"Deutschlands bizarre Monster aus der Kaiserzeit", so wirbt die Deutsche Fährstraße, die auf ihrer Website reißerisch die beiden einzigen Schwebefähren Deutschlands anpreist. Die technischen Fossile, nominiert für das Weltkulturerbe der UNESCO, spicken zusammen mit diversen anderen "Gewässerquerungshilfen" die 250 Kilometer lange Route zwischen Kiel und Bremervörde und versprechen ein ganz besonderes "Fährgnügen". Dass dieses im flachen und kurvenarmen Norden der Republik an Bord eines kommoden Reisedampfers à la Kawasaki Voyager größer ist als im Sattel einer Ninja, versteht sich von selbst.
"Wart ihr auf der 'Aida'? Die nehmen auch Motorräder mit"
"Wart ihr auf der 'Aida'? Die nehmen auch Motorräder mit", fragt uns ein Taxifahrer, als wir eine Runde am Kieler Ostseekai drehen und dabei unvermittelt vor der spitzen Nase des Kreuzfahrers "Aida Cara" stehen. Ein paar Schiffslängen weiter hat gerade die "Stena Scandinavica" festgemacht und spuckt ihre automobile Fracht an Land. Star des schwimmenden Ensembles ist heute aber der ganz am Ende der Kieler Förde ankernde Solarkatamaran "Turanor PlanetSolar", eine futuristische Flunder, mit der in Rekordzeit die Welt umrundet werden soll.
Der ganze Vormittag ließe sich so mit Schiffeschauen verbringen – und dabei ist das Studium der Hörnbrücke, einer sich bei Bedarf akrobatisch zusammenfaltenden Dreifeld-Zug-Klapp-Brücke, ebenso wenig eingerechnet wie der Besuch des Schifffahrtsmuseums mit seinem Modell des ältesten U-Bootes der Welt. Doch viel Sehenswertes wartet sicher auch noch im weiteren Verlauf der Strecke, und so lautet das Kommando: Leinen los!
40.000 Schiffe nutzen Nord-Ostsee-Kanal
Yachthafen und Marinestützpunkt passierend, navigieren wir raus aus Kiel zum Aussichtspunkt "Kanalfeuer" beim Gut Knoop, wo wie ein ungleiches Zwillingspärchen die Levensauer Kanalbrücken aus den bewaldeten Uferhängen treten. Hinweisschilder auf die Fährstraße sind nicht zu entdecken – eine gute Schule fürs Orientierungsvermögen bzw. Lesen der Karte, auf der die Route gepunktet markiert ist. Diese mäandert im ersten Abschnitt quer durch Schleswig-Holstein, wobei es immer wieder zum Rendezvous mit dem Nord-Ostsee-Kanal alias NOK kommt. Mehr als 40.000 Schiffe nutzen jährlich die künstliche Wasserstraße: Weltrekord. Wären unsere Arme lang genug, könnte man die Schiffsrümpfe fast streicheln. Und während sich die "Le Boreal" wie ein Charolais-Rind durch die Wiesen schiebt und im Bordrestaurant der Mega-Yacht französische Leckerchen gereicht werden, beschert uns der "Lindenkrug" in Großkönigsförde eine Begegnung mit der deftigen örtlichen Küche.
Schwebefähre in Rendsburg
Drunter und drüber geht es dann in Rendsburg. Denn: Tunnel oder Fähre – das ist diesmal keine faire Frage, wird hier doch der NOK von der "horizontalen Schwester des Eiffelturms" (Zitat Bürgermeister Breitner) überspannt, einer imposanten Eisenbahnhochbrücke, unter der wiederum eine Schwebefähre hängt. Das bizarre Monster, wir erinnern uns, gondelt alle Viertelstunde ein paar Meter über dem Wasser von Ufer zu Ufer; wer will da schon alternativ den schnöden Tunnel der B 77 nutzen?
Breiholz, Tackelsdorf Nord, Bokelhoop, Bokhorst. Unterwegs ein Schild: Scheinwerfer abblenden, die Kanalschifffahrt wird sonst geblendet. 2000 Umdrehungen, 50 Knoten. Ruhig wie ein Holsteiner Wallach zieht der Cruiser seine Bahn. Einziges Manko: Die Stereoanlage klingt etwas schlapp. Was zu erwähnen keinesfalls abwegig ist, tangiert die Route doch auch das alljährlich zum Metal-Mekka mutierende Wacken.
Überfahrt mit der Kettenfähre
Voll auf ihre Kosten kommen Fährfans in Fischerhütte. Wie ein gestrandeter Wal steht dort aufgebockt die "SF 80", die letzte aktive Kettenfähre des Kanals. Als Kind habe er bei Nebel immer Schiss gehabt, die Kette würde reißen und die dann haltlos zwischen den Ufern treibende Fähre von einem plötzlich auftauchenden großen Pott versenkt, erzählt uns ein nicht mehr ganz jugendlicher R 45-Fahrer. Gelegenheit zum Schnack gibt es auf den NOK-Fähren allerdings nur selten: Das Übersetzen dauert keine zwei Minuten, das Personal rekrutiert sich unüberhörbar aus den größten Schweigern des Nordens.
Tiefste Landstelle Deutschlands
Südlich von Albersdorf bieten sich dann auch gleich fünf Möglichkeiten zum ehrfurchtsvollen Verstummen. Während Hochbrücken bei Grünental, Hohenhörn, Hochdonn und Brunsbüttel die Wolken kitzeln, dabei selbst stets in Gefahr, von den sie unterquerenden Ozeanriesen gepiesackt zu werden, kontert Neuendorf mit der tiefsten Landstelle Deutschlands: 3,54 Meter unter Normalnull. Und manchmal kann man nur staunen, wie der Mensch versucht, den übermächtigen Gegner Wasser in den Griff zu bekommen: In Brunsbüttel etwa schotten gewaltige Schleusen den NOK gegen die Elbe ab, an der B 431 zeigt das Störsperrwerk dem Blanken Hans die Rote Karte, schirmt das Hinterland vor der stürmischen Nordsee ab.
Glückstadt: Fähre nach Wischhafen
Weiter geht’s nach Glückstadt, wo schon die Fähre nach Wischhafen wartet. Hoffentlich, denn im Halbstundentakt pendelt der Verkehr über die Elbe, 25 Minuten dauert der Spaß auf Fähren im klassischen Henkelkörbchen-Design. Nach Überquerung der Elbe scheint die Welt eine andere zu sein. Was nicht am Wechsel von Schleswig-Holstein zu Niedersachsen liegt, sondern an der Oste. Das unbegradigte Flüsschen – bitte mit langem O – schlingert wie eine angeschickerte Dorfschönheit durch fruchtbare Marschen, sicherheitshalber in die Arme genommen von Deichen und immer wieder mal galant begleitet von der Deutschen Fährstraße. Sogar eine Ausschilderung hat man hier der Route spendiert, und die Streckenführung kann durchaus zum gewagten Hüftschwung mit der dicken Kawa animieren.
Plattbodenschiff "Die seven Seelanden"
Fette Luxusliner und Containerschiffe gibt’s zwar keine mehr, dafür aber im historischen Hafen von Neuhaus zum Beispiel "Die seven Seelanden". Am Mast des hölzernen Plattbodenschiffs flattert fröhlich die St.-Pauli-Totenkopfflagge, und auch der weißbärtige Käpt’n ist kein Kind von Traurigkeit. "Nur 1.000 Euro für einen Staffordshire", lobt er aus heiterem Himmel die Dortmunder Kampfhundeverordnung. Seemansgarn? Was sonst noch so alles hinterm Deich geschieht, lässt sich in Neuhaus prima bei einer Kaffeepause im Gasthaus "Zum Nothafen" eruieren; weitere Aufklärung verspricht eine Nacht im Landgasthof "Achtern Diek".
Nichts gegen das Ostesperrwerk und die benachbarte Vogelbeobachtungsstation "Natureum Niederelbe", aber was ist das verglichen mit dem, was Osten zu bieten hat? Wie das Skelett eines riesigen Brückosaurus spannt sich über die Oste ein stählernes Gerippe, an dem, wir ahnen es, eine Schwebefähre hängt. Nach Rendsburg das zweite bizarre Monster aus der Kaiserzeit. Weltweit sind nur noch acht solcher Exemplare erhalten – als Modelle aufgestellt in der Gaststube des Ostener "Fährkrugs". Kaum vorstellbar, wie hier einst der Laden brummte.
Mit der Schwebefähre über die Oste
Unabhängig von Eisgang und anderen Widrigkeiten rackerte die 1909 erbaute Schwebefähre im Dreischichtbetrieb rund um die Uhr. Für die Inhaber von Fähr- und Schankrecht die Lizenz zum Gelddrucken. Horst Ahlf, Chef im "Fährkrug" und gut bekannt mit Ex-Kanzler Schröder und Ex-Minister Wulff sowie dem spanischen König, internationaler Schirmherr der Schwebefähren, erzählt gegebenenfalls von den goldenen Zeiten. Diese endeten 1974 mit dem Bau einer Brücke. Heute kann man nur noch als Fußgänger in der froschgrünen Gondel über die Oste schweben. Es sei denn, Werner Funk, ehemals Kapitän auf kleiner Fahrt, jetzt als ehrenamtlicher Schwebefährmann auf ganz kleiner, drückt für Motorradfahrer und deren Untersatz ein Auge zu. In unserem Fall sehr zur Freude der Seniorenfreizeit Nümbrecht, aus deren Kreis eine gewisse Hannelore mit dem bequemen Sozia-Fauteuil der Voyager liebäugelt.
Staatlich anerkannter Erholungsort Bremervörde
Ein schmales Superschnuckelsträßchen schlängelt sich direkt am Ostedeich entlang nach Großenwörden. Tuck-Tuck-Tuck. Wären die Kühe oben auf dem Deich blind, könnten sie die 1.700er mit dem V2 glatt für ein Motorboot halten – oder gar für die bereits 1872 vom Stapel gelaufene "Mocambo", das älteste Fahrgastschiff Deutschlands, das nach langer Odyssee nun über die Oste schippert.
Vorbei an den Prahmfähren von Brobergen und Gräpel, beides alte Hasen in Sachen Uferhopping, laufen wir im staatlich anerkannten Erholungsort Bremervörde ein. Dort endet – oder beginnt – die Deutsche Fährstraße an der Stelle, die der Stadt ihren Namen gab und wo man früher die Oste auf simpelste Weise querte: durch eine Furt bzw. Vörde.