Motorradtouren durch Deutschland: Nordrhein-Westfalen
Mit dem Motorrad quer durch Nordrhein-Westfalen

Großstädte, Großindustrie, Großautobahnen. Wer nur diese Stereotypen im Kopf hat, wenn es um Nordrhein-Westfalen geht, verpasst was. Dirk Schäfer zeigt auf der zweiten Etappe des Deutschland-Marathons, warum - und liefert damit auch Besuchern der Intermot in Köln Anregungen für würzige Messe-Fluchten.

Mit dem Motorrad quer durch Nordrhein-Westfalen
Foto: Schäfer

Wissen Sie noch, was ein Fluxkompensator ist? Der Kasten aus „Zurück in die Zukunft“, mit dem man durch die Zeit reisen kann. Ich habe das Ding mit an Bord. Glaube ich zumindest. Zum Radio-teleskop Effelsberg sollte mein Weg führen. Einer Salatschüssel mit 100 Metern Durchmesser, der kein Pups zwischen hier und dem Tellerrand des Universums entgeht. Aber ich muss um Jahrzehnte zurückgeworfen worden sein. Denn wo ich gerade angehalten habe, ist von der Salatschüssel gerade mal eine Kaffeetasse übrig geblieben. Das ganze Ding sieht aus, als sei es Mister Spocks Kindertagen entsprungen. Und das alles mitten in der Eifel. Da stimmt doch was nicht!

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Der Fluxkompensator ist schnell entlarvt. Mit dem harmlosen Kürzel GPS prangt die Zeitmaschine am Lenker der Triumph. Gut, ich räume ein, dass der Zeitsprung auch durch eine Fehlbedienung meines GPS-Kompensators herbeigeführt worden sein könnte. Wer ahnt denn schon, dass die Eifel mit interstellaren Horchposten vollgestellt ist? Wenn da „Teleskop“ in der Adresszeile steht… Auf der anderen Seite ist das Mini-Teleskop, das auf den Namen Astropeiler hört, vielleicht sogar schmucker als das Riesenteil aus der Nachbarschaft. Zur 100-Meter-Schüssel wird man jedenfalls nicht mit dem Bike vorgelassen.

Angefeuert von diesem Zufallsfund, zünde ich das dreistrahlige Triebwerk der Street Triple. Kurs Rhein. Eine Stunde und zahllose Eifelkurven später starren milchige Wolken über den Fluss. Unter dem farblosen Himmel windet sich der sonst so pittoreske Drachenfels wie ein Drache mit Bauchschmerzen. Die Fähre entlässt uns auf die „Schäl Sick“, jene Seite des Rheins, auf der zu römischen Zeiten die Germanen hausten. Aber jetzt duckt sich ein immer winkligeres Sträßchen hinter Bad Honnef unter dichten Wald. Der Himmel ist fürs Erste abgemeldet, flotte Gangart auch. Zahlen mit roten Kringeln am Wegesrand diktieren das Tempo. Eigentlich gar nicht mal schlecht. Lockeres Einschwingen für die nächste Etappe. Ich weiß auch schon, was da auf mich wartet. Das Bergische Land. Heimatrevier. Fluxkompensator und GPS ade! Außerdem zwei Fahrensfreunde: Andy und Bernd, Letzterer aus Hamburg.

Die himmlische Milchbrühe hat sich verzogen. Wir fahren der Nase nach und wie uns der Schnabel gewachsen ist. Links, rechts, links. Hohkeppel, Thier, Gimborn. Zappelige Landstraßen, sommergrüne Kuppen. Nordrhein-Westfalen ist das Industrieland der Republik. Welche Industrie? Hier im Hinterzimmer von Köln und Ruhrgebiet bleibt davon nicht mehr als die Ahnung einer fernen Wirklichkeit. Kurze Kaffeepause an einer der zig Bergischen Talsperren. Bernds hanseatisches Gesicht legt sich in grinsende Falten. „Dos hätt ech jo nich gedocht. Dos ihr dos hier sou schöein hobt.“ „Warst du mal im Sauerland? Rothaargebirge?“ „Neei.“ „Ja dann geht’s gleich noch besser ab!“

Schäfer
Als gutes deutsches Bundesland hat auch NRW feinstes Fachwerk im Programm. Hier ein Juwel in Höxter.

Vorher drehen wir in einem großen Bogen wieder nach Süden ab. Von Ruppichteroth ins Siegtal. Zehn Kilometer ohne Ort, ohne große Kreuzung durchs asphaltierte Unterholz. Ich pfeife mit dem Dreizylinder voran, Andy folgt mit der bärigen Nuda, und Bernds GS im Weltreisetrimm schaukelt wie ein motorisierter Hinkelstein hinterher. Ich bin schon lange nicht mehr hier gewesen. Offenbar zu lange. Sonst hätte ich’s wissen müssen: Die smarte Bundesstraße 256 ist Richtung Waldbröl am Wochenende für Motorräder dicht. Wenige Meter später steigt eine schrullige Umleitung in gleicher Richtung den Berg hinauf. Gar nicht so schlecht, dieser Ersatzpfad!

„Weissu, wassas hier is?“, Bernd zeigt immer wieder auf die Speisekarte. Gerade sind wir in einem Gasthof zwischen Lister- und Biggesee eingekehrt. Vermutlich wären wir noch weiter gekurvt, wenn nicht die Mägen aufs Abendessen gepocht hätten. Und da sieht sich Bernd vor einem kulinarischen Rätsel: „Was issen Potthucke?“ Die Wirtin klärt auf: Kartoffelteig mit Wurstfüllung. Weil der Teig oft im Topf, dem Pott, hocken bleibt, heißt das ganze Potthucke.

Mit einem verspäteten Hahnenschrei stechen wir ins morgendliche Sauerland. Fachwerkidylle, gepflegte Dorfplätze, Land der 1000 Kurven. Ich meine ja, dass es mehr Kurven sind. Na, das werden wir gleich mal checken. Rauf zum ersten Highlight, zur Hohen Bracht. Ich bin schon bei 15 Kurven. Runter nach Lennestadt. 25. Hinter Oberhundem verhasple ich mich das erste Mal. Die fetzigen Serpentinen fordern 100 Prozent meines bescheidenen Hirns. 38? Oder doch 40? Ach komm, werden schon 40 gewesen sein. Ortseingang Bad Laasphe.

Wie spricht man das eigentlich aus? Lahspe oder Lahsfe? Äh, Moment! Wie viele Kurven hatte ich gezählt? Bad Laasphe ist für uns der Point of Return. Nur ein paar Meter noch, dann wären wir in Hessen. Dahin führt der Deutschland-Marathon aber erst in Etappe elf, und hier in NRW haben wir noch jede Menge zu erledigen. Kahler Asten, Weserbergland … hei der Zack! Gleich ist es schon drei, und wir sind kaum vorwärtsgekommen. Doch dafür war der Spaß bis jetzt umso fetter. Schluss mit lustig war im Sauerland allerdings im Januar 2007. Der Orkan Kyrill nietete hier so viel Holz um, dass die Förster für den Abtransport eine Lkw-Kolonne vom Nordkap bis nach Kapstadt gebraucht hätten. So blieb das Holz liegen, und die Schneisen des Sturms sind bis heute sichtbar. Aber das soll auch Vorteile haben. Sagt uns ein Einheimischer. „Manche halten uns für Hinterwäldler, weil es hier so unwegsam ist. Das ist natürlich Unsinn. Wir wussten schon immer, was in der Welt passiert. Wir konnten es nur nicht sehen.“ Tatsächlich bietet sich heute aufgrund des Kahlschlags manches Panorama, das über Jahrhunderte schlicht nicht exis-tierte. Nicht nur vom Kahlen Asten, dem zweithöchsten Berg Nord-rhein-Westfalens. Den höchsten, den Langenberg, will eigentlich kaum jemand kennen. Er sieht einfach langweiliger aus, ist nur 1,3 Meter höher und viel weiter von Winterberg, dem Zentrum der Après-Biker und Abfahrtssäufer, entfernt.

Schäfer
Die tausendste Kurve im Sauerland hinter Oberhundem.

Die Wogen der 1000 offiziellen Kurven klingen hinter uns aus, und die eher inoffiziellen des Teutoburger Waldes beginnen. Irgendwo hier hat Hermann, der alte Cherusker, die Römer derart vermöbelt, dass ihnen die Lust auf Germanien erst mal gründlich vergällt war. Wo die Prügelei tatsächlich stattgefunden hat, darum kloppen sich bis heute die Fachleute. Ein Fluxkompensator könnte helfen. Mal eben 2003 Jahre zurück, und wir wüssten Bescheid.

Streitbar ist man hier bis heute. Die letzten Meter durchs nordrhein-westfälische Hinterland führen uns auf den Köterberg. Schon von Weitem sichtbar prangt ein Fernmeldeturm über dem Horizont. In seinem Schatten scharen sich Supersportler, Cruiser, Enduristi, einfach alles, was zwei Räder und einen Motor hat. Zum Leidwesen der Dorfbewohner gleich unterhalb des Treffs. Mehrere am Köterberghaus aufgehängte Zeitungsartikel widmen sich dem bisweilen absurden Ringen um den Berg. Ich reiße mich von den Zetteln los und drehe mich zu Andy um. Der sitzt entspannt auf einer der hölzernen Barrieren, lässt warmen Sprudel durch die Kehle rinnen und schaut nach Osten. Windkraftanlagen, irgendwo weiter unten die Weser, und in der Ferne flirrt der Harz. Ein Sommer, wie er sein soll. Eine Tour, wie sie im Buche steht. Und dahinten geht’s weiter.

Infos

Werel
Reisedauer: 3 Tage. Gefahrene Strecke: 560 Kilometer.

Anreise/Reisezeit
Nordrhein-Westfalen (NRW) ist Deutschlands bevölkerungsreichs-tes Bundesland und Nummer vier, was die Fläche angeht. Zwischen Stuttgart und der NRW-Landesgrenze versammeln sich 320 Kilometer auf dem Tacho, von Hamburg aus sind es 230 Kilometer. Startpunkt der Etappe durch NRW ist Schönau, südlich von Bad Müns-tereifel. Die nächste Autobahn ist die A1, Ausfahrt Blankenheim. Wer beispielsweise durch Rheinland-Pfalz anreist, erreicht Schönau von Wershofen über Hümmel. Einschränkungen der Reisezeit setzen am ehesten die Mittelgebirgsregionen Eifel, Sieger- und Sauerland. Im Frühjahr und Spätherbst muss mit empfindlich niedrigen Temperaturen gerechnet werden. Regenklamotten gehören auf jeden Fall ins Gepäck. Bei aller Schönheit und fahrerischen Attraktivität gehören die Mittelgebirge zu den regenintensiven Landesteilen.

Die Strecke
Ja, daran hat man schon was zu knabbern: Stramme 560 Kilometerchen addieren sich in NRW auf. Die Bandbreite reicht von softem Cruisen im Rheinland bis zu den alpinen Kehren am Rhein-Weser-Turm. Dazwischen locken Eifelausläufer und schnalzige Highlights im Bergischen Land, dem Sieger- und Sauerland sowie im Teutoburger Wald. Das ist der perfekte Mix aus Action und Entspannung.

Übernachten
Zwischen Bigge- und Listersee wurden wir bei Martin Lütticke im „Landhotel Haus Dumicketal“ bes-tens versorgt. Martin treibt seine GS zum Nordkap oder an die Ardèche und hält jede Menge Tipps bereit. Die Preise beginnen bei 42,50 Euro pro Person im Doppelzimmer mit Frühstück, www.hausdumicketal.de

In Höxter bietet das „Hotel Nieder-sachsen“ stylishen Komfort ab 80 Euro im Einzelzimmer. Die Bikes ruhen in der hoteleigenen Tiefgarage, www.hotelniedersachsen.de

Im Biergarten des „Hotels Corveyer Hof“ (www.hotelcorveyerhof.de) wird gute Kost zu fairen Preisen offeriert. Wer der heimischen die internationale Küche vorzieht, wird im spanischen „Ritmo“ glücklich gemacht. www.ritmo-hoexter.de

Aktivitäten
Sympathisanten von „Star Trek“ und „Star Wars“ werden das imposante 100-Meter-Radioteleskop Effelsberg bei Bad Münstereifel besuchen wollen. www.mpifr-bonn.mpg.de

Naturfreunde sind im Neuen Nationalpark Eifel gut aufgehoben. Wer einen Perspektivwechsel braucht, kommt um die Atta-Höhle in Attendorn am Biggesee kaum herum.

Das genaue Gegenteil kann man in Winterberg mit den Ultraleicht-fliegern von Christoph Bayer tun. Eine halbe Stunde über den 1000 Bergen des Sauerlands erleichtert die Kasse um 90 Euro. Infos unter www.winterberg.de. Die eigenen Muskeln und den Adrenalinspiegel bringt die Bike Arena Sauerland (www.bike-arena.de) beispielsweise mit Mountainbiketouren in Form.

Die Homepage des Teutoburger Waldes (www.teutoburgerwald.de) enthält Infos und Routen für Biker.

Karten
Die Marco-Polo-Karte Nordrhein-Westfalen im Maßstab 1:200000 weist für 8,99 Euro alle Wege.

NRW
Hauptstadt: Düsseldorf
Fläche: 34088 km2
Gründung: 23. August 1946
Regierung: SPD/GRÜNE
Einwohnerzahl: 17836000

Die aktuelle Ausgabe
MOTORRAD 12 / 2023

Erscheinungsdatum 26.05.2023