Unterwegs in Marokko
Ich kann die Piste weit ins Tal herunterverfolgen. Ringsherum hat sich die majestätische Landschaft des Hohen Atlas aufgebaut. Eine kurze Passage der Strecke ist allerdings für mich nicht einsehbar. Zwei von drei Motorrädern sind schon wieder aus dem verborgenen Teil der Piste aufgetaucht. Nur Diana mit ihrer XT will und will nicht erscheinen. Da wird doch wohl nichts passiert sein?
Die Piste durch den Cirque de Jaffar habe ich zuletzt vor vier Jahren befahren. Damals hatte ich mir die Strecke nicht alleine zugetraut und wartete auf weitere Reisende in Richtung Imilchil. Heute muss ich nicht warten, denn wir sind zu viert: Sandra auf ihrer DR 650, Guido pilotiert seine LC4 und Diana macht auf der XT 660 eine gute Figur. Jetzt taste ich mich langsam mit der Sertão vorwärts, denn die Piste wölbt sich schräg in Richtung Abgrund. Nervensache.
Als ich um die letzte Biegung komme, sehe ich Diana mit der XT am Boden liegen. Glücklicherweise liegt sie zum Hang hin und ist nicht den Abhang hinuntergestürzt. Ich wäre gerne beim Aufheben behilflich, aber so schräg, wie die Piste abfällt, ist hier noch volle Konzentration und ruhig Blut angesagt.
Schneeschmelze hat einen Teil der Strecke weggespült
Als ich bei ihr eintreffe, hat sie sich schon wieder aufgerappelt. Aber die Piste hat noch einen Trumpf im Ärmel. Die Schneeschmelze hat einen Teil der Strecke weggespült. Wir wählen eine holprige Umfahrung und müssen, um wieder auf die Originalpiste zu kommen, eine Steilauffahrt meistern. Der Sertão stirbt im zweiten Gang der Motor ab. Mit dem letzten Schwung erreiche ich die Pistenkante. Sofort signalisiere ich Diana, die Steigung mit mehr Gas hinaufzufahren. Meine Geste wird wörtlich genommen und die XT schießt meterweit über die Kante hinaus. Wie in der Zeitlupe eines Motocrossvideos legt sich die XT in der Luft schräg. Im Gegensatz zum Video kommt der Boden der stürzenden XT viel zu schnell viel zu nah. Zuerst schlägt der Alu-Koffer auf die Piste, das restliche Motorrad verschwindet in einer Staubwolke. Während ich noch Schlimmstes befürchte, krabbelt Diana lachend unter der XT hervor und grinst mich an: „Na, wie war ich?“
Einen Tag nach dem Unfall im Cirque de Jaffar stromern wir zu viert über den Heiratsmarkt, den Moussem, von Imilchil. Der Markt ist vor allem ein Fest: Ein Fest der Frauen und ein kleiner Sieg, den die ältesten Bewohner Nordafrikas feiern, weil sie sich ihre Kultur durch alle Zeiten haben bewahren können. Auch gegen die jüngsten Umwälzungen in Nordafrika. Und für viele junge Berber, die in den einsamen Siedlungen des Hohen Atlas leben, ist dies die einzige Möglichkeit, sich nach einem Lebensgefährten umzusehen. Diesmal sehen sich aber auch noch andere nach Lebenspartnern um.

Das Team eines deutschen Privatsenders begleitet vier heiratswillige Deutsche, die in Imilchil ihr Glück finden wollen. Wir sind beeindruckt von dem Mut der vier, sich auf ein neues Leben in einer fremden Kultur einzulassen, und stellen ihnen ein paar interessierte Fragen: „Wart ihr schon mal in Marokko?“ „Nö.“ „Aber ihr habt Arabisch oder einen Berberdialekt gelernt.“ „Nö.“ „Wie kommt ihr dann mit potenziellen Kandidaten ins Gespräch?“ „Sucht die Regisseurin für uns aus. Die hat einen Dolmetscher.“ Gut, wenn nicht jeder Topf einen Deckel findet.
Hinter Agoudal verzweigen sich die Wege in die berühmten Schluchten des Atlas, die Todra- und die Dades-Schlucht. Wir wählen die imposante Route über die Dades-Schlucht, die erst im letzten Abschnitt wieder asphaltiert ist. Auf dem Weg weiter nach Süden wollen wir den Jebel Sarrho queren. Die Routeninfos sind recht abenteuerlich. Aber nach unseren bisherigen Erfahrungen sind wir zumindest mental gut gewappnet, und außerdem ist keine Routenbeschreibung objektiv. Was dem einen leicht fällt, ist für den anderen eine Katastrophe und umgekehrt. Bei uns ist es umgekehrt.
Wenige grünen Flächen wirken wie grelle Farbkleckse
Ohne Hast und mit geschärften Sinnen klettern wir mit den Enduros immer höher in die schwarzfelsige Gebirgswüste. Die wenigen grünen Flächen wirken gegen die dunklen Steine wie grelle Farbkleckse. Dann baut sich eine regelrechte Felswand vor uns auf, in der es nur einen fahrzeugbreiten Durchlass gibt. Ich schlüpfe mit der Sertão als Erster hindurch und halte sofort an. Was ist das denn für ein abgedrehtes Panorama?
Vor uns liegt ein kleines Plateau, geformt wie eine Obstetagere aus den 70ern. Dahinter verschachteln sich Bergriegel und Canyons, steigen Felstürme wie im Monument Valley aus dem Talboden. Kurzer Blick auf die Uhr: drei Uhr nachmittags. Wir haben noch jede Menge Zeit zum Weiterfahren. Ein Blick in die Runde: Egal, heute bleiben wir hier. Besser geht’s nicht. Wir fahren auf die Etagere und haben den Logenplatz in dieser Landschaft, die sonst Titanen vorbehalten ist.
Erg Chebbi nur ein kleiner Sandsee
Mit dem Jebel Sarhro ist die letzte Barriere vor der Wüste des marokkanischen Südens überwunden. Die bislang moderaten Temperaturen des Hochlands ebenso. Nur mit Mühe halten die körpereigenen Klimaanlagen unsere Blutkreisläufe bei Laune. Aus den Trinkrucksäcken fließt das vorhin noch eisige Wasser als warme Brühe in die durstigen Kehlen, bis der letzte Tropfen durch ist. Mir geht der Schweiß aus. Endlich reihen sich die tiefroten Dünen des Erg Chebbi am Horizont auf.
Unter den Sandmeeren der Sahara, das Satellitenbild offenbart es schnell, ist der Erg Chebbi nur ein kleiner Sandsee. Aber seit Reisen in die großen Ergs in Algerien oder Libyen nur noch schwierig machbar bis unmöglich sind, nährt der kleine Chebbi die wehmütige Erinnerung an seine größeren Brüder. Außerdem setzt er den vielfältigen Landschaften Marokkos die sandige Krone auf. Apropos Vielfalt: In keinem anderen Land Nordafrikas scheinen die Menschen mehr unterschiedliche Lebensweisen zu pflegen. Die New Generation trägt das Smartphone in der Jeans, während gleich nebenan ein Herr, wie schon Generationen seiner Vorfahren, mit Djellaba und Holzstock über die staubige Dorfstraße stolziert. Und es gibt eine Strecke in Marokko, auf der man sich in diese vergangene Zeit zurückbeamen kann.
Kurven mit ihrem griffigen Asphalt sind superbiketauglich
Wir cruisen jetzt schon den zweiten Tag die Straße der Kasbahs entlang. Für einen Orientfilm muss hier keine Kulisse gebaut werden, alles ist schon da. Nicht umsonst wurde Ouarzazate zum Hollywood Marokkos. Die Kasbah Tamnougalt, in der die Schlussszene von „Der Himmel über der Wüste“ gedreht wurde, befindet sich noch mal 80 Kilometer südöstlich von Ouarzazate. Ein Weg, den wir leichten Herzens einschlagen. Die Kurven mit ihrem griffigen Asphalt sind superbiketauglich, die Szenerie ist vergötterungswürdig.
Von Fes zu unserem Abreisehafen in Nador führen zig Strecken. Eine der ungemütlichsten ist jene durch das Rif-Gebirge. Den vermeintlichen Malus führt sie aber nicht wegen der Straßenzustände. Nein, das Rif ist der Grund für Marokkos Spitzenplatz im Haschexport. Unglücklicherweise schienen lange Zeit die Händler auch in ordinären Vorbeireisenden potenzielle Käufer zu sehen. Ihnen eilt der Ruf, sagen wir es vorsichtig, aggressiver Verkaufspolitik voraus. Ist dem noch immer so?
Um es vorwegzunehmen: Wer auf fast 400 Kilometer ununterbrochene Kurvenorgie aus ist, wird sich auch von den paar Haschhändlern nicht unnötig im Fahrvergnügen behindern lassen. Hinter jeder Kurve fällt der Blick in ein anderes fruchtbares Tal und an jedem der zahlreichen Aussichtspunkte hält bereits jemand bewusstseinserweiterndes Rauchmaterial feil. Das braucht es hier allerdings nicht, denn die Strecke ist schon Rausch genug. Und mit dem Erreichen der Kreuzung in Ketama ist man die Herrschaften mit dem Hanf ohnehin los. Tags darauf müssen wir auf die Fähre. Ich atme tief ein und inhaliere einen letzten marokkanischen Luftzug. Nein, es ist nicht Hasch, dem ich ohnehin leicht widerstehen kann. Es ist vielmehr das Land selbst, das die Droge ist. Garantiert nicht nebenwirkungsfrei.
Weitere Infos

Anreise/Reisezeit:
Marokko kann ganzjährig bereist werden, allerdings ist der Hohe Atlas im Winter oft unpassierbar und der Süden dann nur über die Küste erreichbar. Wegen der extremen Temperaturen eignet sich der Sommer nur für besonders Hartgesottene. Frühling und Herbst dagegen versprechen einen guten Temperaturmix, sowohl im Atlas wie auch im heißen Süden. Für die Anreise nach Marokko bieten sich etliche Varianten an. Eine der günstigsten: Auf Achse zum Hafen Sète in Südfrankreich fahren (1100 Kilometer ab Köln oder München). Von dort kann man nach Tanger und Nador übersetzen. Beispiel: Grandi Navi Veloce (gnv.it) pro Person in der Vier-Bett-Außenkabine inklusive Motorrad hin und zurück für rund 300 Euro (Fährpassage 36 Stunden). Die Einreiseprozedur im neuen Hafen Tanger-Med ist erfreulich unkompliziert.
Die Strecke:
Marokko verfügt über ein gutes Fernstraßennetz mit ausreichend Tankmöglichkeiten. Große Teile der Runde kann man auch mit Straßenmotorrädern befahren. Enduros werden erst erforderlich, wenn es durch den Cirque de Jaffar von Midelt nach Imilchil, von Agoudal zur Dades-Schlucht, über den Tizi N’Taze (Jebel Sarhro) von Tinghir nach Nekob oder in die Dünen des Erg Chebbi gehen soll. Hierfür unbedingt auf geländetaugliche Pneus achten. Offroad-Erfahrung ist hilfreich, bis auf Dünenfahrten aber nicht unbedingt erforderlich. Die Offroad-Etappen sollte man nicht alleine fahren.
Übernachten:
Zum Einstieg ins orientalische Flair bietet sich das ehrwürdige Hotel Continental an. Es liegt oberhalb des alten Hafens in der Medina von Tanger. Hier stiegen schon Schriftsteller und gekrönte Häupter ab. DZ ab 635 DH (57 Euro), continental-tanger.com. Bei den Kaskaden von Ouzoud empfiehlt sich das cam pingzebra.com unter niederländischer Leitung. Paul und Renate bieten Zeltplätze und Zimmer im afrikanischen Stil an. Zeltplatz für zwei Personen ab 25 DH (2,30 Euro), DZ 200 DH (18 Euro).
Aktivitäten:
Tanger und die Königsstädte sind einen eigenen Besuch wert. Wer Sorge hat, sich im Gassengewirr zu verirren, kann sich eines Führers (mit Ausweis) bedienen. Vorher sollte man Führungsdauer und Preis festlegen. In Imilchil im Hohen Atlas findet einmal im Jahr ein großer Heiratsmarkt statt. Nebenbei haben sich ein Musikfestival und ein weitläufiger Markt etabliert. Sehenswert! Außerdem zu erwähnen ist „Ride to Roots“, ein Projekt von Eduard Lopez Arcos, einem Spanier mit guten Englischkenntnissen, der am Erg Chebbi einen internationalen Motorradreisetreffpunkt eingerichtet hat. Eduard ist in Hassi Labied rund 8 km nördlich von Merzouga (1.141520°N, 4.025124°W) zu finden: ridetoroots.com/en.
Karten/Action team:
Die Michelinkarte 742 „Marokko“ geht für 7,99 Euro mit auf die Reise. Maßstab: 1:1.000.000. Das MOTORRAD action team bietet eine spannende, organisierte Marokko-Reise an.