Endurotour Brandenburg
Unser "Sound of Singles" dringt durch den brandenburgischen Kiefernwald, in den sich laut Lokalpresse immer mehr echte Wölfe verirren. Der wilde Osten Deutschlands hat auf Anhieb einiges für Enduristen zu bieten. Überall im Umland der Hauptstadt trifft man auf Militär- und Besatzungsgeschichte von den 30er- bis in die 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Und auf echte Sanddünen. Später und weiter nördlich sind Theodor Fontane mit seinen "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" oder der Oder-Neiße-Radweg unsere Begleiter. Ganz ohne Asphalt geht es nicht im Großraum Berlin, doch die Kompassnadel zeigt Richtung Polen und Oderbruch, wo schließlich alle ausgebauten Wege enden. Im märkischen Sand machen wir weitere Fahrversuche, immer die Nord-Süd-Achse vor Augen.
Am Oderbruch treffen wir auf den "Gebirgszug" Barnim, der hinter seiner Hochfläche eine kleine Abbruchkante in der Oder-Landschaft gebildet hat. Deshalb wurde für die Binnenschifffahrt in Niederfinow in den 30er-Jahren ein monströses Schiffshebewerk gebaut, dessen Stahlnietkonstruktion zu den historischen Wahr-zeichen der Ingenieurbaukunst zählt. Ein neues Hebewerk ist bereits im Bau.

Durch das Biosphärenreservat Schorfheide suchen wir unseren nicht ausgeschilderten Weg Richtung Norden und werden auf wildromantischen Kopfsteinpflastersträßchen fündig. Hier bekommen die Endurofahrwerke auch richtig was zu tun. Für hiesige Verhältnisse richtig steil geht es in Liepe auf die "Hochebene" des Barnim. Anschließend bald wieder gemächlich hinunter zum Pehlitzwerder, wo es auch zwei nostalgische, besuchenswerte Campingplätze aus Ostzeiten gibt. In Schwedt ist Halbzeit für unsere Tour, und die kommt nach zwölf Stunden im Sattel genau recht. Offroad kostet Zeit, bringt aber dafür oft unvergessliche Erlebnisse.
Am folgenden Tag wollen wir wissen, was Polen an Pisten zu bieten hat. Nach einer kleinen Schleife zum uckermärkischen Tabakmuseum in Vierraden und einem vergeblichen Versuch in das Oderbruch-Schwemmland einzudringen, nehmen wir die Oder-Brücke nach Polen. Die ausgebauten Grenzanlagen sind seit dem Schengener Abkommen 2007 nicht mehr in Benutzung. Alte, vergilbte Fahndungsplakate hängen noch in den Fenstern. Da wir alle lange Polen-abstinent waren, wundern wir uns über den Trubel und den Polenmarkt an der Grenze: Gemüse, Tabak und Alkohol werden zu Spottpreisen angeboten. Kein Wunder auch, dass der niedrigere Spritpreis den "kleinen Grenzverkehr" für Wessis und Ossis attraktiv macht. Wir fahren durch die letzten Dörfer Polens vor der deutschen Grenze, um endlich wieder Schotter unter die Räder zu bekommen. Die sehr blonde Mittdreißigerin im Kiosk trägt Kittelschürze und zahlt uns das Wechselgeld in Zloty aus. Wie in Dänemark und England ist die Einheitswährung hier noch nicht angekommen. Im Grenzgebiet geht es über glitschige Erdstraßen, an denen viele Kinder glücklich im Dreck spielen, während die Alten ihrer manuellen Arbeit auf dem benachbarten Acker nachgehen. Der schlammige Dorfverbindungsweg bei Ognica mutiert zur sandigen Piste, die wenig später im dichten Buchenwald verschwindet.

Einige Verbindungswege, einen Regenschauer und etliche Pistenkilometer weiter finden wir uns auf der gefühlt längsten Kopfsteinpflasterallee Ostdeutschlands: Zwischen Glashütte und Ludwigshof erstreckt sich diese Nieren und Fahrwerk gleichsam malträtierende Piste. Zum Kiefernduft mischt sich allmählich der des Meeres, und wir sind nach fast zwei Tagen Endurado etwas überrascht, auf erste Ostsee-Ausläufer zu treffen. Das Meer mischt sich am Neuwarper See mit aufgestautem Süßwasser von Peene und Oder und wird dadurch zum Haff oder Bodden. Hier gibt es kaum Tourismus, kaum nennenswert befahrene Straßen - es ist der hinterste Zipfel der Republik und das letzte Eckchen Vorpommerns.
Auf dem geschichtsträchtigen Oder-Neiße-Radweg trialen wir weiter nach Ueckermünde, wo wir erstmals wieder auf eine touristische Infrastruktur treffen. Ein erfrischendes Bad im noch kühlen Stettiner Haff ist notwendig, um den Staub der vergangenen 350 Kilometer abzuwaschen.
Auf dem Weg nach Usedom kündigen ein mächtiger Seeadler und Küstenseeschwalben immer wieder die Nähe zur Ostsee an. Das hier soll noch Deutschland sein? Ein abgestorbener Wald mit Hunderten von Kormoranen erinnert in der purpurroten Abendstimmung eher an Madagaskar. Auf beiden Seiten des mysteriösen Dammes, auf dem wir zwischen einer gefluteten Aue und einem sterbenden Wald entlangtuckern, entsteht durch das Brackwasser ein neues Biotop. So nähern wir uns auf dem schnurgeraden Damm der im Krieg zerstörten Karniner Eisenbahnhubbrücke, die einst Usedom bei Karnin und Kamp mit dem Festland verband. Bei Schiffsverkehr auf dem Peenestrom ließ sich ihr mittlerer Teil samt Schienenstrang 25 Meter in die Höhe fahren. Erst als wir am alten Brückenkopf ankommen, wird uns klar, dass wir die ganze Zeit auf dem ehemaligen Eisenbahndamm unterwegs sind. Über einen geheimen Hintereingang kommen wir so zu einer der am schlechtesten erschlossenen Sehenswürdigkeiten an Vorpommerns Küste.

Mit Arne, einem Usedomer Freund, haben wir uns an der Karniner Eisenbahnhubbrücke verabredet. Nur leider läuft etwas schief: 500 Meter entfernt winkt er uns mit dem Handy in der Hand von der Usedomer Seite zu - wir stehen am Brückenkopf der Festlandseite. Der flüchtige Blick auf den Routenplaner sagt etwas von 7,8 Kilometern Umweg - also los! Der nächste Ort heißt Anklamer Fähre. Vorbei an einer melkenden Bauersfrau führen staubige Wege in eine Sackgasse, wo ein älterer Herr gerade den gemütlichen Grillabend vorbereitet. Er gibt uns zu verstehen, wir seien nicht die ersten, die sich auf seinen Hinterhof verirrten, denn in Anklamer Fähre hat es noch nie eine Fähre gegeben. Der Ort heißt einfach nur so. Der wirkliche Umweg ist fast 30 Kilometer lang, führt aber bis zur Hansestadt Anklam standesgemäß über Stock und Stein auf dem Oder-Neiße-Radweg entlang, der größtenteils für den motorisierten Verkehr freigegeben ist.
Die Usedomer Seite der Brücke ist wesentlich belebter, und wir werden von Arne mit je einem Becher süßer Fassbrause, die im regionalen Sprachgebrauch auch "Lutscherspucke" genannt wird, begrüßt. Im kleinen Hafen wird dieser edle Tropfen aus einem roten Trabi-Motor gezapft. Wir können es kaum noch erwarten, auf Nebenstraßen und echtem Usedomer Kopfsteinpflaster mit ordentlicher Sandauflage zum lang ersehnten Ostseestrand zu schlittern. Wie Sahara-Reisende, die am Meer ankommen, stürzen wir uns zwischen Strandkörben und Seebrücken in die seichten Ostsee-Fluten. Es ist vollbracht: Berlin - Ostsee in zwei Tagen statt zwei Stunden und der Beweis, dass man auch im voll durchgeplanten Deutschland noch echte Abenteuer erleben kann.
Infos und Tourentipps

Allgemeines:
Seit der Ratifizierung des Schengener Abkommens gibt es an der polnischen Grenze keine nennenswerten Kontrollen mehr. Auch eine Passage der grünen Grenze ist problemlos möglich. Den Euro hat Polen trotz EU-Mitgliedschaft noch nicht eingeführt (ein Euro entspricht vier Polnischen Zloty). Einen Polenmarkt gibt es an jedem Grenzübergang, und viele Deutsche decken sich hier mit Alkohol, Tabak, Lebensmitteln und Benzin ein. Seit Mitte 2007 gilt im polnischen Straßenverkehr ein absolutes Alkoholverbot. Dennoch verzeichnet Polen viermal mehr Unfälle als Deutschland. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind aus Endurofahrersicht „Sandpistenländer“. Im Oderbruch wird es auch mal erdiger, und für ruppige Kopfsteinpflasterpassagen benötigt man Durchhaltevermögen. Dennoch kann die beschriebene Tour zur Not mit normaler Straßenenduro-Bereifung gemeistert werden. Abseits der raren Städte sollte man sich rechtzeitig nach einer Tankstelle umsehen.
Ausrüstung:
Generalkarte, Wanderkarten und optional Navigationsgerät, nach Möglichkeit gröberes Reifenprofil - das ist der Stoff für Enduroträume. Interessant für Fahranfänger im Sand: Je nasser der Sand (oft im Osten der Fall), desto mehr Grip bietet er. Endurostiefel zum Schutz gegen unvermeidliche Stürze und Umfaller sollten obligatorisch sein. Eine Luftbild-überprüfung mit Google Earth ist ebenfalls hilfreich, genauso wie ein GPS-Gerät (möglichst mit Topo- oder Openstreetmap-Karten) für schwieriges Gelände. An Karten empfiehlt der Autor die Generalkarte Deutschland (Blätter 7 und 3 aus dem aktuellen ADAC-Karten-Set, 14,95 Euro). Des Weiteren Wanderkarten im Maßstab 1:50 000 (Landesvermessungsämter) oder die Radkarten des ADFC (www.adfc.de).

Übernachten:
Unterkünfte in der Grenzregion sind rar, doch der Autor empfiehlt das Andersen Hotel Schwedt/Oder nahe der polnischen Grenze, Gartenstraße 9-11, Am Karlsplatz in 16303 Schwedt. Telefon 0 33 32/2 91 10 oder www.andersen-hotel.de. Eine Garage ist vorhanden. Die Campingplatz-Empfehlung lautet: Natur/Familiencampingplatz Pehlitzwerder (Camping am See mit DDR- Tradition), 16230 Chorin, OT Brodowin, Telefon 03 3362/284, geöffnet von März bis Oktober.
Reisezeit:
Frühling bis Herbst, optimal während der Sommermonate, hier sollte man an Mückenschutz denken. Während im Berliner Raum typisch kontinentales Klima herrscht, kann es im Frühling und Herbst an der Küste kühl und windig sein. Nützlich: Autozugverbindung von München-Ost nach Berlin-Wannsee. Infos unter www.dbautozug.de, Telefon 0180/5996633.
Sehenswürdigkeiten:
Schiffshebewerk Niederfinow am Oderbruch (www.schiffshebewerk-niederfinow.info). Oderbruch: 60 Kilometer lange Abrisskante, deren 30 Meter tiefer liegendes Flachland von Überschwemmungen bedroht ist. Zu Fuß oder per Kanu lässt sich der Nationalpark Unteres Odertal erforschen. Zum Offroadfahren sind Straße und Aussicht bei Falkenberg und Liepe interessant. Tabakmuseum Vierraden: Wegen des milden Klimas wächst in der Region um Schwedt/Uckermark traditionell Tabak. Auf Usedom: Karniner Eisenbahnhubbrücke, Technik- und Zweiradmuseum Dargen.
Adressen:
www.reiseland-brandenburg.de, www.oder-neisse-radweg.de (Infos für Motorradfahrer), www.auf-nach-mv.de, www.museumdargen.de