Da steht er im gleißenden Sonnenlicht: Yannis Michalakis, in 20 Jahren nicht gealtert, die übliche Mischung aus Coolness und Charisma im Gesicht, begrüßt unsere Enduro-Crew am Flughafen. In den letzten beiden Jahrzehnten war Yannis schon oft mein erster Kontakt auf Kreta, und deswegen fühlt es sich an, wie nach Hause kommen.
In der Filiale seiner Firma Eurodriver in Malia sind ruckzuck alle Formalitäten erledigt: "Sucht euch Motorräder aus, dann gibt es Kaffee", meint der Chef. Eigentlich hatte sich unsere Ruhrpott-Gang angesichts ehrgeiziger Vorhaben in Kretas Gebirgsregionen schon im Vorfeld für Hondas CRF 300 entschieden. Doch jetzt erblickt Robert die nagelneue, erst 60 Kilometer gelaufene Kove 450 Rally und will sie unbedingt probieren. Der Eigentümer zögert nur einen Sekundenbruchteil, dann gibt er grünes Licht.
Motorradvermietung Eurodriver auf Kreta
Yannis, wahrscheinlich einer der besten Motorradvermieter Europas, weiß alles über seine Bikes, mehr als so mancher Experte. Der deutschsprachige Profi hat in allen Klassen die neuesten Modelle vorrätig, "über 100 müssen es sein". Seine Söhne halten die Bikes im Top-Zustand, was mitunter mühsam ist. Warum? Weil viele Kunden sich überschätzen und meinen, sie müssten im Kreta-Urlaub auf den verwinkelten Sträßchen oder holprigen Steinpisten die gleichen dicken Maschinen fahren wie zu Hause oder noch eine Klasse höher. Kann man machen, geht aber nicht immer gut.
Richtung Krasi: Besuch im Homo Sapiens Museum
Kreta ist ein wahrer Schmelztiegel an Historie, war die Heimat der ersten europäischen Hochkultur von 3.000 bis 1.100 vor Christi. Die Minoer bauten eindrucksvolle Paläste wie Knossos, Festos, Malia oder Zakros, wo sie eine reiche, künstlerisch geprägte, hoch rituelle Kultur mit erstaunlich matriarchalischen Zügen gestalteten.
Sind wir Banausen, dass wir auf dieser wundervollen Insel mit ihren Tempeln, Kirchen, archäologischen Sensationen und uralten Bäumen nur Motorrad fahren? Dass wir nur wenige der weltweit bewunderten, spannenden, dicht gedrängten Kulturschätze besichtigen wollen? Eine kleine Lektion gibt es nach windungs- und schräglagenreichem Emporklettern Richtung Krasi gleich im Homo Sapiens-Museum, in dem unter anderem klar wird, dass die ältesten Spuren menschlicher Besiedlung satte 130.000 Jahre zurückreichen. Leicht nachvollziehbar, dass in dieser Zeitspanne intensive Dinge passiert sind und sich die griechische Götterwelt hier auf das Feinste ausbreiten konnte. In der Höhle des Zeus beispielsweise oder der Kronos-Höhle. Und dass sich die stolzen Kreter in ihrer bewegten Geschichte immer wieder gegen Eindringlinge wehren mussten, die ihre Insel beherrschen wollten.
Gebirge in Griechenland: die Lassithi-Hochebene
In völlig friedlicher Mission lassen wir die Enduros über die Lassithi-Hochebene tuckern. Früher war die Ebene bewaldet, dann wurde sie gerodet, bis heute wird sie landwirtschaftlich genutzt, was aufgrund der Höhe von gut 800 Metern nie einfach war. Die charakteristischen Windmühlen mit den weißen Segeln, die der Ebene im Frühling das Aussehen einer Wiese mit Margeriten verliehen, trieben Wasserpumpen an. Inzwischen wurden sie weitgehend durch motorgetriebene Pumpen ersetzt. Elektrizität gibt es hier erst seit den 1960er-Jahren, und ein paar der weißen Segel werden für die Touristen erhalten.
Foto? Ja, bitte, mit den Mopeds unter dem Windrad. Der Wind treibt uns runter von der Lassithi-Hochebene, durch verschwiegene Dörfchen Richtung Südwesten. Auf den kleinen Sträßchen erweist sich die Wahl der leichten Enduros als goldrichtig. Allein Robert hadert mit der Kove, die auf Asphalt ein ruppiges Wesen zeigt und erst auf den ersten Schotterwegen ihr wahres Talent ausspielt. Nelle, früher ein begabter Endurofahrer, will die chinesische Rallye-Rakete unbedingt probieren, anschließend Essi, unser halb freiwilliger Tourguide, und schließlich möchte auch ich meine Erfahrungen bereichern.
Hohe Geschwindigkeiten und Drifts im Schotter
Sobald man auf Schotter Gas gibt, zeigt sich das Potenzial der 450er, die freche Drifts, Sprünge und hohe Geschwindigkeiten offroad scheinbar sicher möglich macht. Was ein Spaß, was für ein agiles, trotzdem stabiles Rallye-Gerät! Wir treiben es immer wilder, bis schließlich klar wird, dass solch jugendlicher Übermut in vorgerücktem Alter eine pikante Haltung ist, zumal wir alle bis auf unser Bewegungstalent Essi schon einige körperliche Tiefschläge von Motorrad- und Gleitschirm-Unfällen einstecken mussten. Robert funkt Yannis an: "Kann ich die Kove zurückbringen und eine CRF bekommen?" Geht klar.
Thalori: fantastische Aussicht und hochkarätige Kulinarik
Hoch oben in den Asterousia-Bergen von Kretas Süden liegt das Dorf Kapetanianá. Nicht weit davon ragt der 1.200 Meter hohe Gipfel Kófinas empor. Von hier führen zahlreiche Schotterwege zu einsamen Klöstern, Schluchten oder abgelegenen Badebuchten. Wir nächtigen im Ökoresort "Thalori", was "Berge und Meer" bedeutet und neben Ruhe sowie einer fantastischen Aussicht auch hochkarätige Kulinarik bietet. Sobald Robert mit einer taufrischen 300er wieder da ist, wird klar, dass wir vor dem Abendessen auf verwegenen Pisten noch den knapp 800 Meter tiefer gelegenen Strand aufsuchen müssen. Ist steiniger und weiter weg als gedacht, die Wassertemperatur aber bereits tolerabel. Ganz schön anstrengend, die steilen Tracks, deswegen jetzt ein Bier und den unvermeidlichen Raki: Jamas, auf 45 Jahre Freundschaft!
Erkundung auf den Schotterwegen des Asterousia-Gebirges
Haushund Subaru, ein anhänglicher Jack Russell Terrier, möchte in Roberts Bett nächtigen, der Weckruf erfolgt am nächsten Morgen durch Esel, Hähne und Kirchenglocken. Alle alten Kumpels haben hier das Gefühl, an einem inspirierenden Kraftort zu sein, wir glorifizieren unsere Jugendsünden und beschließen, noch eine Nacht zu bleiben. Aber vorher erst mal das ganze Asterousia-Gebirge und die weitere Umgebung erkunden. Kein Asphalt, denn das Netz von schmalen, alten Schotterwegen, die sich in abenteuerlichen Schleifen in die Berge und wieder herunter Richtung Meer ziehen, ist endlos und reicht für tagelange Expeditionen.
Entlang am Horizont des Libyschen Meeres
Plötzlich fährt meine gutmütige CRF ganz komisch. Im platten Hinterreifen steckt ein großer Nagel zwischen den Profilblöcken. Ausbauen, flicken? Kaum Werkzeug, kein Flickzeug. Es ist wie früher auf unseren gemeinsamen Mopedtouren: "Ich dachte, DU hättest was dabei?" Also auf einen Berg fahren, wo Netz ist, und Yannis anrufen. Nach anderthalb Stunden taucht ein Pick-up mit Aris am Steuer auf, der eine Ersatz-CRF-300-Rally dabeihat. Mehr Service geht nicht. Mehr Abenteuer schon.
Wir kraxeln an Steilhängen, am Horizont das Libysche Meer, fahren mit riesigen Gänsegeiern, Steinadlern, Bussarden oder Falken um die Wette. Oft segeln die Greifvögel unter uns, schweben ohne Flügelschlag endlos lang im Hangaufwind. Einmal kommt ein seltener Bartgeier vorbei, der dafür bekannt ist, Landschildkröten aufzunehmen, sie aus großer Höhe fallen zu lassen, um über den geborstenen Panzer an das Fleisch zu kommen.
Endlose Panoramen und Natureindrücke
Panoramen, Fahrgenüsse und Natureindrücke steigern sich immer weiter. Permanent wehen Düfte von Wildkräutern, von Thymian, Rosmarin und Lavendel in die Helme. Oft halten wir an, einfach um die Magie der Gegend aufzunehmen. Drei, vier Stunden sehen wir keinen Menschen, lediglich Ziegen und Schafe, die richtig gut klettern können. Dann kommen zwei Sportenduros entgegen. Wahrscheinlich Klienten von meinem alten Freund Achilles Kavagiozidis, der von Matala aus actionreiche Endurotrips anbietet. Wenn schon Staub schlucken, dann doch bitte unseren eigenen. Muss man denn hier so schnell fahren? (Schon sind die Sünden der Kove-Episode vergessen.)
Kurvenreiche Bergstraßen am Oros Idi
In der Nähe von Gortina kommen wir auf holpriger Piste durch eine malerische Felsenschlucht an den Strand von Tripiti, wo sich Lebenskünstler eine Bleibe geschaffen haben und das nächste archäologische Highlight nicht weit ist. Wäre das nichts, in so einem Wohnwagen alles hinter sich zu lassen, von Luft, Liebe und handgefertigtem Schmuck zu leben? Wir lassen uns lieber von den gewaltigen Bergen des Oros Idi mit dem Psiloritis ansaugen. Wie immer erreichen wir die Gebirgsregion auf schmalen, kurvenreichen Straßen, diesmal ist viel Asphalt dabei, der freche Schräglagen … zack, schon schlittert die erste Honda in den Kehrenrand. Nichts passiert, weder Körper noch Moped haben was abbekommen, doch der Schreck fährt in die Glieder. Ich hatte die Kumpels gewarnt, dass der Asphalt mitunter sehr glatt sein kann, man ihn gut lesen muss, bevor man mutig abwinkelt. Aber auch hier hat sich in all den Jahren nichts geändert, was die Wirksamkeit von Warnungen angeht.
Wir schrauben uns immer höher, Essi navigiert souverän, wir erreichen Aussichtspunkte mit 50 und mehr Kilometern Sicht. Panoramen wie aus dem Flugzeug. Kühl und einsam ist es hier oben, doch wir sind im Einklang mit uns selbst und der gewaltigen Natur. Später steigen wir mit Druck auf den Ohren über Pisten, die teilweise weggespült sind, wieder ab in niedrigere Gefilde. Was bedeutet, dass man erst auf Schotter, dann auf Asphalt 1.000 Kurven durchfahren hat. So arbeiten wir uns durch die Höhenzüge nach Westen, immer auf der Suche nach kleinsten Wegen.
Szenische Küsten und griechische Tavernen
In den Bergdörfern ist die Zeit stehen geblieben, nicht jeder Bauer kann sich einen Traktor leisten, manche arbeiten mit einem Esel. Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit, von früheren Reisen bekannte Küstenorte wie Fenix, Chora Sfakion, Preveli, Triopetra oder Agios Pavlos sind zu dieser Jahreszeit noch wenig frequentiert und ermöglichen den von ihren Abenteuern im Léfka-Ori-Gebirge verschwitzten Enduristen ehrliche Gastfreundschaft in Tavernen und immer wieder ein kühlendes Bad im Meer.
Es ist einfach wunderschön hier an dieser szenischen Südküste, keiner kann sich losreißen, doch die Uhr tickt. Auch wenn wir ganz viel nicht gesehen haben, ist die Tour doch ein Füllhorn an Erlebnissen. Fast meint man, dass Kreta nicht nur wesentliche Elemente griechischer Mythologie beheimatet, sondern auch Motorradgötter.