Deutschland-Marathon: Unterwegs in Niedersachsen - vom Harz bis ans Meer
Deutschland-Marathon: Niedersachsen

Deutschlands zweitgrößtes Bundesland bietet Berge und Kurven in Weserbergland und Harz, aber auch die endlose Tiefebene mit dem maritimen Flair der Küsten und Inseln. Von Kurvenkratzen bis Cruisen geht alles.

Deutschland-Marathon: Niedersachsen
Foto: Schäfer

Unterwegs in Niedersachsen

Man muss schon genau hinhören, um es überhaupt wahrzunehmen. Aber bis auf ein leises Plätschern höre ich fast nichts. Scheinbar antriebslos schippert unsere Fähre über die Weser. Zwei Seile, die an einem dritten hängen, halten den Kahn in der Strömung und auf Kurs. Der stämmige Fährmann kommt zum Kassieren: „Das macht einen Euro pro Motorrad.“ Ich krame im Portemonnaie. Der Skipper deutet auf die Nuda von meinem Freund Andi. „Was ist denn das für eine?“ „Husqvarna.“ „Nie gehört. Aber so, wie die aussieht, geht die ganz schön ab.“ Der Mann weiß nicht, wie recht er hat. Aber erst am anderen Ufer.
Die Nuda röchelt heiser, als wir von der Fähre rollen. Mein Bike säuselt dagegen eher unschuldig. Für die ersten Meter in Niedersachsen passt das auch wesentlich besser. Pralle Felder, schmucke Bauernhöfe, herausgeputzte Dörfer: Zwischen Holzminden und Einbeck ist die Beschaulichkeit zu Hause, und Raufbolde wie die Supermoto sind hier fehl am Platz. Aber das ändert sich.

Kompletten Artikel kaufen
Deutschland-Marathon: Unterwegs in Niedersachsen - vom Harz bis ans Meer
Deutschland-Marathon: Niedersachsen
Sie erhalten den kompletten Artikel (8 Seiten) als PDF
2,00 € | Jetzt kaufen

Noch bevor mit Osterode der Harz eingeläutet wird, wieselt unsere Strecke flinker zwischen Äckern und Hainen durch, als es der erlebnisheischende Blick auf die Landkarte hatte ahnen lassen. Rechts und links von uns bearbeiten große Maschinen die Felder. Die Nuda geht ab wie ein Zäpfchen. Vielleicht sollten wir es doch einen Ticken weniger zügig angehen lassen? Wenn so ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug plötzlich auf der Straße unterwegs ist… Kaum gedacht, taucht auch schon der erste Traktor vor uns auf! Gut zu wissen, dass der siebte Sinn immer noch Dienst tut.

Von Ackergeräten aller Art verabschieden wir uns in Herzberg. In weiten Bögen schwingt die Strecke entlang der Sieber und dringt dann immer tiefer in den Harz ein. Aus den langen Kurven werden Kehren, aus den Steigungen stramme Anstiege und aus vereinzelten Baumgruppen undurchdringlicher Forst. Auch am Torfhaus bleibt nichts, wie es war. Der ehemals bescheidene Platz mit Brockenblick rüstet sich zum Kräftemessen mit alpiner Konkurrenz. In Hotels und Wellness-Centern soll die Kasse klingeln. So wird aus dem alten Torfhaus die Torfstadt. Ein „verharztes“ Tourismuskonzept. Trotzdem, oder gerade deshalb, sitzen Filterkaffeetrinker neben gepiercten Mountainbikern. Der Brocken nimmt es gelassen. Er steht ohnehin jenseits der Landesgrenze, die mal der Eiserne Vorhang war.

Nach Norden Richtung Küste

Schäfer
Waldgassen und wilde Kehren im Harz.

Auf dem Weg Richtung Küste fällt das Land ziemlich flott in eine große Platte ab. Der Deister, als letzter Gruß der Mittelgebirge, trägt schon diesigen Trauerflor, bevor ich die 800er in die Wesermarsch pilotiere. Obwohl „Wasser marsch!“ im Augenblick besser passen würde als Wesermarsch.

Von einem Regenguss taumle ich in den nächsten. Dazwischen dichter Nebel. Andy hat in weiser Voraussicht oder schlicht in Kenntnis des Wetterberichts den Heimweg angetreten. Wenn wenigstens der Nebel verschwinden würde!

Je länger ich in der trüben Suppe unterwegs bin, umso mehr Gruselgeschichten aus Kindertagen fallen mir ein. Viele davon spielten im Moor. Was ein Moor eigentlich ist, war mir damals nicht klar. Aber dass Leute einfach darin versinken können, wenn sie bei Nebel oder Dunkelheit dort vom Weg abkommen, dass wusste ich mit Sicherheit. Dann war da noch das Foto von einer Moorleiche, das ich nie mehr vergessen konnte. Sie sah noch richtig menschlich aus. Nur die helle Haut war ledrig schwarz geworden.

Hier ist überall Moor! Sehen kann ich es nicht richtig, aber vorhin erspähte ich durch das tropfenbehangene Visier mehrere Hinweise darauf. Jetzt ist der fahle Nebel so dicht, dass man keine 20 Meter weit sehen kann. Versinkt ein Motorrad mit Fahrer eigentlich augenblicklich, wenn er von der Straße ins Moor abkommt? Werden Spaziergänger noch erstickende Hilferufe hören, bevor sich ein schmatzender Brei über ihm, also über mir, schließt? Jetzt muss aber mal Schluss sein mit diesem Hokuspokus in meinem Hirn!

Kaum noch Kurven

Schäfer
Sonnendurchflutete Allee bei Bevern - für jeden Fahrertypus bietet Niedersachsen Futter.

Ich glaube, es liegt am Geradeausfahren. Der Kopf muss sich auf nichts Großartiges konzentrieren. Keine Kurven, kein Schalten, Kuppeln, Bremsen oder Gasgeben. Da haben die Hirnströme freie Bahn und lenken die Gedanken auch in Sackgassen und Einbahnstraßen. Immerhin: Über Ostfriesland ist der Himmel blau - und vor allem weit. Auch meine Gedankenzentrale läuft wieder normal und macht jetzt auf Vorfreude: endlich ans Meer! Die Nordsee unter blauem Himmel. Weiße Fähren auf dem Weg zu den Inseln. Möwengeschrei, Fischbuden. Ich lasse mich ungerne desillusionieren. Aber hier in Carolinensiel, wo ich heute angelandet bin, fehlt der Küste das Wasser, es herrscht Ebbe. Die Landschaft wird zerschnitten von Sielen, die sie entwässern und gleichzeitig den Orten ihre Namen geben: Bensersiel, Carolinensiel, Neßmersiel.

Am nächsten Morgen habe ich die GS noch nicht auf Wohlfühltemperatur gebracht, als mich die örtliche Straßenverkehrsbehörde mit dem Gefahrzeichen Kurve auf einen leichten Knick in der Straße aufmerksam macht. Weiter im Süden würde man diese minimale Abweichung von einer Geraden nicht mal wahrnehmen. Doch hier ist selbst die unscheinbarste Form von Straßenbiegung beschilderungswert.

Aber jetzt hin zum Meer! Trotz der Deiche kommt man mit dem Motorrad in Sehweite. Und zwar immer dort, wo es einen Hafen gibt. So ganz unberührt ist der Blick allerdings nicht. Auf den meisten vorgelagerten Inseln sind Autos nicht erlaubt, und deshalb sind die Parkplätze der Fährhäfen voll wie beim Samstagsspiel auf Schalke. Gleich nebenan findet sich eine bemerkenswerte Konzentration von Wohnmobilstellplätzen. Darauf parkt ein Heer von immer gleichen, kühlschrankweißen Fahrcontainern. Eigenartig, dass die so autarken Mobilheime immer den Schutz in der Gruppe suchen. Oder deren Fahrer haben die wunderbare Idee von der automobilen Freiheit doch nicht richtig erfasst.

Der Blick auf Meer versöhnt wieder

Schäfer
Letzte Schräglagen vor der Wesermarsch.

Trotzdem bin ich schnell versöhnt. Am Horizont flirrt der Leuchtturm von Wangerooge neben dem Westturm. Möwenschwärme stieben zwischen den noch verwaisten Strandkörben auf. Weiter nach Osten führt eine schmale Straße zwischen den Deichen auf Augustengroden zu, ein Stück Land, das man dem Meer abgerungen hat. Trotzdem fühlt man sofort, dass dies hier eigentlich ein Zwischenzustand ist. Nicht mehr Meer, aber auch noch nicht richtig Land. Erst als ich den letzten Deich landeinwärts überwunden habe, fühle ich mich wie auf dem Festland.

Über den Jadebusen will ich mit einer Fähre abkürzen, die in Wilhelmshaven ablegt. Aber die Rechnung habe ich ohne den Fährmann gemacht: „Nur für Fohrräder. Mit ihrn Motourod müssen Sie außenrum fohrn.“ „Können Sie da nicht eine Ausnahme machen? Ist doch eh niemand hier.“ „Nej, guter Mann. Dos könn sich ma vonner Bocke putzn.“ Verstehe. Die nächste Fährverbindung lässt nicht lange auf sich warten.

An der Wesermündung will ich nach Bremerhaven übersetzen. Nach den Regeln des Deutschland-Marathons sollte ich das eigentlich nicht, denn Bremerhaven gehört schon zum Bundesland Bremen. Aber erstens habe ich die Regeln gemacht, und zweitens weiß es außer uns ja keiner. Um Sekunden verpasse ich die erste Fähre und habe Zeit, mich umzuschauen. Ganz vorne, noch vor der Warteschlange, gibt es einen Extra-Warteplatz für Rettungswagen. Das hat man auch nicht oft: Der Patient hat Herzklabastern, der Notarzt rast mit Blaulicht Richtung Krankenhaus und macht an der Fähre erst mal den Motor aus: „Tschuldigung, wir müssen noch auf die Fähre warten.“ Hoffentlich muss der Sensenmann auch irgendwo warten.

Dann endlich kommt meine Fähre. Hinter einem Radfahrer rolle ich auf die Rampe. Der Kassierer, ein harter Brocken, mault mich an: „Hast du die Ampel nicht gesehen?“ Ich werde kleinlaut: „Welche Ampel?“ „Da ist der Lappen gleich monatelang weg!“, bollert er weiter. „Welche Ampel?“ „Wolltest dich wohl vordrängeln?“ „Ich bin doch nur hinter dem Radfahrer her. Hab ihn extra vorgelassen.“ Der selbst ernannte Rotlichtüberwacher kassiert den Fährpreis und verzieht sich. Zum Zeichen, dass ich ihm nichts nachtrage, nicke ich ihm bei der Überfahrt freundlich zu. Seine Miene verfinstert sich: „drei Monate".

Der Rest geht im Rumpeln der herabfahrenden Rampe unter. Auf seinem Bedienpult steht eine Sammlung von Quietscheentchen. Ist wohl doch nicht son harter Brocken.

Bevor ich mit der Fähre über die Elbe das zweitgrößte Bundesland verlasse, haut Niedersachsen noch zwei Klopper aus dem Kuriositätenkabinett. In Bad Bederkesa hat man 2012 die größte Frikadelle der Welt gegrillt. 690 Kilogramm wog der Klops, der für 2100 Portionen reichte. Noch benommen von der gedanklichen Vorstellung rolle ich aus Bad Frikadella und sehe einen Wegweiser, der mich stutzen lässt: Wenn ich abböge, käme ich nach Fickmühlen. Geradeaus geht’s weiter Richtung Glückstadt. Wohin wären Sie gefahren?

Die Strecke durch Niedersachsen

Schäfer
Karte und Strecke Niedersachsen.

Deutschlands zweitgrößtes Bundesland bietet Berge und Kurven in Weserbergland und Harz, aber auch die endlose Tiefebene mit dem maritimen Flair der Küsten und Inseln. Von Kurvenkratzen bis Cruisen geht alles.

Anreise/Reisezeit: Polle, der Startpunkt der Reise durch Niedersachsen, liegt zwischen Höxter und Hameln an der Weser. Von Frankfurt/Main oder Leipzig aus braucht man bis Polle Sprit für 300 Kilometer. Aus dem Großraum München bietet die deutsche Bahn per Autozug (www.dbautozug.de) die Anreise bis Hildesheim an. Dann sind es noch 65 Kilometer bis zur Weserfähre bei Polle. Unter üblichen Bedingungen taugen die drei wärmsten Jahreszeiten für die Tour. Im Frühjahr und Herbst wird es im Harz noch richtig kühl. Ein Extrapulli schadet weder dort noch an der Nordsee.
Die Strecke: Entweder man hat Sitzfleisch oder man nimmt sich mehr Zeit als üblich: Die 838 Kilometer lange Route durch Niedersachsen sind von der strammen Sorte. Aber kein Wunder: Niedersachsen ist nach Bayern das flächenmäßig größte Bundesland. Unsere Route ist noch mal 250 Kilometer länger als die durch Nordrhein-Westfalen. Und doch gehen die meisten der niedersächsischen Kilometer lockerer von der Hand als die des Nachbar-Bundeslands. Ernst zu nehmende Kurvigkeit offenbart sich nur im südlichen Landesteil zwischen Weser und Harz. Je weiter es nach Norden geht, umso mehr ist Cruisen und Entspannen angesagt. Entlang der Küste ist durch die Deiche das Meer in der Regel nicht zu sehen. Wer den Sattel nicht verlassen möchte, findet Abhilfe in den Zufahrten zu den Häfen oder Stränden. Ansonsten bieten sich alle paar Hundert Meter Treppen oder Wege zur fußläufigen Überwindung der Deiche an.

Übernachten: Einer der Klassiker unter den Motorradhotels in Deutschland ist die von Martha Kuckuck gemanagte Villa Löwenherz (www.villa-loewenherz.de) in Lauenförde. Hier kommen ausschließlich Motorradfahrer unter. Die Zimmer starten bei 53 Euro, es gibt Tourentipps und weitere Aktionen für Biker. Die Nordseeküste ist gespickt mit Übernachtungsmöglichkeiten. Empfehlung: Pension „to de blauen Wellen“ (www.to-de-blauen-wellen.de) in Carolinensiel. DZ mit Frühstück für 68 Euro.
Aktivitäten: Unter den Naturwundern Niedersachsens ragen der Harz und das Wattenmeer deutlich hervor. Beide muss sich Niedersachsen allerdings mit Nachbarbundesländern teilen. Dafür wurden die beiden inzwischen in den Status von Nationalparks erhoben: www.nationalpark-harz.de und www.nationalpark-wattenmeer.de. Weit weniger bekannt ist, dass zwischen Esterwegen und Friesoythe das größte geschützte Hochmoor Deutschlands liegt. Wer die „Moorerlebnisroute“ bereist, kann noch durch düster-torfige Historie stapfen. Wer immer schon mal ein U-Boot von innen sehen wollte, geht im Wilhelmshavener Marinemuseum auf Tauchstation (www.marinemuseum.de). Der Eintrittspreis beläuft sich auf unsinkbare 9,50 Euro.
Karten/Adressen: Die Marco Polo-Karte Niedersachsen im Maßstab 1:200000 weist für 8,99 Euro alle Wege. Reisedauer: 3 Tage
Gefahrene Strecke: 838 Kilometer

Niedersachsen
Hauptstadt: Hannover
Fläche: 47 635 km²
Gründung: 1946
Regierung: SPD/Grüne
Einwohnerzahl: 7 920 000

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023