Sibillinischen Berge
Mamma mia! Als seien wir in einen Trainingslauf zur italienischen Superbike-Meisterschaft geraten, fliegen plötzlich pulkweise einheimische Ducs und Blades vorbei und stechen in die nächste uneinsehbare Kurve der Superstrada 396. Da bleibt der gepäckbeladenen kleinen Tiger doch fast das Fauchen im Endtopf stecken, und es wird Zeit, die nach langer Autobahnanreise noch verstöpselten Ohren endlich vom Schallschutz zu befreien. In Norcia beziehen wir Quartier für die nächsten Tage - und starten am Nachmittag sofort wieder zu einer Erkundungsrunde durch.
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Motorradreise in die Sibillinischen Berge in Italien
Italien wie aus dem Bilderbuch
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Wohin? Eigentlich egal, schön ist’s hier überall. Also gleich am ersten Abzweig der Ausschilderung nach Forsivo und Cortigno folgen. Italien wie aus dem Bilderbuch. Ein hügeliger Flickenteppich aus Äckern und Olivenhainen, dazwischen große Bauerngehöfte und immer wieder, wie Bojen auf hoher See, leuchtend gelber Ginster. In Forsivo am Kirchenportal sind die Zeiten der Gottesdienste angeschlagen, auf den Bänken vor den Häusern sonnen sich alte wie junge Dorfbewohner. Wermutstropfen in der Idylle: Mangelnde Berufsperspektiven machen für viele Ragazzi das „Hotel Mamma“ zur Zwangsunterkunft. Je nach Sicht der Dinge erinnern dann bei Cortigno in der Abendbrise wehende Gräser an das Haar anmutiger Feen - oder der Gespielinnen von Silvio B. Auch wenn die Straße sich schließlich als Sackgasse entpuppt, kann man hier überall noch offroad weiter ins Irgendwo toben.
Das Zentrum des 5000-Seelen-Städtchens Norcia bietet den Höhepunkt sibillinischen Nachtlebens. Ein Open-Air-Wohnzimmer für Italienschwärmer. In der Mitte der von Basilika, Palazzo und Kastell eingefassten Piazza eine Figur des heiligen Benedikt. Der Mönch wurde im Jahre 480 in Nursia (lateinisch für Norcia) geboren und gründete den Orden der Benediktiner. Heutzutage locken Trattorien Besucher mit weltlichen Genüssen. Norcia gilt als Trüffelhochburg, und die von örtlichen Metzgern produzierten Schweinswürste werden landesweit in sogenannten Norcinerias feilgeboten.
Statt die Prozession der Kirchgänger am Sonntagmorgen zu verlängern, pilgern wir zeitig zu einem anderen „Hochaltar“; es ist der Piano Grande, die große Ebene um Castelluccio. „Über eine steile Bergstraße, romantisch-herb, eines der höchsten und unzugänglichsten Dörfer des ganzen Apennins, von der Außenwelt abgeschnitten, ein Blumenmeer“ - so hatte der Reiseführer schon zu Hause Appetit gemacht. Manche Bücher lügen nicht. Verführerisch glitzert das sich kühn bergauf schlängelnde Asphaltband in der Morgensonne. Allenfalls mal einen Rennradfahrer gibt es da zu überholen. Nach dem Pass Forca Canapine, der Grenze zwischen den Provinzen Umbrien und Marken, eine rauschende Abfahrt Richtung Arquata del Tronto, erneut munteres Himmelwärtsstürmen via Pretare und Forca di Presta - und dann ein staunendes Ah und Oh am Piano Grande, wo die Natur auf der floralen Klaviatur ein wahres Meisterkonzert liefert: eine rote Orgie aus Klatschmohnfeldern, als habe der liebe Gott schon mal das Lackieren all der italienischen „belle macchine“ geübt. Wer’s lieber andersfarbig mag, kann die Netzhaut mit Kornblumenblau oder dem Violett von Linsenblüten füttern.
Monte Cavallo in weitem Bogen umrunden
Bunt gewürfelt auch die große Armada von Motorradfahrern, die inzwischen zum Sonntagstreff in Castelluccio eingetrudelt ist und das Nest - im Winter wohnt hier nur noch rund ein Dutzend Menschen - für ein paar Stunden überschwemmt. Zwei Dinge fallen sofort auf: Erstens - man fährt nicht nur GS, sondern zum Beispiel auch Morini Corsaro oder Guzzi Stelvio. Zweitens - die Popos der Sozias sind meist schmaler als die Hinterradreifen. Und, ach ja, drittens: Statt Pommes rot-weiß gibt es Schinken, Salami und Käse, alles frisch aufgeschnitten. So weit, so lecker. Doch die Warteschlange ist lang, wir fahren weiter und gönnen uns erst nach Passo di Gualdo, Castelsantangelo und Frontignano im hübschen Visso den Kaloriennachschub. Als gründlicher Germane vertrödelt man seine Zeit natürlich nicht und bleibt nicht ewig in der „Bar Sibilla“ hocken; stattdessen wird in weitem Bogen der Monte Cavallo umrundet, ehe wir die Rösser zum Schlussspurt über Preci zurück nach Norcia treiben. Bleiben vielleicht noch zwei Dinge anzumerken: Nicht nur bei Capri, auch bei Campi versinkt die rote Sonne im (Hügel-)Meer. Und: Es muss nicht immer Siena sein, auch Norcia hat Chancen bei der Wahl der schönsten Piazza Italiens. Aber muss ein Bier 5,20 Euro kosten?
Morgenstund ist mit angenehmer Kühle im Bund. Also statt Hotelfrühstück diesmal schon um sieben Uhr zur Bar neben der Esso-Tanke, zweites soziokulturelles Zentrum von Norcia. Ape, Alfa, Allrad - alle Arbeiter und Angestellten sind schon da, werden mit Muntermachern zuckersüß bedient von Christina und Fabio. Zwei Schokocroissants, zwei Caffè Latte und zwei Fanta gibt’s hier für sympathische 7,10 Euro.
Erinnert an die gar nicht so entfernte Toskana
Pause am Straßenrand. „Sag mal, sind das da Zitronenbäumchen?“ - „Keine Ahnung.“ - „Na ja, vielleicht sind es auch Feigen.“ Womit zumindest bewiesen wäre, dass unser Interesse nicht völlig monothematisch den hiesigen Kurven gilt. Die führen uns heute über Montegallo und Montemonaco zu einem mit Serpentinen und ausgewaschenen Bodenwellen gespickten Schottersträßchen hoch zum Monte Sibilla. Erst bekommen die bis dahin schwarzen Felgen der Tiger einen staubig-weißen Überzug, dann wir; auf dem Bänkchen vorm „Rifugio Sibilla“ ein zweites Frühstück und den Panoramablick über den Nationalpark Monti Sibillini. Höchster Berg hier ist mit 2476 Metern der Monte Vettore. Mythen umranken ihn: In einer Höhle soll die Zauberin Sibilla gehaust haben, in dem nahen Lago di Pilato die Leiche von Pontius Pilatus versenkt worden sein.
Anflug auf San Ginesio. Das Örtchen liegt, typisch für die Gegend, auf einem hügeligen Bergkamm. Erinnert an die gar nicht so entfernte Toskana. Wie auch immer: Auch San Ginesio gefällt mit einer Piazza nebst magnetisch wirkender Eisdiele. Herrscher über die erfrischenden Kreationen aus der „Bar Centrale“ sind Luca und seine Mutter Florina.
Und wer es gern staubig mag, bitte schön:
Bläulich wie die Curaçao-Soße vom vorletzten Eisbecher schimmert der Lago di Fiastra, quasi Talstation für die Auffahrt ins Skigebiet rund um Bolognola. Die weiße 800er strahlt mit ein paar Schönwetterwolken um die Wette, selbst ohne Schnee lässt es sich prima wedeln und dabei das Reifenprofil ein wenig abschmelzen. Und wer es gern staubig mag, bitte schön: Am „Rifugio La Capanna“ in Pintura zweigt ein Schottersträßchen ab Richtung Monte Amandola. Zurück geht es auf einer Kammstraße nach Arquacanina, immer schön auf Augenhöhe mit der Sonne, und dann, den Scheinwerfern folgend, nach Norcia.
Zwecks zeitigen Auftankens von Mensch und Maschine anderntags wieder zur Esso-Bar, wo Christina und Fabio uns wie alte Bekannte begrüßen. Und wo die Tochter des Tankwarts - mit ihrer dicken Hornbrille noch mitten in der Metamorphose zum Schwan - in den Schulferien Papa hilft und dabei verstohlen schon mal einem Abenteuer versprechenden Biker hinterherschielt. Sollte man als solcher mit seiner kunstgeschichtlich interessierten Holden unterwegs sein, empfiehlt sich ein Abstecher zum Castel San Maria: eine freskenverzierte Kirchenruine im Dornröschenschlaf zwischen Brombeergestrüpp.
Auch ein Besuch von Ascoli Piceno darf nicht fehlen: Die Piazza del Popolo wird gepriesen als der „vermutlich schönste Platz Mittelitaliens“. Nun ja, bei gefühlten 40 Grad heute ist kreislaufschonendes Ausruhen opportuner als touristisches Kreiselaufen, scusi. Wir beschließen eine Abkühlung in der Adria.
Hügelsurfen zwischen Monsampolo und Acquaviva Picenca
Nur 30 Kilometer Luftlinie von Ascoli entfernt liegt San Benedetto del Tronto, prominentester Badeort der Marken. Auf dem Weg dorthin noch ein bisschen Hügelsurfen zwischen Monsampolo und Acquaviva Picenca, durch eine Landschaft, in der Bauern dank zahlreicher Sonnenkollektor-Felder neben Wein auch Strom ernten. Und dann ist es da, das Meer. Hinter einem nicht sonderlich pittoresken Häusergürtel eine Adria wie aus dem Katalog: palmengesäumte Uferpromenade, Sonnenschirme, Liegestühle, Sandstrand - das ganze Programm eben. Inmitten der Flotte mit Shorts und Schläppchen ausstaffierter Rollerfahrer fühlen wir uns als schutzkleidungsgepanzerte Fernreisende leicht deplatziert und wollen bald den Rückzug in artgerechteres Terrain antreten.
Zügig via Autobahn und Schnellstraße vom Meer nach Arquata del Tronto zur Abschiedsgala: ein letztes Mal hoch zum Forca di Presta, en passant der obligatorische Gruß an die alten Herren vor der Bar in Pretare, ciao Castelluccio und Piano Grande und in Norcia dann endlich der seit Tagen ersehnte freie Tisch auf der Terrasse vor dem „Ristorante Beccofino“ mit Blick aufs Treiben rund um den heiligen Benedikt. Wer zu den „freien Interpretationen der typisch umbrischen Küche“ allerdings schon wieder Bier bestellt, ist selbst schuld. Denn er erhält einen undefinierbaren Mix aus Federweißem und Weizenbier, die dicke Flasche mit einem sibyllinischen Lächeln in einem Sektkübel serviert - und so teuer wie zu Hause ein ganzer
Kasten Gerstensaft. Mamma mia.
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Sibillinische Berge: bester Blick: Montemonaco; schönster Ort: Castelluccio; Hauptort: Norcia; höchster Berg: Vettore; Reisedauer: 4 Tage; gefahrene Strecke: 900 Kilometer.
Zwischen Toskana, Abruzzen und Adria liegt das Kalksteinmassiv der Sibillinischen Berge. Rund 20 Zweitausender und ein verschlungenes Straßennetz machen sie zum Geheimtipp für Motorradfahrer. Reizvoll sind auch diverse leichte Schotterstrecken.
Anreise:
Von beispielsweise Frankfurt am Main sind es über die mautpflichtigen Autobahnen der Schweiz und Italiens gut 1200 Kilometer bis nach Norcia; 40 Kilometer länger die alternative Strecke durch Österreich. Kommoder geht’s per Autoreisezug (www.dbautozug.de) bis Verona, ab dort bleiben nur noch 470 Kilometer selbst zu fahren.
Unterkunft:
Das Gebiet der Sibillinischen Berge hat genau die richtige Größe, um es von einem festen Quartier aus in gepäckfreien Tagesetappen zu erkunden. Fürs abendliche Après-Moto bietet sich besonders Norcia an. Außerhalb der mittelalterlichen Stadtmauer liegt das „Hotel Salicone“, Viale Umbria snc, 06046 Norcia (PG), Tel. 00 39/7 43/81 65 13, www.hotelsalicone.com, DZ ab 92 Euro. Im historischen Zentrum findet sich das „Albergo Benito“, Via Marconi 4, 06046 Norcia (PG), Tel. 00 39/7 43/ 81 66 70, www.hotelbenito.it, DZ ab 68 Euro. Oberhalb der Mohn- und Linsenfelder des Piano Grande thront das „Albergo Sibilla“, Via Pianogrande 2, 06046 Castelluccio (PG), Tel. 00 39/7 43/82 11 13, www.sibillacastelluccio.com, DZ ab 65 Euro. Mit dem Charme einer Wanderhütte lockt das „Rifugio Sibilla“, 63088 Montemonaco (AP), Tel. 00 39/7 36/85 64 22, Preise auf Anfrage, www.rifugiosibilla1540.com. Ähnlich rustikal ist das „Rifugio La Capanna“, Contrada Pintura 5, Bolognola (MC), Tel. 00 39/7 37/52 01 34, www.capannabolognola.it, DZ 50 Euro. Wahlweise Hotel oder Campingplatz bietet die „Azienda Agricola Il Collaccio“, Castelvecchio di Preci, 06047 Preci (PG), Tel. 00 39/ 7 43/66 51 08, www.ilcollaccio.com; DZ im „Hotel Locanda del Porcellino“ ab 70 Euro, Zelt und Motorrad ab 19,50 Euro.
Reisezeit:
Es herrscht mediterranes Klima mit heißen Sommern und in den Bergen schneereichen Wintern. Frühling und Herbst empfehlen sich deshalb, wieder mal, als beste Reisezeit. Juli und August erfordern Hitzeresistenz.
Aktivitäten:
Außer zum Motorradfahren eignet sich die Gegend hervorragend zum Wandern, Klettern, Radfahren, Gleitschirmfliegen. Außerdem locken viele Museen.
Literatur und Karten:
Einen Reiseführer speziell zum Thema Sibillinische Berge gibt es nicht. Ausführlich über die Region informiert aber der Band „Mittelitalien“ aus dem Michael Müller Verlag für 24,90 Euro. Eine geeignete Straßenkarte ist „Italien 8, Umbrien - Marken“ von Marco Polo im Maßstab 1:200 000 für 8,50 Euro.
Adressen:
Italienische Zentrale für Tourismus ENIT, Barckhausstraße 10, 60325 Frankfurt am Main, Tel. 0 69/23 74 34, www.enit-italia.de. Außerdem www.sibillini.net - offizielle Website (allerdings nur auf Italienisch und Englisch) des Nationalparks Sibillinische Berge