Der Gaul streikt. Will nicht mehr vorwärts und auch nicht zurück. Verflucht! Der Gaul heißt KTM 990 Adventure R, und eigentlich sind es die Kräfte von 115 Pferden, die aus zwei Zylindern gepumpt werden. Der Motor läuft einwandfrei. Schöne Sache, bringt momentan aber nichts, denn die Fuhre hat sich in einer mehr als spitzen Bergab-Spitzkehre doof verkantet. Da hilft kein Sporengeben, und auf gute Worte hört die wilde Maschine schon mal gar nicht.
Der Waldboden ist weich, vor dem Vorderrad tut sich ein Abgrund auf, hinten geht es mit fast 20 Prozent Steigung aufwärts. Selbst der Begriff Pfad wäre schon eine Übertreibung. Wir sind backcountry, zu gut Deutsch: querfeldein, mitten im Wald, dem Targhee Forest, inmitten der Rocky Mountains. Der brockendurchtränkte Steilanstieg hinauf ins Ungewisse fühlte sich noch gut an, die Zweizylindermaschine treckerte artig durch den mit Wurzelwerk, Nadeln und Laub bedeckten Untergrund, im Zickzack kletterten Motor-Ross und Reiter immer weiter bergauf, bis, ja bis ein riesiger umgestürzter Baum die Weiterfahrt unwiderruflich verhinderte. Also umdrehen, Ausweg finden.
Wechseltakt zwischen Highway, Country Road und Trail
Kurz zuvor rauschte ich fast in einen über zwei Meter großen Elch, der sich aber mit einem Satz ins Dickicht der Kiefern verzog. John, einer meiner Reisebuddies, bedauerte daraufhin, seine Flinte nicht dabeizuhaben. Solch ein Prachtexemplar von Elch bekäme er selten zu Gesicht, meint der passionierte Hobbyjäger. John kommt aus Idaho und mag die Wälder und Berge. Dort angelt er, fährt Geländewagen, im Winter steht er auf Skiern oder pflügt mit einem Snowmobile offpiste durch den Schnee.
John liebt Outdoor-Action und dementsprechend liebt er Enduros, am meisten Zweizylinder-Adventure-Bikes, weil er damit am besten den Wechseltakt Highway, Country Road und Trail spielen kann. John ist der Mann, der mir diesen Trip in die Rockies beschert hat. Obwohl: Beschert oder eingebrockt? Im Moment drängt eine wichtigere Frage: Wie zum Teufel komme ich hier wieder raus? Nun gut, ich wollte es nicht anders. Als ich letztes Jahr von Rumänien und Marokko berichtete, erwiderte John mit amerikanischer Unbefangenheit: „You wanna have a perfect ride? Come over to my home in Idaho, I show you the best trails. It’s just backyard.” Aha, also ab Hinterhof beginnt das Abenteuer? Das wollte ich selbst sehen.
Irgendwo im Idaho’schen Nirgendwo
Und tatsächlich. Wir starteten in Rigby, einer kleinen Stadt irgendwo im Idaho’schen Nirgendwo, umgeben von Kartoffelfeldern. Das Bild, das sich beim Rausfahren aus Rigby zeichnet, sieht so aus: unglaubliche Weite. Kilometerweites Flachland, das Snake River Plain, am Horizont sanft geschwungene Hügel, dahinter Bergketten, darüber dramatische Wolkenspiele. Bunt belaubte Wälder – es herrscht Indian Summer – durchbrechen die Monotonie der riesigen Weideflächen, auf denen Rinder grasen. Ab und zu erblickt man in der Ferne eine Farm, seltener kommt einem auf den breiten, einsamen Schottertraßen ein Pick-up mit Viehanhänger entgegen. Die Fahrer grüßen mit einem lässigen Fingertipp an ihre großen Cowboyhüte.
Wir stehen in den Rasten, dreimal KTM, einmal BMW, Minimalgepäck, Tempo 100. Dave aus Kalifornien mit typisch amerikanischer Motorrad-Vita: als Kid auf einem Minicrosser, als Teenager MX-Rennen, nach der Collegezeit sportliches Endurowandern, nun, mit 40 plus eher gemäßigtes Offroad-Touring auf Reiseenduros. Geringeres Risiko, dafür erhöhte Lagerfeuerromantik. Zusammen steuern wir auf die östliche Bergkette zu, die Pisten entwickeln sich zu Forstwegen durch dichte Douglasienwälder. Ab und zu tut sich hinter einem Busch eine Abzweigung auf, über armdicke, quer liegende Äste und fußballgroße Steinbrocken geht es dann weiter. Wenn man den Jungs folgen will, bleibt zum Zaudern keine Zeit. Also: Hahn auf!
Spürbar größere Gefahren als etwa im Westerwald
Edward, der Vierte im Bunde, reiste als New Yorker Offroadfreak ein Jahr lang hauptsächlich abseits von Asphalt durch die USA und Kanada, kreuzte mehrfach die Rocky Mountains, kennt dort fast jede Spur im Gelände und macht den Scout. An seinem Gepäckträger ist eine Seilwinde installiert wie bei einem Jeep. Die hätte ihm, solo nach Sturz in den Wäldern, ein paarmal aus der Bredouille geholfen. Manchmal musste er aber auch schon neben der Maschine campieren und hoffen, dass ihm am nächsten Tag jemand in der Wildnis zu Hilfe kommt. Oha, gerne ein anderes Mal, aber bitte nicht jetzt!

John warnte zuvor noch vor den Grizzlys. Weil mit Meister Petz nicht gut Kirschen essen sei. Schwarzbären, die es in Wyoming zuhauf gäbe, kein Problem, die seien eher umgänglich. Aber der bis zu einer halben Tonne schwere Braunbär mit Fachbegriff „Ursus arctos horribilis“ kann mit nur einem Prankenhieb des Menschen Leben schnell ein Ende machen. Immerhin leben rund 500 Exemplare im und rund um den Yellowstone und Grand Teton National Park. Genau dort, wo ich gerade bin. Zum ersten Mal in meiner pazifistischen Karriere wünsche ich mir eine Knarre, kann sogar die verrückten Amis mit ihrem Waffenhau verstehen. Hier in den Rockies lebt immer noch viel Wilder Westen, und auch wenn keine „Rothäute“ nach dem Skalp trachten, lauern in dieser Wildnis spürbar größere Gefahren als etwa im Westerwald oder Saarland.
Idaho und Wyoming, beide jeweils so groß wie die alte Bundesrepublik, gehören zu den dünn besiedelten Bundesstaaten der USA mit nur sieben beziehungsweise zwei Einwohnern pro Quadratkilometer. Um 1880 haben hier gerade mal 30 000 Menschen gelebt. Die meisten Pioniere zogen weiter an die verheißungsvolle Pazifikküste nach Kalifornien. Auf dem Weg dorthin ging es nicht gerade zimperlich zu: Wild-West-Legenden und Revolverhelden wie Buffalo Bill oder „Wild Bill“ Hickock jagten professionell Bison-Büffel, entzogen damit den Indianern ihre Lebensgrundlage. Es entbrannten bittere Kämpfe zwischen Cheyenne-Indianern und der US-Armee – die Ur-Bevölkerung zog dabei bekanntermaßen den Kürzeren. Die Bisons, die man heutzutage entdeckt, werden hingegen nur noch von den Kameras der Touristen abgeschossen.
Erschlagend schöne Naturkulisse
Endlich höre ich ein Motorengeräusch, das muss John sein, denn Dave und Edward bogen auf der Suche nach dem Eingang zum Yellowstone National Park zuvor schon in eine andere Richtung ab. Zu zweit wuchten wir die 230 Kilo schwere KTM ein paar Meter bergauf, sodass sie besser die Kurve kriegen kann. Es gelingt. Yeah, high five und schnell weiter zum Treffpunkt mit den anderen beiden. Ein Farmer berichtete, dass wegen des Government Shutdown, einer Art Regierungsstreik, der reguläre Parkeingang gesperrt sei, wir uns also auf anderem Weg durchmogeln müssen. Denn Umkehren ist nicht drin, die letzte Tankstelle liegt über 150 Kilometer zurück, es dämmert schon.
Wir treffen Dave und Edward an einem Stausee, und sie haben nun zum Glück den Überblick. Es geht raus aus dem Wald und wieder rein, wir reiten über hohe Bodenwellen, die dicken Maschinen legen jedes Mal launige Hüpferchen von zwei, drei Metern hin, pflügen durch tiefe Pfützen sodass es nur so spritzt – herrlich, wow, Wahnsinn! –, eine schier unendliche Achterbahn vor erschlagend schöner Naturkulisse. John hatte nicht übertrieben mit dem Begriff „a perfect ride“. Weiter geht es auf einer extrem planen Straße aus gestampfter Erde, die dünn mit feinem Rollsplit überzogen ist. Edward warnt: „It’s slippery!“ Und prescht vor.

Er kennt die Strecke und driftet in weiten Slides stehend durch die Kurve. Gegenverkehr? Gibt es nicht. Hierhin verirrt sich anscheinend niemand – ich fühle mich wie Alice im Motorrad-Wunderland. Durchfahrt Yellowstone National Park, weiter nach Süden, rechts bäumt sich in der Abendsonne der gut 4200 Meter hohe Gipfel des Grand Teton auf. Am Fuß des Berges liegt eine gemütliche Holzhütte als Nachtlager. Wir binden die Bikes vor der Hütte an, bestellen im Saloon handgedengelte Riesenburger sowie eine überbordende Schüssel mit frittierten Zwiebelringen und verfolgen im Fernsehen bei Dosenbier und Chips ein Baseballspiel. Kurz darauf: tiefer Schlaf.
Morgens verbaut unerwarteter Schnee die eigentliche Route zu verlassenen Silberminen im Westen Idahos. Pässe über 2000 Meter mit Motorrädern? No way! Also Planänderung. Nach Süden an die Grenze zu Utah, dort soll die Sonne scheinen. Dröges Kilometerreißen auf dem Highway, nach zwei Stunden setzt Edward jedoch den Blinker und zeigt auf eine Hügelkette. Dahinter, sagt er, verlaufe der alte Oregon-Trail, eine Country Road, auf dem im vorletzten Jahrhundert die Siedler mit ihren Trecks gen Westen gezogen seien. Heutzutage sei das beinahe unbewohntes Niemandsland, und er möchte uns gerne eine abgelegene Geisterstadt zeigen.
Wir cruisen offroad über Wiesen und Felder mitten durch Cowboy-Weideland in Caribou County nach Chesterfield. Verfallene Backsteinhäuser, teilweise noch eingerichtet mit kunstvoll geschnitzten Tischen und Schaukelstühlen, antike Landgeräte, rostige Windräder und verrottete Weidezäune charakterisieren die verlassene Siedlung. Eine morbide Stimmung liegt über diesem Ort, gleichzeitig weht ein eisiger Wind über die Grasflächen, und dunkle Wolken ziehen auf. Also besser sofort aufsatteln, und, yeehaw, ab durch die Mitte gen Horizont.
Country Roads, don’t take us home
Vorbei an einem Camp mit Cowboys, die mit modernen Caravans ein Wagenlager bilden. John erzählt, dass die Kuhhirten von heute oftmals im Hochland von Peru oder Bolivien angeheuert werden. Weil die wettergegerbten Männer Kälte und Wind gewohnt seien – und weil die Südamerikaner für ein paar Dollar die Stunde diesen Knochenjob ohne Murren erledigen. Denn es ist eine knallharte Arbeit, besonders, weil man im Hinterland mit der Herde komplett auf sich allein gestellt ist und häufiger in einfachen, improvisierten Folienverschlag-Nachtcamps zurechtkommen muss. Lagerfeuer, Bohnen, Whiskey, Mundharmonika? Naive, romantische Vorstellungen, trotzdem: Die Männer mit den Cowboyhüten auf ihren rassigen Pferden besitzen eine Strahlkraft aus einer vergangenen Zeit, dem Amerika der Westernfilme aus der Kindheit.
Gekieste Spuren führen zurück auf eine asphaltierte Landstraße entlang einer Bahnlinie. Mit lautem Tüten poltert ein kilometerlanger Güterzug auf den Gleisen – wir sind zurück in der Zivilisation. Die Etappe endet in Lava Springs, das wegen über 40 Grad heißer Naturbadebecken als beliebtes Ausflugsziel im ansonsten touristisch eher unbeleckten Idaho gilt. Verfroren und mit leichtem Muskelkater vom Geländefahren schwingen wir uns von den Maschinen herunter. Das heiße, leicht sprudelnde Quellwasser ist zauberhaft, hier jemals wieder raus? Am liebsten niemals.
Edward, Dave und John schmieden Tourenpläne für die folgenden Tage. Wenn das Wetter sich bessern sollte, dann vielleicht entlang des Snake Rivers nach Nordwesten und über hoffentlich nicht mehr verschneite Höhenzüge der Rockies? Oder zurück nach Jackson Hole in Wyoming, dort gäbe es noch einige versteckte endurotaugliche Pfade in den dichten Wäldern, wo sich neben Fuchs und Hase auch Bär und Puma Gute Nacht sagen. Über eines ist sich die kleine Reise-Enduristengruppe einig: Country Roads, don’t take us home! Jedenfalls bitte jetzt noch nicht.
Infos zu Reise und Veranstalter

Die kleine US-amerikanische Firma Klim (ausgesprochen: „Kleim“ als Abwandlung von „climb“/klettern) startete 1994 unter der Führung von Justin Summers. Zunächst mit Funktionsbekleidung für Skilehrer und Bergretter aus verschiedenen Ski-Ressorts in Utah, bevor man in Rigby/Idaho einen zentralen Firmensitz (Bild ganz oben) errichtete. Als Snowmobil-Enthusiasten verlegten die Gründer ab 1999 ihren Fokus auf die Entwicklung von Fahrerausrüstungen. Seit 2004 ist Endurobekleidung im Programm, mit der sich Klim auf dem gesamtamerikanischen Markt als Spezialist etablieren konnte, seit 2010 auch verstärkt in Europa.
Viele der gut 120 Angestellten sind selbst Motorrad- und/oder Snowmobilfahrer. Der Firmenstandort Rigby, umgeben von mehreren Gebirgszügen, ist ein idealer Ausgangspunkt für Adventure Riding, also Endurowandern – die dortige Tankstelle bietet sogar Rennbenzin an. Wer eine ähnliche Reise plant, bekommt bei nettem Anschreiben per E-Mail Insidertipps von den Offroadprofis vor Ort unter reiseinfo@klim.com.
Infos
Anders als etwa Kalifornien oder Florida sind Idaho und Wyoming als US-Reiseziele eher ungewöhnlich. Das ist gut so, denn als Motorradfahrer betritt man häufig touristisches Neuland.
Anreise
Mit dem Flugzeug kann man ab Frankfurt/Main via Chicago oder Denver nach Jackson Hole mit kleiner Verkehrsmaschine weiterfliegen. Oder als Ziel die kleine Stadt Idaho Falls wählen, die in der Nähe von Rigby liegt. Diese Verbindungen sind mitunter aber teuer (über 2000 Euro fürs Retourticket). Einfacher ist wohl die Anreise über das mit Auto/Motorrad ca. 3,5 Std. entfernte Salt Lake City/Utah. Flüge dorthin liegen bei rund 1000 Euro.
Mietmaschinen
Jackson Hole Adventure Rental, Telefon 0 01/8 77/7 73 56 78, www.jhadventure.com, in Jackson Hole/Wyoming vermieten Snowmobile, ATVs und BMW-Reiseenduros ab gut 100 Euro/Tag. Eagle Rider in Salt Lake City/Utah, Telefon 0 01/8 01/4 33 18 00, www.eaglerider.com, bietet selten Geländemaschinen, sondern eher Tourenmotorräder von BMW, Harley und Triumph an.
Reisezeit
Am empfehlenswertesten ist der September. Dann entfaltet der Indian Summer in Idaho und Wyoming eine schöne Farbenpracht, und das Klima ist mild. Ab Oktober können in Hochlagen Schlechtwetterfronten mit Regen, kalten Winden und plötzlichen Schneefällen Motorradtouren zu einer echten Herausforderung werden lassen. In den Hochsommermonaten Juli und August sind – ähnlich wie in Skandinavien – die jahreszeittypisch auftretenden Mückenschwärme sehr lästig bei Outdoor-Aktivitäten. Mai und Juni gelten als gute Reisezeit. In der langen kalten Jahreszeit (November bis März) wären Snowmobiltouren eine Alternative zum Motorradfahren.
Motorradfahren
Auf dem Highway ist die Hölle los? Von wegen. Durch beide Bundesstaaten verlaufen relativ wenige Interstates. Zu fast allen größeren Orten und Ansiedlungen führen aber asphaltierte Landstraßen in überwiegend guter Qualität. Abgelegene Gegen-
den sind häufig nur über Trassen aus gestampfter Erde und Schotter und landwirtschaftliche Wirtschaftswege zu erreichen. Theoretisch mit normalen Tourenmotorrädern, praktisch aber besser mit Enduros. Gute Stollenreifen benötigt man dringend, wenn man abseits von der Zivilisation Forstwege, Pfade und naturbelassene Bergsträßchen entdecken und befahren möchte.
Übernachten
In Jackson Hole/Wyoming: „Rustic Inn“ (www.rusticinnatjh.com). Am Grand Teton: die „Signal Mountain Lodge“ (www.signalmountainlodge.com, ab ca. 100 Euro/Nacht) mit Seeblick. In Idaho liegt in direkter Nähe zum Yellowstone National Park und Targ-
hee Forest der Island Park mit der „Pond’s Lodge“ (www.pondslodge.com, ab ca. 60 Euro/Nacht). Unterkunft in Lava Hot Springs: www.lavahotspringsinn.com. Für das ganz große Abenteuer mit Zelt im Gepäck und ohne Furcht vor Bären: Wildcampen ist außerhalb von Naturschutzgebieten fast überall möglich.
Sehenswert
Im Grenzgebiet Idaho/Wyoming beeindrucken die spektakulären Nationalparks Yellowstone und Grand Teton mit Hochgebirgskulisse, Geysiren und großem Wildtierbestand (Bären, Bisons, Elche, Pumas, Wölfe etc.). Die heißen Quellen von Lava Springs bei Pocatello/Idaho lassen sich gut mit einer Weiterfahrt entlang des Snake Rivers zu den „Craters of the Moon“, einem gigantischen Lavafeld, und zu den Shoshone-Wasserfällen verbinden. Die 400 Meter breite und 500 Meter tiefe Schlucht wollte 1974 Motorradstunt-Legende Evel Knievel überspringen – übrigens erfolglos, also bitte nicht nachahmen!