Wie Schwalbennester kleben die grauen Steinhäuser von Lucchio knapp unterhalb des Berggipfels. Eine alte Burgruine obendrauf bildet die perfekte Abrundung. Herbstlich braunes Laub überzieht bereits die Hänge unterhalb des Orts. Die Straße leider ebenfalls, so daß sich die Fahrt in das einsame Dorf zu einer schwierigen Rutschpartie entwickelt. Kaum zu glauben, daß an diesem Steilhang überhaupt jemand leben kann, aber ausgerechnet der Friedhof scheint mit seinem überquellenden Blumenschmuck beweisen zu wollen, daß es so ist. Ein neblig grauer Novembertag - und doch ein bißchen weniger grau als in hiesigen Breitengraden. Deswegen bin ich hier. Das Scheppern eines Cinquecento durchdringt die Melancholie und erinnert mich daran, daß bis zum Etappenziel Pisa noch ein paar Kilometer zu fahren sind. Noch vorsichtiger als bei der Aufahrt lasse ich die dicke Enduro über den rutschigen Blätterteppich wieder nach unten rollen, bis die Reifen auf dem Asphalt der Hauptstraße wieder satten Halt finden. Hinter Lucca taucht über rotbraunen Dächern eines der berühmtesten Bauwerke Italiens auf, das schräge Wahrzeichen von Pisa. So gerne ich den Turm von Nahem sehen würde, so sehr lockt noch die herbstliche Landschaft und ich lasse es bei der Fernsicht. Ich lenke die dick bepackte Africa Twin hinauf in die Monte Serra, die einen weiten Blick über die Ebene um Pisa freigibt. Außer dem Turm ragt noch grau und massig der Dom aus dem Häusermeer empor und weit hinten im Westen ist sogar die Küstenlinie zu erkennen. Bei der Weiterfahrt liegen die Hügel der Toskana vor mir, stille Straßen, oft noch klassisch von den schlanken hohen Zypressen gesäumt, auf den Bergrücken alte Gehöfte.Nach einem kurzen Konflikt entscheide ich, nun wenigstens Florenz einen Besuch abzustatten. Gegen die italienische Kulturhauptstadt ist Pisa ein schlafendes Dorf. In der Stadt der Medici, deren Geld Florenz seinen Kunstreichtum verdankt, herrscht das reine Verkehrschaos. Würde Leonardo da Vinci noch leben, hätte er vielleicht eine Erfindung gegen die Blechlawine parat. Während andere Städte bereits im touristischen Winterschlaf dämmern, ebbt in Florenz die Touristenwelle nie richtig ab. Verständlich, denn der Dom, wahrlich ein Architektonisches Meisterwerk, beeindruckt auch im Winterhalbjahr. Ich versuche mich kurz auf dem Domplatz zu orientieren, doch egal in welche Richtung ich ihn verlassen würde, überall gibt es irgend etwas Sehenswertes. Also entscheide ich mich zu einem Aufstieg auf den Campanile, den am Dom postierten Glockenturm. 414 Stufen sind es bis zur obersten Plattform. Für schwache Herzen ist dort schon sicherheitshalber ein Sanitäter postiert. Leise dringt die unentwegte Musik dieser Stadt hier hinauf. Eine Mischung aus Polizeisirenen, Autohupen, Glockengeläut und Baustellenlärm, das sich in 84 Metern Höhe zu einem Rauschen vereint. Unten scheinen allenfalls noch Roller und Mofas im Verkehr halbwegs voranzukommen. Mit todemutigen Fahrern, die kleinste Chancen nützen, rote Ampeln ignorieren und an Tempo alles nur Machbare auf den kleinen Gurken ausleben. Nicht weit von hier liegt die aufgrund ihrer historischen Bausubstanz nicht viel weniger berühmte Stadt Siena, zu der sich die Straße über die Hügel der Chianti-Region schlingt. Die Altstadt von Siena ist fast autofrei. Verkehrsreduzierte Zone heißt hier so was, bedeutet aber netterweise, daß Motorräder rein dürfen. Durch eine Schlucht von lückenlos aneinander gebauten, mehrstöckigen Häusern führt das holperige Pflaster in weitem Bogen zur zentralen Piazza del Campo. Der Platz ist selbst für italienische Verhältnisse einmalig. In der Form einer halben Austernschale streckt er sich, vom Campanile ausgehend, leicht nach oben, wo er von einer halbrunden, hohen Häuserzeile umschlossen wird. Novemberstimmung auch hier. Die zahlreichen Cafés rund um den Platz sind fast leer, und die Kellner haben nichts dagegen, daß einige Nachwuchskünstler bei einem Cappuccino stundenlang die Stühle belegen, um die Piazza nach eigenem Gutdünken per Bleistift auf Papier zu verewigen. Als eine stimmkräftige Fremdenführerin versucht, ihre Touristenschar zusammenzutreiben, wird die Akkustik des leicht amphietheatrisch ansteigenden Platzes deutlich. Durchdringend hallen die Rufe von den Wänden wieder. Zweimal im Jahr wird auf dem Campo ein weltberühmtes Fest gefeiert - der Palio. Dann werden zehn der insgesamt siebzehn Stadtviertel ausgelost, um sich bei einem Rennen auf ungesattelten Pferden rund um die Piazza zu messen. Das Ganze findet in historischen Kostümen statt und verursacht ein Höllenspektakel in der kleinen Stadt. Leider schlägt sich solche Berühmtheit auch auf die Zimmerpreise nieder. Runde 80 Mark für ein Einzelzimmer sind nichts für meine Brieftasche, und ich beschließe, lieber einen Zeltplatz zu suchen. Leider findet sich um diese Jahreszeit kein offener Campingplatz in der Umgebung, und so stelle ich das Zelt einfach irgendwo im Wald auf. Es ist gar nicht so einfach, in der Dunkelheit ein ebenes Plätzchen zu finden, aber gerade als der erste Regentropfen fällt, steckt auch der letzte Hering im Boden. Höflicherweise hört es am Morgen auf zu regnen, und die Straße ist bald abgetrocknet. Gerade richtig, denn die Strecke wird immer kurviger, steigt zwischen knallgelben Herbstwäldern hinauf und hinunter, als wäre es eine Achterbahn. Am Monte Amiata soll es eines der größten Quecksilberbergwerke der Welt geben. Aber davon ist nichts zu sehen. Wie auch, es ist ja nicht mal der Monte Amiata zu sehen, und der ist immerhin 1738 Meter hoch. Die Wolken hängen nämlich inzwischen so unitalienisch tief, daß alles in dichten Nebel gehüllt ist. Überflüssigerweise beginnt es doch wieder zu regnen, aber gerade diese düstere, graue Stimmung hüllt den in hören Lagen schon blattlosen Wald in eine einzigartige Atmosphäre. Quer zu den großen Tälern fahre ich zum Lago Trasimeno. Perugia, nur wenige Kilometer vom See entfernt, hat seine Wohnsiedlungen kilometerweit über die Hügellandschaft verteilt. Die Verkehrsführung ist chaotisch. Die Beschilderung schickt mich immer wieder in eine andere Richtung, aber dann stehe ich doch vor der riesigen alten Stadtmauer. Die italienische Welt scheint in früheren Jahrhunderten nicht besonders friedlich gewesen zu sein, denn so wie die Altstadt von Perugia gleichen fast alle alten Städte mehr einer Festung als einem Wohnort. Komplette Altstädte sind über Jahrhunderte so fast unverändert erhalten geblieben. Man müßte nur die Autos aus den Straßen verbannen und den Strom abschalten. Dann wäre es zumindest rein äußerlich wieder wie im Mittelalter. Ein Teil von meinen Gedanken ist bereits Wirklichkeit. In die Gassen von Perugia darf ich nicht mal mit dem Motorrad rein. Für Zweiräder über 50 Kubik ist der größte Teil Sperrgebiet. Ich verzichte auf den Bonus des ahnungslosen Touristen und frage den Kellner einer Cafeteria, ob er zwischendurch mal einen Blick auf mein Gepäck am Motorrad werfen könnte. Er meint beruhigend, ich müsse mir keine Sorgen machen, man sei hier schließlich nicht in Neapel. Trotzdem bleibt beim Stadtrundgang ein mulmiges Gefühl, und er fällt deshalb kürzer aus, als geplant. Mit dem Wechsel von Umbrien in die Region Marken ändert sich auch die Landschaft. Prägte Umbrien und die Toskana eine lieblich gewellte Hügellandschaft, so beginnen hinter Gubbio die Berge des Apennin. In Chiaserna zweigt die schmale Auffahrt zum 1700 Meter hohen Monte Catria ab. In unzähligen Serpentinen windet sich die Straße den Berg hoch. Auf halber Höhe wollen zwei Schilder die Weiterfahrt versperren, aber diesmal erlaube ich mir, den Touristenbonus zu nutzen. Als ich vor Jahren schon mal hier oben war, betrug die Sicht dank dichten Nebels gerade mal zwanzig Meter. Heute muß ich erkennen, daß ich eine prächtige Aussicht versäumt hatte. In der Karte ist ein Schotterweg zum Gipfel verzeichnet. An einem kleinen Grillplatz geht es rechts ab, und dann führt der Weg über einen feuchten und rutschigen Blätterboden über die Baumgrenze hinaus. Der Schotter wird immer gröber und die Fahrt allmählich zum Eiertanz. Zweihundert Meter unter dem Gipel ist der Weg zu Ende. Der Herbstwind bläßt hier bereits so unangenehm kalt um die Ohren, daß ich den Ausblick auf die umliegenden Berge und Täler nicht allzu lange genießen kann. Zwischen den leuchtenden Herbstwäldern klettert die Schotterstraße einen steilen Berghang hinunter, zur Einsiedelei von Fonte Avelana, wo es auf einer kurvenreichen Teerstraße durch einen regionalen Nationalpark bis Sassoferrato und schließlich durch eine enge Schlucht zur Grotte von Frasassi geht. Die riesige Tropfsteinhöhle, in die vermutlich sogar der Mailänder Dom passen würde, wurde erst 1971 entdeckt. Aber umgerechnet etwa 15 Mark Eintrittsgeld scheinen mir trotzdem etwas hoch angesetzt. Die Region zählte einst zu den ärmsten Italiens, und obwohl die Landschaft in meinen Augen eigentlich viel schöner als die vielgepriesene Toskana ist, verirren sich kaum Touristen hierher. Dafür haben sich mittlerweile kleinere Industriebetriebe angesiedelt, so daß die Gegend inzwischen sowohl mit die niedrigste Arbeitslosenquote als auch die geringste Kriminalitätsrate des Landes aufweist. Eine Schweizerin, die seit über 20 Jahren hier lebt und eine kleine Bar betreibt, erzählt, daß wie einst in der Toskana immer mehr Deutsche alte Häuser kaufen, die teils schon seit Jahrzehnten leerstehen und am zusammenbrechen sind, um sie zu restaurieren. Der Beginn des Ausverkaufs einer Region? Hinter Visso geht es hinauf in die Monti Sibillini, eine der höchsten Berggruppen des Apennin. Vor der bereits schneebedeckten und immerhin 2476 Meter hohen Kuppe des Monte Vettore taucht eine weite Ebene wie eine riesige Obstschale auf, in der trotz der Höhe weitläufige Felder bewirtschaftet werden. Und mitten drin erhebt sich ein Bergkegel, auf dem die Häuser des Dörfchens Castellúccio kleben, als seien sie vor einem Hochwasser geflüchtet. Der kleine Ort ist vor allem bei Drachen- und Gleitschirmfliegern ein Begriff. An den Hängen bilden sich fast immer ideale Aufwinde. Es gibt sogar eine Flugschule im Ort, und die Bar ist voll mit Pokalen und Fotos von dem lautlosen Sport. Castellúccio dürfte durch seine Lage eines der schönsten Dörfer des Apennin sein. Eine Unterkunft für die Nacht zu finden ist hier nicht einfach. In Montemonaco sind alle drei Albergos geschlossen, und der Verkäufer im Alimentari, dem Lebensmittelgeschäft, zeichnet mir eine Wegbeschreibung auf eine Papiertüte, die ich wohl irgendwie falsch deute. Über eine Stunde irre ich in der einbrechenden Dunkelheit über laubbedeckte, winzige Straßen und rutschige Feldwege, bis ich in Montefortino endlich wieder auf die Zivilisation stoße. Aber auch hier gibt es außer einer kühlen Nacht im Zelt keine Übernachtungsmöglichkeit, ich muß bis Amándola fahren, um endlich ein Zimmer zu bekommen. Während meiner nächtlichen Irrfahrt war mir mehrmals ein Schild mit dem Hinweis zur Gola Infernaccio aufgefallen. Am nächsten Morgen folge ich den Wegweisern, die hinter einem einsamen Dorf an einem noch einsameren Parkplatz vor einem Fußweg enden. Nach einem kurzen Marsch plätschert ein dünner Wasserfall aus einer engen Felsspalte, und dahinter befindet sich eine kleine Schlucht. So infernalisch wie die Ausschilderung ist die Sache zwar nicht. Aber wozu in dieser Gegend nach Sensationen suchen. Ob die Landschaft nun Monti Sibillini oder Gran Sasso d«Italia heißt - es gibt überall schier endlose Motorradstrecken, einsame Dörfer und herrliche Berglandschaften. Da wird sogar das Wetter zur Nebensache.
Info
Wer sich im November noch nicht vom goldenen Herbst verabschieden möchte, kann ihn südlich der Alpen noch erleben. Allerdings gehört auch hier warme Kleidung dazu. Hier ein paar Tips zur kleinen Winterflucht.
Anreise: Der schnellste und schneesicherste Weg führt über den Brenner. Dann weiter auf der A 22 bis Modena und von dort die A 1 nach Florenz. Leider verschlingen die Autobahn- und Tunnelgebühren inzwischen rund 100 Mark einfach. Wer mehr Zeit hat, fahre südlich des Brenner auf der landschaftlich wunderschönen SS 12 bis hinab nach Lucca. Reisezeit: Für touristische Hochburgen wie Pisa, Florenz und Siena ist der November ein idealer Besichtigungsmonat. Aber auch in Italien - vor allem im Apennin - regnet es in dieser Zeit öfters mal und es kann vor allem in den Höhenlagen empfindlich kalt werden. Also unbedingt warme und wetterfeste Ausrüstung mitnehmen. Die Top-Monate sind Mai oder September.Übernachten: In den Städten finden sich im Winter problemlos Zimmer. In kleineren Ortschaften sind allerdings außerhalb der Saison viele Unterkünfte geschlossen. Doppelzimmer kosten ab etwa 60 Mark (90 Mark in den Städten), Einzelzimmer rund zwei Drittel des Doppelzimmerpreises. Für Städtebummler bietet sich Florenz als Basisquartier an. Dort gibt es die meisten Sehenswürdigkeiten, das vielseitigste Abendprogramm, und bis Pisa und Siena sind es 86 beziehungsweise 65 Kilometer. Die Campingplätze sind während der Wintermonate fast durchweg geschlossen. Ein besonderer Tip ist das Hotel Podere La Locca bei Baccinello, nahe des Monte Amiata. In diesem auf Motorradfahrer spezialisierten, komfortablen Landgut kann zwischen Zeltplatz und Zimmer mit Halbpension (75 Mark) gewählt werden. Telefon: 0039/(0)564982178... man spricht deutsch. Gastronomie: Die italienische Lira wurde in den letzten Jahren zwar kräftig abgewertet, trotzdem liegt der Preis für ein komplettes Menü aus der Karte noch relativ hoch. Mein Favorit ist immer noch die gute alte Pizza, die oft mitten im Lokal zubereitet wird und auch preislich im Rahmen bleibt. Da sie fast immer im traditionellen Steinofen gebacken wird, der vorgeheizt werden muß, kommt sie in der Nebensaison meist nur abends auf den Speiseplan. Landkarten: Für die Anfahrt und die Hauptstrecken eignet sich die Shell Eurokarte, Italien, 1:600 000 gut. Für die Mini-Sträßchen in den Regionen braucht es 1:200 000er Blätter. Die gibt es traditionell von Kümmerly+Frey (Toskana, Umbrien/Ital. Adria) und seit kurzem auch von Mairs, Die Generalkarte Italien, Blatt 5 und 6.Informationen: Staatliches italienisches Fremdenverkehrsamt, 60329 Frankfurt/M., Kaiserstraße 65, Tel.: 069/237-430, Fax -894.Gefahrene Strecke: etwa 1150 Kilometer Zeitaufwand: zehn Tage.