenner, der für Imola 1973 gebaut wurde, aber nicht mehr zum Einsatz kam. Durch den Rennsport lernte George Barber Weltmeister John Surtees kennen und schätzen. Deswegen steht dessen ehemalige 500er-MV hier. Plus ein ganzes Sortiment Matchless G 50 und AJS 7R, allesamt perfekt vorbereitet. Dies gilt auch für die Militär-Maschinen aus dem Zweiten Weltkrieg, von BSA über Harley-Davidson WLA bis zu den Gespannen des einstigen Gegners - Zündapp KS 750 und BMW R 75.

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Über Technik staunen: Der grandiose Britten-Racer V 1000 von 1995 - wie alle Maschinen ohne Absperrung.

Hat man schon mal von einer japanischen DSK gehört, einer Kopie der BMW R 26 von 1960? Erwartet man in einem US-Museum eine deutsche Adler MB 250? Und ob es die Besucher darüber informiert, dass von dem Zweizylinder-Zweitakter immerhin 11000 Exemplare entstanden? Bis 1957, nach der Übernahme von Grundig, die Motorrad-Produktion zu Gunsten der Schreibmaschinen eingestellt wurde. Die Erklärungen zu den Exponaten sind knapp genug, um leicht konsumierbar zu bleiben, aber intensiv genug, um das Besondere jeder Maschine hervorzuheben.

Jeff erzählt, wie bescheiden die Geschichte des riesigen Museums begann. George W. Barber sammelt erst seit 1989 Motorräder. Der superreiche Südstaaten-Gentleman machte ein Vermögen mit Milch und Eiscreme, leitet einen Molkerei-Konzern. In seinen wilden Zeiten fuhr George Barber Autorennen, gewann in den 60er-Jahren 63 Rennen auf Porsche. Ehrensache ist seine größte Sammlung an Lotus-Rennwagen weltweit. 1994 überführte Barber seine Zweirad-Kollektion, bereits einige Hundert Stück,  in einen gemeinnützigen Verein. Dieser eröffnete im März 1995 das Museum an anderer Stelle in Birmingham und erweiterte die Sammlung seither beständig.

Im September 2003 wurde der Neubau eingeweiht, vor den Toren der Stadt, die ihre Stahlindustrie einst reich machte. 150 Leute arbeiten fürs Museum. Nebenan liegt die 3,8 Kilometer lange Privat-Rennstrecke „Barber Motorsports Park“. Dort starteten schon AMA-Superbike-Rennen. Geld- und Sachspenden (Motorräder!) an Barbers sind in den USA von der Steuer absetzbar, das Museum stellt dankbar Spendenquittungen aus.

Auch wir sind dankbar, für den unvergesslichen Abend. Es geht auf Mitternacht zu, Jeff und Brian schieben Überstunden. „Thank you so much!” Beseelt stolpern wir in die sternenklare Nacht. Das größte ist wohl auch das schönste Motorrad-Museum der Welt. Und das Imposanteste. Das Mekka der Motorradfahrer ist eine Reise wert. Nicht nur in der Hitze der Nacht.

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MOTORRAD CLASSIC 6 / 2023

Erscheinungsdatum 05.05.2023