Über Stunden schon scheint der Bus jetzt durch diese Stadt zu rattern. Vorbei an funkelnden Hochhausfassaden, die übersäht sind mit unidentifizierbaren asiatischen Schriftzeichen, nur ab und an von einem vertrauten Coca-Cola- oder Sony-Logo unterbrochen, ansonsten nichts als im nächtlichen Regen verschwimmende, neonfarbige Sprachexotik. Auf dem obersten Stock riesiger Sandwichautobahnen geht es hinweg über dunkle Gassen und Hinterhofschächte, vorbei an fahl beleuchteten Verkehrsübungsplätzen und verlassenen Tenniscourts auf Hochhausdächern. Große Digitaltafeln scheinen Staumeldung zu verkünden - pulsierende Schlangen aus grün, gelb und unheilvoll rot flammenden Leuchtpunkten wandern durch aufgemalte Straßenzüge. Wir tauchen in ein einziges Meer von Rot. Die Übersicht behalten, unbedingt die Übersicht behalten, hämmere ich mir seit dem Verlassen des Japan Airlines-Jets in Tokio-Narita ein. Doch bereits in diesem Moloch von Flughafen spürte ich, wie die ersten Stücke dieses Vorsatzes verlorengingen. »Ihr werdet Japan kennenlernen, ich werde es möglich machen«, hatte die japanische Motorjournalistin Yuko Sugeto 1993 euphorisch phrophezeit, als sie während der Recherche auf einem Frauen-Motorradtreffen in Europa (WIMA) die Idee von einem interkontinentalen Bikerinnen-Event packte. Drei Jahre später ist es tatsächlich soweit, gut zwei Dutzend Europäerinnen landeten vier Stunden vor mir in Tokio. Vier verschiedene Stadtpläne und Landkarten liegen inzwischen achtlos auf den Bussitzen verstreut, und ich blicke resigniert aus dem Fenster in die Staukolonnen. Waren die ersten Autobahnausfahrten noch per Karte identifizierbar waren, machte ein wachsender japanischer Zeichenwald mit nur noch sporadischen Übersetzungen die Orientierung bald unmöglich. Angesichts der endlossilbigen und sehr verwechselbaren Namen ist es aber ohnehin fast gleichgültig, ob die Orte nun englisch geschrieben sind oder japanisch - merken kann ich sie mir ohnehin keine Sekunde lang. Ich weiß beim besten Willen nicht, in welche Richtung dieser Bus fährt. Am liebsten würde ich den Kompaß aus dem Gepäck wühlen. Irgendwann öffnen sich mit leisen Seufzen die Hydrauliktüren, und ein Skyscraper der Extraklasse baut sich vor mir in dem dunklen Nachhimmel auf. Das Sunshine Prince Hotel. Die Aussicht aus meinem Zimmer in der 27sten Etagen über das funkelnd bis zum Horizont hingegossene Tokio nimmt mir schier den Atem. »Irie-chan soll mit dir fahren. Die kennt zwar Tokyo nicht, aber wenigstens die Sprache.« Nach der Begrüßung winkt Yuko eine Freundin herbei, die mich zum Yamaha-Hauptquartier am anderen Ende der Stadt begleiten soll, um mein Motorrad zu holen. Bereits am Fahrkartenautomaten bin ich froh, daß die schüchterne, mir gerade bis zur Schulter reichende Frau mit den langen Zöpfen dabei ist. Zunächst müssen wir die richtige Linie finden, dann die Fahrroute, die Haltestellte wählen und schließlich die entsprechende Fahrpreistaste. Auch Irie-chan kämpft, vergleicht zwischen Stadtplan und Anreisebeschreibung, überlegt, fragt, lotst mich dann aber zielgenau durch ein Gewirr von Bahnen, Treppen und Straßen, bis sie schließlich strahlend vor einem Hof mit Bikes und Booten von Yamaha stehen bleibt. Mit schüchtern gesenktem Kopf erwidert sie meinen Dank. Ein genauso zurückhaltend wirkender Yamaha-Mitarbeiter heißt uns mit einer Fülle von Verbeugungsandeutungen willkommen, bietet Tee und Kekse an, Irie-chan antwortet im selben Stil. Ich beginne mich allmählich wie eine einzige Verhaltensstörung zu fühlen, versuche leiser und unscheinbarer zu werden, die Schultern einzuziehen und irgendwie zuvorkommend zu wirkend. Irie-chan und der nette Mann machen sich sogleich daran, einen Plan für unseren Rückweg aufzuzeichnen. In Tokio läuft nichts ohne Lagepläne, da weder alle Straßen benannt, noch alle Häuser nummeriert sind. In einer der größten und hochzivilisiertesten Städte der Welt eigentlich kaum zu fassen. Schließlich klettert Irie-chan auf den Soziushöcker meiner TRX 850 und lotst mich von dort mit Zeichen und halblauten Kommandos über achtspurige Kreuzungen und durch winzige Gäßchen mutig durch den Linksverkehr zurück, die Bleistiftskizze gestikulierend in der linken Hand, die rechte panisch an meine Hüfte gekrallt. Wir geben beide unser Bestes. An einem Rastplatz außerhalb von Tokio lerne ich später die anderen kennen. Rund 30 japanische Motorradfahrerinnen, die uns zur der Halbinsel Izu Peninsula begleiten, ein paar Stunden südlichwestlich der Hauptstadt. Per Zeitungsinserat hatte Yuko Sugeta sie aus allen Teilen des Landes als »Tourguides für eine Gruppe europäischer Motorradfahrerinnen« zusammengetrommelt. Zwischen gut 20 und knapp 50 Jahren alt, mit einer Durchschnittsgröße von vermutlich kaum mehr als 1,60 Metern und ausgestattet mit Motorrädern aller Typen und Kampfgewichte. Perfekte Körperbeherrschung scheint das Höhenhandikap gegen Null zu drücken. Wir fühlen uns wie Elefantinnen daneben. Da ist Michiko auf einer herrlichen alten orangefarbenen Sport-BMW und ihre Namenskollegin auf einer Triumph Daytona, oder Mayumi mit einem Prachtstück von Katana. Erst der zweite Blick offenbart die trickreich verlängerten Lenkerstege und tiefergelegten Bänke. Strahlend und selbstbewußt stehen sie auf dem Platz, und es wird spürbar, daß sie mit ihrer traditionellen Rolle in diesem Land ziemlich aufgeräumt haben. Einer Tradition, die für Frauen häufig immer noch nicht mehr vorsieht, als bis allerspätestens 24 verheiratet zu sein, etwa sieben sündhaft teure Kimonos zu besitzen und Geisha als wichtiges Berufsziel zu akzeptieren. Eine Motorradfahrerin ist in diesem Rahmen eigentlich ein Unding. Als »ein Aufbäumen gegen die Traditionen« beschreibt es ein Tokioter Reporter, der aufmerksam den Event verfolgt, und bemerkt, daß »hier in den letzten Jahren einiges in Bewegung geraten ist«. Noch scheint das ungewöhnliche Hobby vorwiegend im Team mit einem verständnisvollen, ebenfalls bikenden Ehemann zu funktionieren, der die Vorteile einer gleichgestimmten Partnerin zu schätzen weiß, wie Sayura Kunihashi vom 40 Mitgliederinnen umfassenden Frauen-Motorradklub »Lady Bee« beobachtet. »Meist beruflich engagierte Männer, die das bißchen Freizeit, das das strenge japanische Arbeitskorsett noch läßt, nicht noch zwischen Familie und Motorradvergnügen zerreissen wollen.« Es dauert, bis wir den Großraum Tokio hinter uns gebracht haben. Dieses riesige Konglomerat nahtlos ineinanderübergehender Wohn- und Industriestädte, das mit rund 25 Millionen Einwohnern zu einem der größten Industrie- und Ballungsräume der Welt angeschwollen ist. Erst in den Hügeln von Izu kommt so etwas wie Fahrvergnügen auf. Allerdings zu dem Preis, daß sich hier die ganze motorsportbegeisterte Szene Tokios zu drängen scheint. Parkt am ersten Rastplatz noch eine Lamborghini-Versammlung, biegt wenig später ein ballernder Harley-Club auf die Strecke, ein paar fette Honda aus den glorreichen 70ern folgen auf dem Fuße. Rundherum flitzen Bikes und Streetfighter neuester Produktion. In seiner motorsportlichen Begeisterung unterscheidet sich Japan mitnichten von der übrigen Wohlstandswelt, und die Zeiten der Hubraumbegrenzung auf ehemals 750 Kubikzentimeter sind nun auch passé. Nicht allerdings die »Aufhebeprüfung« in der Fahrschule - die übrigens auch alle Frauen bewältigen müssen. Mit einigem Training packe man das, versichert mir die Triumph-Fahrerin, es handele sich ja nur um eine 750er Fahrschulmaschine... Erst abends in unserem Quartier in einem Tempel sind wir wieder unzweifelhaft in Fernost: dünne Schiebewände, Futonlager und ein Schuharsenal vor jeder Tür. Für jeden Raum ist nämlich eine bestimmte Fußbekleidung vorgeschrieben: draußen normale Schuhe, auf den Gängen Pantoffeln, in den Zimmern Socken und auf der Toilette spezielle Klosett-Schlappen. Wehe, man macht hier einen Fehler. Die ersten Stunden bin ich nur damit beschäftigt, ständig auf die genaue Einhaltung des Schlappenrituals zu achten. Eine weitere Tücke steckt in wunderschönen Schalen und Lack-Kästchen auf Tischen knapp wadenhoch über dem Boden - das Essen. Eine Weide für die Augen, ganz zweifellos - die Ästhetik der japanischen Küche spielt den Rests der Weltgemeinschaft locker an die Wand -, aber eine Folter für Gaumen und Beinmuskeln, zumindest für das Gros der Nichtasiaten. Dominierender Bestandteil sind Meeresfrüchte in allen nur denkbaren Zubereitungsarten - vom rohen Fischfilet über noch zappelnde Krebsbeine bis hin zu völlig undefinierbar zusammengerührten und zu farbigen Würfeln gepreßten Speisemassen. Essen in Japan - wir haben es vorher gewußt, uns darauf eingestellt und uns tapfer ermutigt, offen für Neues zu sein-, und dennoch scheitern wir kläglich. Es ist vom ersten Tage bis zum letzten die härteste Herausforderung der Reise. So sehr sich unsere Begleiterinnen auch bemühen und uns aufs liebevollste die Zubereitungs- und Essensrituale nahebringen - der Funke will nicht überspringen. Verzweifelt die absterbenden Beine unter den flachen Tischchen hin- und herschiebend, kämpfen wir uns möglichst höflich über die Mahlzeiten hinweg, mogeln völlig Ungenießbares ins Abseits, tauschen Erträgliches partnerschaftlich untereinader aus und stecken manches Sushi-Stück heimlich zum Wärmen in die Suppe. Merken es die Japanerinnen, brechen sie regelmäßig in bloßstellende Lachanfälle aus. Zum Teil in elegante Kimonos gehüllt, kauern sie in asiatischer Gelenkigkeit entspannt über Stunden auf einem kleinen Kissen, die faltenlosen Gesichter sorgfältig geschminkt, die langen schwarzen Haare glänzend gebürstet, die Augen in voller Konzentration auf die Gesprächspartnerin gerichtet. Zückt jemand einen Fotoapparat, kommt ihr Lächeln ebenso prompt wie das Surren des Autofocus. Sie sind perfekt. Auch wenn sie draußen auf dem Parkplatz die ganze gesellschaftliche Konvention auf den Kopf stellen, bleiben sie hier drinnen doch Asiatinnen, stets höflich und zuvorkommend, immer lachend und jedes Neinsagen peinlich vermeidend und voller Entschuldigungen für alles nur Denkbare. Einige von ihnen hatten wir während ihrer früheren Europabesuche kennengelernt, damals schüttelten wir nur die Köpfe und lachten uns halbtot. Inzwischen sind wir stiller. Plötzlich werden auch wir etwas dezenter, aufmerksamer für ihre leisen Töne, für das unausgesprochene Nein, legen ein wenig von unserer europäischen Coolness ab und lassen uns anstecken von der herzlichen Freundlichkeit. Und plötzlich ist der Draht da, wir reden bei heißem Sake die halbe Nacht, ringen um ein paar englische Worte, aber wir lernen uns zu verstehen. Als wir nach Tokio zurückfahren, fühlt sich alles anders an. Das Land ist mir nähergerückt. Auch wenn ich die Wegweiser noch immer nicht lesen kann und die Staukolonnen nicht kleiner sind, auch wenn mich nicht einmal mehr der schützende Bus oben auf der schwanken Etagenautobahn chauffiert, sondern ich mit der Maschine direkt von einer gigantischen Reklamewand verschluckt zu werden scheine, merke ich, wie ich dieses extreme Land und seine so eigenen Menschen zu mögen beginne. Und vielleicht ein kleines bißchen zu verstehen.
Infos - Japan
Auch wenn Japan in unserem Leben mit seinen Industrieprodukten allgegenwärtig ist, kennt doch kaum jemand das Land selbst. Es ist als Reiseland nicht populär, zu »normal« auf der einen Seite - organisatorisch schwierig und teuer auf der anderen. Beides stimmt. Aber Japan bietet mehr. Wer sich gut vorbereitet und die Bereitschaft mitbringt, sich auf Land und Leute wirklich einzulassen, bekommt tiefgehende Eindrücke von immerhin einem der einflußreichsten Länder der Welt.
Allgemeines: Durch die nicht auf Tourismus ausgerichtete Infrastruktur ist das Reisen für Fremde und vor allem Sprachunkundige in Japan etwas beschwerlich, denn oft gibt es keine englische Übersetzung. Wer aber die Ballungsräume zwischen Tokio und Osaka verläßt und sich den ländlichen Gebieten vor allem in der gebirgigen Nordhälfte der Hauptinsel Honshu oder der Nordinsel Hokkaido zuwendet, findet dank der geringeren Besiedlungsdichte auch übersichtlichere und damit leichtere Reisebedingungen. Und last not least - herrliche alpine Landschaften und stets hilfsbereite Menschen. Akribische Vorbereitung ist in jedem Fall unerläßlich (siehe Literatur). Flug: Da Japan kein klassisches Reiseland ist, bleibt hier nur der Lienenflug. So fliegt beispielsweise Japan Airlines (JAL) täglich nonstop Frankfurt-Tokio und dreimal pro Woche nach Osaka. Da der Listenpreis mit 2934 Mark für den Hin- und Rückflug derzeit schmerzhaft hoch liegt, lohnt es sich, auf Angebote zu achten. So hatte JAL im Frühjahr das Ticket für rund 1700 Mark im Programm. Infos in jedem Reisebüro oder bei JAL direkt unter Telefon 0130/6878. Dokumente: Für die Einreise genügt ein gültiger Reisepaß, zum Fahren wird der internationale wie der deutsche Führerschein benötigt, und letzterer zusätzlich noch mit einer japanischen Übersetzung ausgestattet sein. Die Übersetzung bekommt man für 20 Mark bei der deutschen Botschaft in Tokio, 5-10, 4-chome Minami Azabu, Minato-ku, Tokyo 106, Telefon 03/34 73-0151.Oder man schickt eine Kopie des deutschen Führerscheins an die Japan Automobile Federation (JAF) und kann die Übersetzung dann am gewünschten Tag abholen. Kosten: zirka 48 Mark. Adresse: JAF, Kaigai Ryoko, Honyaku Service Division, 3-11-6 Otsuka, Bunkyo-ku, Tokyo 112. Informationen in Deutschland gibt die Japanische Fremdenverkehrszentrale, Kaiserstr. 11, 60311 Frankfurt/M, Telefon 069/2 03 53, Fax:28 42 81. Reisezeit: Japan, das sich über 22 Breitengrade erstreckt, hat ein sehr variantenreiches Klima mit vier ausgeprägten Jahreszeiten, die zeitlich etwa unseren entsprechen, aber extremer ausfallen. Im Sommerhalbjahr muß mit Taifunen und Monsunregen gerechnet werden, die Winter können sehr kalt sein. Die mildeste und klimatisch stabilste Reisezeit bieten Frühjahr und Herbst.Übernachten: Eine flächendeckende Übersicht bietet das nachstehend empfohlene Traveller-Handbuch von Loose, das für die meisten Orte Übernachtungsadressen in verschiedenen Preiskategorien nennt. Richtig billig ist es allerdings nicht mal in der Jugendherberge. Literatur: Unschlagbar in Informationsfülle und Background-Wissen ist das 780 Seiten starke »Japan Traveller Handbuch« vom Stefan Loose-Verlag für 44,80 Mark. Hier wird akribisch jede nur denkbare Reisefrage kompetent abgehandelt. Karten: japanisch beschriftete Detailkarten (1:500 000) liefern auf Bestellung Karten-Spezialgeschäfte, lesbare Übersichtskarten (1:1.5 Mio) bieten Ravenstein, Kümmery+Frey und Nelles ab 14,80 Mark an.