Die Grenze bei Piaggio. Italien. Endlich. Uns erscheint es wie der Einzug ins Paradies. Wo sonst hieße ein Dorf wie ein bekannter Zweiradhersteller? Und wo würden bereits Mitte April grün, rot, blau und weiß gestreifte Sonnenmarkisen vor den Haustüren von Sommer und Süden künden? Unsere Laune steigt mit jedem gefahrenen Meter, und gleichermaßen verfliegt die Erinnerung daran, dass unser erster Anlauf hierher vor vier Wochen jämmerlich scheiterte. In Thusis an der Via Mala war Schicht. Und zwar eine dicke Schneeschicht. Ski und Rodel gut, aber kein Durchkommen mit einer unter südlicher Sonne geborenen Ducati. Übrigens auch nicht mit geländegängigen Autos. Die Schweizer hatten kurzfristig die Autobahn Richtung San Bernardino gesperrt. War wohl doch etwas zu gewagt, Mitte März die Alpen zu überqueren. Aber wie gesagt, das war vor vier Wochen.In Cannero Riviera diesmal unser erster Stopp. Die enge Spitzkehre zum Hotel hinauf wird etwas ungeschickt bewältigt, immerhin ist es die erste richtige Kurve nach der langen Winterpause. Schnell einchecken, und dann flugs mit einem Campari auf die Hotelterrasse, die letzten wärmenden Sonnenstrahlen und den Blick über den See genießen. So soll es sein, das Motorradfahrerleben. Auf dem Parkplatz schnuppern Klaus´ und meine Duc heimatliche Luft. Ihre knalligen Farben passen gut hierher, wo dunkelrote und rosa Azaleen im Blühwettstreit mit weißen Kamelien liegen. Ein gutes Dutzend hochgewachsener schlanker Palmen sorgen für mediterranes Flair. »Rondinella« heißt das Hotel, zu Deutsch kleine Schwalbe. Eine Schwalbe macht zwar noch keinen Sommer, aber mit einem italienischen Frühling lässt sich«s bestens leben.Am nächsten Tag dann Abtauchen ins Kurvenrevier. Zuerst zum Colle-Pass, der zwar nicht auf allen Landkarten unter diesem Namen verzeichnet ist, doch die Beschilderung in Cannero Riviera weist den Weg über ein birkengesäumtes einspuriges Sträßchen in luftige 1238 Meter Höhe. Kurz hinter Cannero schießen Bananenstauden in den Himmel. Das milde Seeklima macht«s möglich. Früchte trügen die zwar nie, erklärt eine Passantin, »aber es sieht doch schön aus, oder?« Stimmt. Und so ungemein südländisch. Passenderweise wird es unterm Helm und dem schwarzen Leder auch gleich richtig warm. Fast schon zu warm. Aber jetzt ja kein Lamento über die Hitze, schließlich war die Suche nach dem Sommer doch das Ziel des Trips.Vom Colle-Pass führt die Route am winzigen Lago di Mergozzo vorbei bis zum Orta-See südwestlich des Lago Maggiore. Hier stimmt einfach alles. Schmale Sträßchen schlängeln sich bis in schwindelnde Höhen, geben immer wieder den Blick frei auf das mit leuchtend weißen Segelbooten gesprenkelte Wasser tief unten im Tal. Auch um den Orta-See herum sprengten die Ingenieure die Straße mitten in den Berg hinein. Sie führt nach Orta San Giulio, dass auf einem idyllischen Halbinselchen liegt. Das rührige 1000-Seelen-Städtchen präsentiert sich für Motorradfahrer gut gerüstet, denn gleich zwei Kneipen weisen einen extra ausgeschilderten »moto«-Parkplatz für Zweiräder aus. Das ist auch gut so, denn die direkte Zufahrt zum See ist für jeglichen Verkehr gesperrt, und die kreativ parkenden italienischen Autofahrer lassen kaum ein freies Plätzchen, auf dem ein Motorrad sicher stehen könnte.Während der genüsslichen Rast bei deftigem oberitalienischem Salami-Aufschnitt wird es plötzlich dunkel, und ein paar schwere Tropfen fallen. Dann scheinen die dicken Regenwolken wieder abzuziehen. Allerdings leider nur nach oben, wie sich beim Rückweg Richtung Lago Maggiore über den Monte Mottarone zeigt. Kalter Nieselregen und dichter Nebel vermiesen den erwarteten Kurvengenuss, von der erhofften Aussicht auf die Alpen keine Spur. Als dann in der dicken Suppe schemenhaft auch noch ein Skilift auftaucht, werden alte Befürchtungen wieder wach. Es wird doch wohl nicht Mitte April in Oberitalien schneien, oder? Viel fehlt nicht die Zähneklappern und die Finger sind steif gefroren. Doch nach der 1491 Metern hohen Passhöhe ist die Welt wieder in Ordnung. Und bei Stresa kommt der Lago Maggiore in Sicht. Das frostige Winterintermezzo ist vergessen, hier herrschen wieder zum Glück frühlingshaft milde Temperaturen.Südöstlich des Lago Maggiore locken drei weitere kleine Seen: der Lago di Monate, der Lago di Combbio und der Lago di Varese. Doch Lage, Landschaft und Straßen erweisen sich als nicht gerade atemberaubend. Hierhin fährt man wegen anderer Highlights. Zum Beispiel aufgrund der am Lago di Varese gelegenen MV Agusta-, Cagiva- und Husqvarna-Werke, deren Besichtigung für den Mangel an kurvigen Strecken entschädigt. Oder man gönnt sich einen Abstecher ins Hotel Palace in Varese, das dem Chef der MV-Gruppe Claudio Castiglioni gehört. Eine vornehme Hütte, die auf einem Hügel hoch über der Stadt thront. Und mit einer langen Auffahrt, auf der schon so manches Wheelie-Duell stattgefunden hat. Auch wir preschen recht flott bergan und betreten schließlich die Hotelhalle, in der man sich auf den ersten Blick wie in einem Museum fühlt: Motorräder und Helme bekannter Rennfahrer zieren das Foyer, ein ziemlich überraschender Anblick in einem First-Class-Hotel. Wir schlendern zur Hotelbar, mehr als ein Espresso ist hier für uns nicht drin: eine Übernachtung würde vermutlich unser gesamtes Budget für diese Woche verschlingen.Nach der Rückkehr an den Lago Maggiore rauschen wir ein Stück auf der südöstlichen Uferstraße entlang. Allerdings nicht allzu weit: zu viel Verkehr, und die Aussicht auf den See ist zwar schön, aber auf Dauer nicht sonderlich abwechslungsreich. Also hinter Laveno wieder ab auf verwegene Seitensträßchen Richtung Luganer See. Doch die Beschilderung wurde offenbar für Leute gemacht, die sich sowieso auskennen. Wir müssen immer öfter halten und einen sehr genauen Blick auf die Karte werfen. In Marzio versperrt schließlich noch eine Baustelle den Weg. Nur vorsichtiges Balancieren über ein Holzbrett macht die Weiterfahrt möglich. Und die hat es in sich: In Richtung Ponte Tresa besteht die Strecke nur aus Kurven. Wir fahren wie im Rausch.Am Südufer des Luganer Sees fühlen wir uns dagegen nicht ganz so wohl. Schön ist´s, keine Frage. Aber teuer, wenn man einen Platz zum Schlafen sucht. Zu teuer. Wir geben Gas, halten uns in Richtung Comer See. Bei der Ankunft in Cernobbio herrscht bereits tiefe Nacht, abendliches Frösteln kommt auf. Ich habe einfach keinen Bock mehr, obwohl die Hotels hier auch nicht gerade mit Sonderangeboten locken. Aber jetzt muss eine heiße Dusche her, koste sie was sie wolle.Der nächste Morgen führt auf den Monte Bisbone nördlich von Cernobbio. Aber die buckelige und löchrige Piste ist eher etwas für die ellenlangen Federwege einer Enduro als für ein Sportfahrwerk aus dem Hause Ducati. Am Ende der 17 Kilometer langen Strecke schmerzen die Handgelenke. Und richtig gelohnt hat sich diese Tortur für Mensch und Maschine auch nicht. Von hier oben blicken wir nur auf eine langweile Lichtung. Also Rückzug nach Norden, über Argegno wieder Richtung Luganer Sees. Am Ortsende von Castiglione entdecken wir die »Hosterietta«: eine überdachte Gartenwirtschaft, in der es wie in einem Fahrerlager zugeht. Drinnen wird gegessen und zwar mit direktem Blick auf die Strecke, die in fester Hand der Zweiradfraktion ist. Wir bestellen Pizzoccheri, die hiesige Pastaspezialität aus Buchweizen, und beobachten genüsslich die zahlreichen Kollegen aus Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz, die fast vor unseren Nasen vorbeirauschen. Und verteilen Noten. Motorradfahrer sind eben Schandmäuler, wenn es um die Kurventechnik anderer geht.Der Nordzipfel des Luganer Sees bietet einen Vorgeschmack auf die näher rückende Heimfahrt: tief verschneite Schweizer Gipfel, wohin das Auge blickt. Das mag ja heiter werden. Aber zunächst peilen wir noch den Comer See an. Über die Strecke rund um Menaggio breite man besser den Mantel des Schweigens: Chaos, Staus und Busse, dazu so enge Straßen, dass auch mit den Motorrädern schier kein Durchkommen ist. Am Nordende des Sees wird es besser, doch erst in Colico am Ostufer heitert sich die Stimmung wieder auf. Die warme Nachmittagssonne blinzelt verheißungsvoll durch die schnell ziehenden Wolken, der glitzernde See und die umliegenden hohen Berge bringen die Urlaubsstimmung zurück. Die Spannung fällt ab, das Generve im Verkehrsgetümmel ist vergessen.Natürlich ist diese Gegend kein Geheimtipp mehr. Aber was sich in Varenna abspielt, erschreckt. Der kleine Ort platzt aus allen Nähten. Ein verlängertes Wochenende steht an und natürlich sind auch Touristen außer uns auf die Idee gekommen, hierher zu fahren. Und natürlich haben alle außer uns reserviert. So scheint es zumindest. Doch im Hotel Montecodeno telefoniert der Wirt so lange, bis er ein Ausweichquartier gefunden hat: in Esino Lario - ganz in der Nähe in den Bergen. »Am besten beeilt ihr euch«, meint er, »denn dort machen Kneipen und Hotels am Abend viel früher zu als hier am See.«Was für ein Endspurt. Zwölf Kilometer weit windet sich die bestens ausgebaute Straße hinauf bis auf 900 Meter. Die Luft wird frisch, der Asphalt immer griffiger. Spitzkehren und weite Kurven wechseln sich ab und katapultieren uns in eine andere Welt. Keine Spur mehr von der fast schon mediterranen Leichtigkeit am See. Die Häuser in Esino Lario wirken trutzig und geduckt, schließlich müssen sie im Winter viel Schnee aushalten. Und Touristen? Nicht der Rede wert. Wir beziehen unser Zimmer in der Pension Mirafiori undin der Zwischenzeit zaubert der per Handy herbeizitierte Koch exklusiv für Klaus und mich ein leckeres Gericht auf den Tisch: Brasato, geschmorten Rinderbraten, mit Polenta.In der Nacht schlägt das Wetter endgültig um. Statt eines wilden Kurvenrauschs zum Abschied von Italien bleibt im strömenden Regen als Trost immerhin der Museumsbesuch bei Moto Guzzi im nahen Mandello del Lario. Dann geht es zurück Richtung Heimat. Und was passiert in der Schweiz? Treffer. Es schneit. Zwar nicht so wild wie vier Wochen zuvor, sondern eher in Form von Schneeregen. Eiskalt erwischt, kann man da nur sagen. Und in Thusis an der Via Mala bedeckt schon wieder eine Schneedecke die Straße. Dabei lag der Sommer doch schon ganz deutlich in der Luft. Aber das war in Italien.
Infos
Tolle Strecken, hohe Berge, blühende Gärten, zwei Motorradwerke und dazu ein ausgesprochen mildes Klima: die oberitalienischen Seen sind für den ersten großen Ausflug zum Saisonstart wie geschaffen.
Anreise: Der direkte Weg zu den oberitalienischen Seen führt durch die Schweiz (Vignettenpflicht). Allerdings kommen im Frühjahr wegen der Schneesperre auf den meisten Pässen nur der San-Bernardino- oder der Gotthard-Tunnel in Frage. Aber zu dieser Jahreszeit muss man bei unseren hochalpinen Nachbarn auf unerfreuliche Wetterumstürzen gefasst sein.Unterkunft: An Hotels und Pensionen in allen Preisklassen herrscht rund um die Seen kein Mangel. Und in der Regel muss bis Ende Mai und ab September nicht reserviert werden. Ausnahme: Feiertage oder verlängerte Wochenenden. Hier ein paar Tipps: Hotel La Rondinella, Cannero Riviera, Telefon 0039/0323/788098. DZ ab 120 Mark, man spricht deutsch; Hotel Palace, Varese, Telefon 0039/0332/312600, First-Class-Hotel, das zur MV Agusta-Gruppe gehört und leider nicht billig ist : DZ ab 470 Mark; Hotel La Sacca, Stresa, Telefon 0039/0323/31165, DZ ab 80 Mark; Pension La Montanina, Esino Lario, Telefon 0039/0341/860116. DZ ab 70 Mark, gut für Gruppen geeignet; Hotel Mirafiori, Esino Lario, Telefon 0039/0341/860151, Halbpension im DZ ab 40 Mark; Hotel Weisskreuz, Thusis (Via Mala/Schweiz), 0041/81/6512955, DZ ab140 Mark.Sehenswürdig: Das Moto Guzzi-Werk in Mandello del Lario, Montag bis Freitag von 15 bis 16 Uhr. (Werksbesichtigungen sind wegen Bauarbeiten allerdings vorübergehend ausgesetzt). In Varese und in Cassinetta am Lago di Varese können Gruppen oder Clubs die MV Agusta-, Cagiva- und Husqvarna-Werke besichtigen. Anmeldung unter 0039/03 32/254310.Literatur: Von Marco Polo kommt für 14,80 Mark der sehr gute Reiseführer »Oberitalienische Seen«, der auch über eine brauchbare Karte verfügt. Unterhaltsam und informativ ist auch ein Blick in die beiden Italien-Bände aus der Edition UNTERWEGS, die es für jeweils 29,80 Mark im MOTORRAD-Shop gibt. Telefon 0711/182-2424. Zur Orientierung hilft die Marco Polo-Karte »Italien Blatt 2, Brenner, Como, Varese« im Maßstab 1:200.000 für 12,80 Mark. Für ganz Neugierige: In den Buchhandlungen vor Ort gibt es vom Studio F.M.B. für je 10 Mark detaillierte Karten der Provinzen Como und Varese im Maßstab 1:100000.Zeitaufwand: vier TageGefahrene Strecke: zirka 800 Kilometer