Frankfurt / Main
Mainhattan Project

Lust auf Amerika? Dann ab nach Frankfurt und einen Motorrad-Streifzug der anderen Art erleben. Und eine Metropole entdecken, die vor 60 Jahren nahezu bei null anfing. Dabei viel verbockte, aber einige Chancen auch faszinierend nutzte.

Mainhattan Project
Foto: Eisenschink

Tosend schwebt die riesige Boeing ins Sichtfeld des Visiers. Kommt nah, verdammt nah, Fahrwerk und Landeklappen ausgefahren, die Scheinwerfer gleißend hell. Mit fauchenden Turbinen selbst den Verkehr auf der zehnspurigen A 3 am Frankfurter Kreuz übertönend, fegt der Jet Richtung Rhein-Main-Airport, um dort Sekunden später brüllend im Umkehrschub auszurollen. Willkommen auf der Drehscheibe Europas und dem Brückenkopf aus Übersee. Heute für Business, einst für die Luftbrücke nach Berlin. Auch die Speed Triple muss hier runter, auf die Abbiegespur Frankfurt-Süd, an Galopp-Rennbahn und Eintracht-Stadion vorbei und durch den Stadtwald in Richtung Sachsenhausen. Die romantischste Einflugschneise in die Metropole mit 652000 Einwohnern und dem einschlägigen Ruf, ausschließlich der Farbe des Geldes zu folgen.

Auf der Mörfelder Landstraße allerdings sieht es noch nicht danach aus. Die früher mindestens einmal wöchentlich überfallene Shell-Tankstelle bildet das Entree, gefolgt von einem verblichenen und von besseren Zeit im nahen Rüsselsheim zeugenden „Georg von Opel“-Schild, dahinter sanierungsbedürftige Wohnblocks, vor denen zwei Afrikaner gerade die Sprühdosenlackierung eines alten Datsun vorbereiten. Kurz danach erste renovierte Jahrhundertwendehäuser, Straßenbahnen und lebhafte Betriebsamkeit.

Unsere Highlights
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Der Eiserne Steg, einer der schönsten Plätze der Stadt.

Ganz in der Nähe lebten in den 60er Jahren Oma und Opa. Kranichsteiner Straße. Das Kopfsteinpflaster gibt es noch genauso wie das alte Mietshaus. Die Großeltern wohnten im Hochparterre, zwei düstere Zimmer ohne Chance auf Sonne und allenfalls Ausblick auf die Wäscheleinen im Hinterhof. So wie es eben war im Nachkriegs-Sachsenhausen. Hauptsache Dach überm Kopf.

Am Amalfi-Pizza-Service, kurz vor dem Südbahnhof, der Abzweig in die Schweizer Straße, der Lebensader des Frankfurter Südens, wo Düsternis schon lange kein Thema mehr ist. Geschäftiges Treiben unter dichten Bäumen, charmante Straßencafés neben Gemüseständen, Bücher und Würstchen neben Woolworth und Designmöbeln. Im „Café Fellini“ am Schweizer Platz sitzen Kreative mit Laptops und Hausfrauen mit Edeka-Tüten, die Bandbreite ist befreiend. Auch wenn die Bankentürme am anderen Mainufer bereits in Sichtweite liegen, gelten „dribb de Bach“ (übersetzt etwa „jenseits des Flusses“), zwischen Museumsufer, Verlagshäusern und Äbbelwoi-Viertel, andere Werte.

Ein paar Meter noch, und die Untermainbrücke avanciert zur perfekten Rampe nach Mainhattan, in die amerikanischen Momente Deutschlands. Spiegelnd und mächtig steigen die Wolkenkratzer neben dem mittelalterlichen Römerberg bis zu 300 Meter empor. Etwas abseits mischt einzig der Dom noch imponierend mit, frontal jedoch formiert sich die ganze Phalanx Frankfurter Wirtschaftsgewalt. Commerzbank, Dresdner Bank, Eurotower, Main Tower, ein ganzes Skyscraper-Stadtviertel, in das die Neue Mainzer Straße schlundgleich abtaucht. Und schon bin ich drin, aufgesogen von Megaperspektiven, gen Himmel schießenden, sich verjüngenden Linien, die nicht aufzuhören scheinen, gläserne Wände mit unzähligen Reflexionen. Cool aus ihrem Triple fauchend, gleitet die Triumph durch die Häuserschluchten, endlich mal reinrassiges Streetfighter-Terrain unter den Rädern, während ich mich zwinge, den Blick gelegentlich auch nach vorne zu richten. Rauschartige Gefühle, viel zu kurz, viel zu schnell vorbei, schon beginnen die Niederungen der Sparkassen. Ich zweige zur Taunusanlage ab, wo es vorübergehend ruhiger wird und der Grüngürtel auf den ehemaligen Stadtmauern Atempausen verschafft. Im „Café am Centralpark“ sitzen die Banker in N.Y.-Feeling bereits beim Lunch. Gegenüber das Euro-Denkmal vor der Europäischen Zentralbank, rechts die Städtischen Bühnen, links Goethe in Bronze und im Norden die prachtvolle Alte Oper – Frankfurt lebt übergangslos.

Frankfurt / Main (Infos)

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Blick in den Spiegel: die Altstadt bietet einen Kontrast zu den Hochhäusern Mainhattans.

Wer Frankfurt entdecken will, braucht etwas Unterstützung. Hier unsere Tipps für den optimalen Mainhattan-Trip.

Anders als andere Großstädte erschließt sich Frankfurt nicht auf den ersten Blick. Oft eng und verwinkelt, sind klassische Cruisingmeilen rar. Wir haben daher im Kasten rechts eine Runde zusammengestellt, die viele markante Orte einbezieht und ein „Feeling“ für die Stadt aufkommen lässt. In der Innenstadt gibt’s zu Fuß aber noch deutlich mehr zu entdecken, vor allem rund um den Römerberg. So gelangt man über den Eisernen Steg in wenigen Minuten ans Sachsenhäuser Ufer und zu einem der bedeutendsten Museums-Ensembles Deutschlands. (Modelle des alten und neuen Frankfurt zeigt das Historische Museum auf dem Römerberg.) Die Brücke selbst bietet die schönste Perspektive auf die Stadt: Dramatisch formiert sich Mittelalter vor den Wolkenkratzern. Nördlich kann die Innenstadt bis zur Alten Oper durchwandert werden, westlich durch die teils wieder aufgebaute Kaiserstraße zum imposanten Bahnhof aus dem 19. Jahrhundert. Wolkenkratzeraussichten bietet der Main Tower in der Neuen Mainzer-Straße.

Außerhalb sind Westend, Bockenheim, Nordend, Bornheim und Sachsenhausen besonders sehenswert, an der Peripherie der alte Kern von Frankfurt-Höchst. Das klassische Äbbelwoi-Viertel in Sachsenhausen zwischen Deutschherrenufer, Dreieich- und Elisabethenstraße ist inzwischen dem Touri-Rummel zum Opfer gefallen. Mehr Ur-Frankfurter Stimmung findet man beispielsweise in alten Kneipen der oberen Berger Straße. Die Szene trifft sich im Nordend und in Bornheim, Uniklima gibt’s in Bockenheim, die Yuppie-Szene flaniert in Sachsenhausen. Beste Infos bietet das Dumont Reisetaschenbuch „Frankfurt/Main“. Dieter Bartetzko liefert mit „Frankfurts Hohe Häuser“ (Insel-Taschenbuch) Hintergründiges zum Hochhausbau. Vergleiche des Vor- und Nachkriegs-Frankfurts zieht Wolfgang Klötzer in „Frank- furt ehemals, gestern und heute“. Informationen und Hotelservice bieten die täglich geöffneten Touristenbüros auf dem Römerberg und im Hauptbahnhof. Für drei Euro wird dort auch die Zimmersuche abgewickelt. Weitere Infos und Veranstaltungen auch unter Frankfurt.de.

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Oft hilft ein Blick auf den Stadtplan um weiter zu kommen.

Einen schönen Einstieg bietet die A 3-Ausfahrt Frankfurt Süd. Dort auf der Mörfelder Landstraße nach Sachsenhausen fahren und vor dem Südbahnhof links durch die Schweizer Straße zur Untermainbrücke. Geradeaus ins Wolkenkratzerviertel auf der Neuen Mainzer Straße bis zum Eschenheimer Turm. Bei diesem fast eine 360-Grad-Schleife drehen und via Bockenheimer Anlage/Alte Oper zur Taunusanlage und Mainzer Landstraße. Am Platz der Republik Abstecher rechts zum „Messe-Kreisel“, umrunden und auf dem selben Weg zurück. Zurück an der Mainzer Landstraße in Richtung Gallusviertel abbiegen. An der Galluswarte entweder geradeaus nach Frankfurt-Höchst oder schräg links zu den Adler-Werken in der Kleyerstraße. Anschließend via Cambergerbrücke ins Gutleutviertel und dort südlich den Bahnhof passieren und Richtung Bethmannstraße und Römer halten. Hier bester Start für Erkundungstouren per pedes: Römerberg, Altstadtreste, Innenstadt oder über Eisernen Steg zum Museumsufer nach Sachsenhausen. Weiterfahrt geradeaus über Battonstraße zum Allerheiligen Tor, dort links in die Friedberger Anlage bis zum Abzweig Sandweg. Ab jetzt wird es wegen vieler Einbahnstraßen im Nordend und in Bornheim kompliziert. Am einfachsten und dennoch attraktiv: Sandweg bis zum Allenring fahren und diesem wenige Kilometer Richtung Hanau/Offenbach folgen. Am Abzweig Saalburgallee links zur U-Bahnstation „Bornheim Mitte“. Dort rechts in die Berger Straße nach Altbornheim. Ausstieg links in die Wöllstädter Straße und wieder links in die Seckbacher Landstraße/Im Prüfling. Über Saalburgallee und Allenring gelangt man schließlich zur Mega-Kreuzung an der Hanauer Landstraße. Und von dieser entweder zurück in die Innenstadt oder auf die Autobahnumfahrung der Stadt.

Frankfurt / Main (2)

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Die beiden Seiten der Stadt: Geld und Glamour im Bankenterrain ...

Ich bleibe noch in Wolkenkratzer-Flughöhe, auf der östlichen Mainzer Landstraße und Richtung Messe bäumen sich die Höchsten noch einmal auf, Deutsche Bank, DG-Bank, führen fort, was Frankfurter Juden wie Mayer Amschel Rothschild und die Gebrüder Bethmann Mitte des 18. Jahrhunderts begonnen haben. Die sogar US-amerikanische Staatspapiere an der jungen Frankfurter Börse erfolgreich versilberten. Heute gilt diese neben New York, Tokio und London als vierter Top-Finanzplatz der Welt, knapp 500 Kreditinstitute agieren in der Stadt. Doch der Kampf in Frankfurt war erbittert, als Banken und Bauspekulanten in den 60ern im Westend zum ersten Höhenmeter-Halali bliesen. Bürgerinitiativen und Hausbesetzer aus der nahen Uni- und 68er-Szene rangen verzweifelt um die letzten vom Krieg verschonten Gründerzeitvillen, über denen die Abrissbirnen schwangen.

Der Messe-Tower taucht auf, 256 Meter hoch und markant wie das Empire State Building. Er markiert den Ort, dem die Teilung Deutschlands Bares brachte. Nachdem Konkurrent Leipzig aus dem Rennen war, öffneten sich für Frankfurts jahrhundertealte Handelstraditionen deutlich bessere Möglichkeiten. Fast wäre für die ehemalige freie Reichsstadt noch mehr herausgesprungen. Denn 1949 bei der Wahl zur Bundeshauptstadt unterlag sie Bonn nur ganz knapp.

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... trifft auf halbseidenes Straßenleben im Bahnhofsviertel.

Bereits auf der westlichen Mainzer Landstraße bricht mit graffitibesprühten Wänden und verwahrlosten Stadtbrachen die B-Seite der Erfolgs- und Glamourwelt an. Die Eleganz ist verraucht, ramponierte Gebrauchtwagen statt teurer Porsche bevölkern die Straßen, Wurstbuden statt Maredo, und am „Wasserhäusche“ gibt’s Binding-Flaschenbier für einszwanzig statt Latte Macchiato. Wir sind im Gallus, Basis der Werktätigen seit dem vorletzten Jahrhundert. Hinter der Galluswarte entdeckt sogar die Triumph Bezugspunkte, als der riesige Backsteinbau der Adler-Werke auftaucht – Frankfurts 1887 gegründete Fabrik für Fahrräder, Motorräder, Autos und Triumph-Adler-Schreibmaschinen. Nach dem Krieg noch Arbeitgeber für 10000 Menschen, ist der stillgelegte Komplex heute steinernes Symbol des Strukturwandels und beherbergt Theater, Logistikfirmen und Kantinen.

Dahinter verläuft breit wie der Amazonas das trostlose Rangierareal des prachtvollen, 24-gleisigen Kopfbahnhofs der Innenstadt. Vorne ein paar Kneipen, die „Adler-Stube“ oder „Kleines Paradies“ heißen, daneben die Lotto-Annahmestelle und der „Badwan Auto Im- und Export“. Die Häuser grau vom jahrzehntelangen Ruß der Lokomotiven, die Ohren der Bewohner stumpf vom ewigen Rumpeln und Quietschen der Züge.

Via Camberger Brücke wechsele ich ins Gutleutviertel, dem Pendant des Gallus südlich des Bahnterrains. Dort hat Vater gearbeitet, Lkw rangiert, Kisten verladen und jahrzehntelang der Bahnhofsatmosphäre etwas abzugewinnen versucht. Verzweifelt bemühen die Bewohner sich um so etwas wie Lebensqualität, doch die Bedingungen sind im Gutleutviertel so schwierig wie im Gallus.

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Erscheinungsdatum 15.09.2023