Drei Wochen Himalaja, mit einer Royal Enfield? Ameeta, früher Kinderärztin, heute Werbetexterin in Bombay und grundsätzlich für jeden Spaß zu haben, ist sofort dabei. Unsere Bullet holen wir in Hyderabad ab. Dort wohnt mein Bruder, der sich seit zwei Wochen damit beschäftigt, die Maschine auf Vordermann zu bringen. Dabei geht es nicht darum, die Enfield 350c so zu präparieren, daß alles funktioniert. Von solch einem Zustand habe ich bei einer Bullet nie gehört. Es werden lediglich mit dem langjährigen Instinkt eines Enfield-Fahrers die Teile ausgetauscht, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zerbrechen, verstopfen oder abfallen werden.Sorgfältig packen wir die Werkzeugkiste: Seilzüge, Kettenschlösser, Spikes, metrische Schraubenschlüssel, Zollwerkzeug, zwei Engländer, ein Hammer. So eine Enfield wird von Schrauben aller erdenklicher Größen und Herkunft zusammengehalten. Oft paßt überhaupt kein Schlüssel. Da hilft dann nur noch eins: Den nächst kleineren nehmen und am Schraubenkopf festklopfen. Vervollständigt wird das Bordwerkzeug durch einem Amperemeter, denn Elektrik-Probleme gehören bei der Enfield zur Serienausstattung.Und es ist natürlich die Elektrik, die Ameeta und mir gleich den ersten Abend verdirbt. 36 Stunden sind wir per Zug mit der Bullet im Gepäckwagen von Hyderabad nach Delhi getuckelt und von dort noch mal vier Stunden in die nördlicher gelegene Stadt Chandigarh. So vermeiden wir den Highway No. 1, die Autobahn mit der höchsten Todesrate in Indien. Um am nächsten Tag in aller Frühe starten zu können, wollen wir die Bullet noch auftanken. Doch sie springt nicht an - Batterie alle. Ein fähiger Mechaniker diagnostiert am nächsten Morgen: »You have the wrong batterie box.« Der Kasten - aus Metall statt Plastik - stand in Berührung mit den Polen und zog dem Stromspeicher den Saft ab.Mittags geht´s endlich los Richtung Norden. Wer sich Indien als heißes, tropisches Land vorstellt, wird in Himachal Pradesh angenehm enttäuscht: Am Fuße der mit ewigem Schnee bedeckten Himalaja-Berge gelegen, ist dieser Bezirk ein grünes Hügelland mit Temperaturen um 20 Grad. Bergurwälder, Palmen und Obstplantagen bestimmen die Vegetation, Kühe und Affen beherrschen das Straßenbild in abgelegeneren Regionen.Unser erstes Etappenziel heißt Bilaspur, 180 Kilometer von Chandigarh entfernt. Die Straße verläuft schnurgerade. Im dichten Verkehrsgewimmel werden wir zweimal von entgegenkommenden Bussen ins Gebüsch abgedrängt. Nach einer ungeschriebenen Regel fährt man hier so lange aufeinander zu, bis einer aufgibt und ausweicht - der mit dem kleineren Fahrzeug und der leiseren Hupe - oder beide im letzten Moment zur Seite ausscheren. Freilich geht das zuweilen schief.Trotzdem muß Motorrad fahren hier nicht gefährlich sein: Cruisen lautet das Motto, und das heißt 40 bis 50 km/h Höchstgeschwindigkeit. Ich weiß: Coole Enfield-Freaks lächeln mitleidig über solche Angaben. Ich habe aber auch schon coole Enfield-Freaks blutüberströmt am Straßenrand sterben sehen. Jeder sollte sich darüber im klaren sein, daß es in Indien kein Rettungssystem gibt.Von Bilaspur geht´s weiter nach Nagar. Zwischen Kullu und Manali gelegen, soll es uns als Ausgangspunkt nach Leh dienen - eine Reise, die 300 Kilometer durch die Berge führt, ohne Hotels, Dörfer, Tankstellen. Die Strecke Bilaspur-Kullu ist ein Traum: guter Belag, wunderbar sanfte Kurven, hügelige Landschaft. Es ist das Allgäu des Himalajas: strahlend in sattem Grün. Noch auf 3600 Metern Höhe wachsen hier Äpfelbäume, von deren Erträgen die meisten Einwohner leben. Die 27 Kilometer von Kullu bis Nagar dagegen sind wild: Die Straße, die sich letztes Jahr noch niedlich am östlichen Flußufer das Tal hochschlängelte, hat sich in ein Durcheinander aus Matsch, Steinen und kreuzenden Flüssen verwandelt. Der erste Gang kommt ganz groß raus. Wenn es zu steil wird, muß Ameeta absteigen, auf Schlamm hat die Bullet nicht die Power, uns beide den Berg hochzuziehen.In Nagar erfahren wir, daß es Ende August, die Zeit des Monsuns in dieser Gegend, drei Tage lang so viel geregnet hat wie seit 40 Jahren nicht mehr. Die Straße nach Leh existiere nicht mehr. Wir überzeugen uns selbst. Eineinviertel Stunden brauchen wir für die 17 Kilometer von Nagar nach Manali. Von der Hauptstraße westlich des Flusses blieb überhaupt nichts übrig, die Reste des Weges auf der Ostseite, den wir nehmen, enden kurz vor der Stadt: Die Brücke wurde fortgeschwemmt. Zu Fuß gelangen wir auf einer Behelfsbrücke über den Fluß nach Manali -Treffpunkt für Junkies aus aller Welt. Die Drogenstraße aus China und Pakistan führt hier vorbei.Es hilft alles nichts: Wir kommen nicht weiter. Leh wird aus dem Programm genommen und gegen das Kinnaur-Tal im Osten, das die Grenze zu Tibet markiert, ersetzt. Also: Zurück nach Kullu, wo wir die Bullet vor der Hochgebirgstour noch einmal gründlich durchchecken lassen. Weiter über Mandi bis Sundernagar. Hier zweigt unsere neu gewählte Route ab.In unzähligen Kurven verläuft die Strecke durch lichten Nadelwald ins 1000 Meter höher gelegene Rohandglu. Indische Fahrzeuge haben wenig PS, entsprechend flach müssen Steigungen gehalten werden. Unser Nachtlager wollen wir in Karsog aufschlagen. Dort, so haben wir gehört, könne man Zimmer in einsam gelegenen Fortshäusern mieten. Im Forstamt sitzen zehn Beamte, die alle nichts zu tun haben. Wir sind die Sensation des Monats: Seit über einem Jahr wollte keiner mehr ein Zimmer buchen, und jetzt gleich zwei Frauen ohne Mann.Frauen sieht man hier oben keine, sie müssen den Haushalt führen und sich um die Felder kümmern. Männer sind für die Apfelernte verantwortlich, mit der sie zwei Monate im Jahr beschäftigt sind. Während der restlichen Zeit sitzen sie im Dorf, rauchen Haschisch, trinken selbstgebrannten Schnaps und starren Fremde an, wenn welche vorbeikommen.Tags darauf fahren wir auf einem 2500 Meter hohen Grat nach Narkanda ins Kinnaur-Tal. Dort treffen wir Sanjay Megi. Er ist Touristenführer. Wir verabreden uns zum Essen. In dieser Gegend bis rauf nach Manali, erzählt er uns, leben fast nur Hindus, keine Moslems und kaum Buddhisten. Dann beschreibt er uns ein Hindu-Fest, das Bhunda-Fest, das jedes Jahr in Narkanda stattfindet. Dabei wird von einem Berggipfel ein Seil über schroffe Felsen zum gegenüberliegenden Bergrücken gespannt. Eine Art Sessel saust von oben nach unten, und in diesem Sessel sitzt ein Mann, der aus der Kaste der »Jilly« sein muß. Dieser Mann hat sich sechs Jahre davor entschlossen, ein Menschenopfer zu bringen. Dafür wird seine Familie fortan von den Dorfbewohnern mit Essen und Kleidung versorgt. Am Tag des Bhunda-Festes verabschiedet er sich von seiner Frau, die wie eine Witwe ein weißes Gewand und offene Haare trägt. Fällt der Ehemann während der Talfahrt aus dem Stuhl und in den Tod und das passiert, so Sanjy, fast jedesmal wird die Familie weiter versorgt, da sich der Ehemann für Gott geopfert hat. Überlebt er jedoch, darf er sich alles wünschen: Geld, Gold, Saris und alle gesammelten Opfergaben.Von Narkanda folgen wir dem Fluß Sutlej Richtung Recong Peo. Die Straße arbeitet sich langsam auf über 4000 Meter hoch. Wir treffen nur noch vereinzelt auf Lastwagen. Militärcamps ersetzen die Dörfer, und das Flußtal wird so eng, daß man rechts und links nur noch Wände sieht. Dafür ragen vor uns die ersten Fünf- und Sechstausender auf: ein Anblick, der uns für alle Strapazen entschädigt.In Recong Peo erfahren wir, daß wir nicht weiter können: militärisches Sperrgebiet. Also erforschen wir die Umgebung und landen im Sangla-Tal, das von tibetanischen Bergvölkern besiedelt wird. In den Dörfern laufen Frauen herum, lachen uns an, sagen »Hallo«. Jetzt erst merken wir, wie sehr wir uns daran gewöhnt hatten, Frauen höchstenfalls mit abgewandten Köpfen in Häuser verschwinden zu sehen. Dieser Menschenschlag ist ganz anders: Angeblich wird nach der Linie der Mütter vererbt, und Mann und Frau sind gleichberechtigt. Wir bleiben zwei Nächte, unternehmen einen Tagesausflugs nach Chitkul, Endstation im Sangla-Tal, und machen Bekanntschaft mit einem Yak. Yaks sind Hochlandrinder, sehen aus wie langhaarige indische Kühe und haben das Temperament spanischer Stiere. Halb wild, halb gezähmt, werden sie gemolken, gegessen und die Wolle für Bekleidung verwebt. Sie sollen recht gefährlich sein, aber dieser sieht harmlos aus. Gerade will ich für ein Foto anhalten, da senkt er seine Hörner, schnaubt auf und rast auf uns zu. »Hes coming, hes coming!« schreit Ameeta auf dem Rücksitz, und ich gebe Vollgas. Nur: Auf fast dreieinhalbtausend Metern Höhe zieht die Enfield halt nicht mehr so gut. Mit 30 km/h rumpeln wir gerade so aus der Gefahrenzone.Auf unserer Rückreise nach Chandigarh machen wir Station in Shimla, eine von den Engländern gegründete Stadt: Dort »übersommern« die Reichen, um der entsetzlichen Hitze in Delhi zu entkommen. Nach den wilden Gefilden, die in den letzten Tagen unser Zuhause waren, fühlen wir uns wie im Paradies. Klopapier! Butter! Mehr als ein Gericht zur Auswahl und nicht morgens, mittags, abends Reis mit Soße! Wir logieren im teuersten Hotel am Platz, das Holiday Home 3000 Rupien (125 Mark) die Nacht; soviel haben wir sonst in einer Woche ausgegeben. Anderntags heißt unser Hotel wieder Gleis 1. Eins der zwei Zimmer am Bahnhof von Chandigarh ist frei - und einen freundlichen Bahnhofsangestellten gibt´s gratis dazu. In »erotischer Pose« legt er sich aufs Bett und will nicht wieder gehen. Erst nach einem Handgemenge gelingt es uns, ihn rauszuwerfen. Bevor wir am anderen Morgen die Bullet verladen, werfe ich noch einen Beschwerdebrief mit seinem Namen in die »Complaint Box« den Kummerkasten, der sich in allen staatlichen Einrichtungen Indiens befindet. Ich glaube zwar nicht, daß ihn jemals jemand lesen wird, aber wir Frauen haben ja auch unseren Stolz.
Indien : Girlfriends
Sechstausender mit ewigem Schnee, Apfelbäume in 3600 Meter Höhe, wilde Rinder und Affen auf der Straße: Im Himachal Pradesh ist alles möglich. Wo andere mit Begleitfahrzeugen und Führern unterwegs sind, cruisen eine Inderin und eine Deutsche auf eigene Faust herum.