Neufundland

Neufundland TERRA INCOGNITA

Nur wenige Straßen führen durch das einsame Neufundland. Der Franzose Philippe Bovet nahm sie unter die kleinen Räder seines Vespa-Rollers.

Es ist Frühlingsanfang auf Neufundland. Die letzten Schneeflecken schmelzen langsam in den ersten wärmenden Strahlen der Sonne. Sechs bitterkalte Wintermonate stand meine 200er Vespa PX bei Freunden in einer Garage in der Inselhauptstadt St. John´s. Jetzt bekommt ihr Tank den Geschmack von Benzin zurück, stotternd nimmt der Zweitaktmotor seine Arbeit wieder auf. Wenig später verlasse ich die hinreißende alte Stadt, wo die Kinder mitten auf der Straße Hockey spielen und wo Hunde und Katzen es sich vor einfachen und schönen Holzhäusern gemütlich machen. Seit 1989 reise ich immer wieder auf dem Roller durch den nordamerikanischen Kontinent. Die einzelnen Etappen führten mich viele tausend Kilometer von Chicago bis zur mexikanischen Grenze, später bis nach Quebec im Osten Kanadas. Heute beginnt mein letzter Reiseabschnitt: Neufundland und ein Abstecher nach Labrador.Ich nehme die Straße nach Terrenceville, wo morgen ein Küstenschiff nach Port aux Basques die Leinen läßt. In Neufundland sind die meisten Straßen Sackgassen. Unmöglich, eine wirkliche Rundfahrt über den »Kiesel«, wie diese Insel von ihren Bewohnern genannt wird, zu machen, ohne die Küstenfrachtschiffe zu benutzen, die zwar eigentlich keine Fähren sind, die aber einen Roller an Bord akzeptieren.Doch bis zum Hafen springt die Vespa zwischen Schlaglöchern und schlingert fürchterlich im starken Seitenwind. Solange die Bäume einen schützenden Tunnel um mich herum bilden, bin ich vor den jähen Windstößen sicher. Wenn ich Brücken überquere, verschwindet dieser Schutz, und der Wind schlägt mir peitschend ins Gesicht. Ständig im zweiten oder dritten Gang, mit einem Auge auf dem Rückspiegel und mit dem anderen auf den geneigten Bäumen, brauche ich anderthalb Stunden für 50 Kilometer, die Hände um die Griffe verkrampft und alle Muskeln in Alarmbereitschaft, um auf jeden heftigen Windstoß gefaßt zu sein.In Terrenceville bewirtet Alice das einzige Bed & Breakfast-Quartier des Dorfes. Ihr Mann und die beiden Söhne leben hauptsächlich vom Fischfang und vom Holzhacken. Alle vier sprechen mit einem Akzent, der für einen Neuling wie mich nur schwer zu verstehen ist. Auch das Essen ist manchmal gewöhnungsbedürftig, aber typisch für Menschen, die auf dieser Insel leben: Kondensmilch, gepökelter Fisch, gepökeltes Rindfleisch, Kohl und Kartoffeln, dazu trockene Seemanns-Kekse, die man in eine Soße tunkt. Mittwoch, 1. Juni, sieben Uhr: Das Küstenfrachtschiff legt an. Zu viert hieven wir den Roller an Bord. Der Kapitän grinst: »Das ist nun wirklich das erste Mal, daß wir ein Motorrad transportieren.« Die Frachtschiffe sind für die Menschen der Südküste Neufundlands immer noch lebensnotwendig, weil zu den meisten Dörfern keine Straße führt. Hier hat man kein Auto, sondern nur Boote.Vom Fährhafen in Port aux Basques mache ich mich auf den Weg nach Corner Brook. Es regnet. Und es ist bitter kalt. In den Toiletten einer Tankstelle ziehe ich lange Unterhosen und einen zusätzlichen Pulli an. Weiter geht«s. Inzwischen schneit es heftig, Schneeflocken kleben auf meinem Visier. Alle zehn Sekunden müssen meine Finger Scheibenwischer spielen. Schnee im Juni? Hier folgt das Wetter keinem Kalender. In Gander, am anderen Ende der Insel, fallen über Nacht 25 Zentimeter Neuschnee. Die ganze Insel wird tagelang darüber sprechen.Die Vespa fährt die nördliche Halbinsel hoch. Ein Wald von hochgewachsenen Rottannen hebt sich vor einem grauen Himmel ab. Im Hintergrund eine kahle Bergkette, abgeschliffen von der letzten Eiszeit. Noch immer liegen Schneeflecken auf den verlorenen Bergkuppen. Zwei Elche flanieren am Straßenrand. Einige Häuser rund um eine kleine Bucht, ein paar Fischerboote auf dem Strand, das ist ein Dorf. Ich halte vor einem kleinem Café. Eine Gruppe von Fischern sitzt um hölzene Mini-Tische. Alle Gespräche drehen sich um die aktuellen Hummerkurse. »Letzte Woche stieg der Pfundpreis von 3,90 auf 4,10 kanadische Dollar, heute ist er sogar auf 4,60 geklettert«, ruft einer der Fischer, der gerade noch an seinem Radio die letzten Nachrichten gehört hat, und dessen zerfurchtes Gesicht jetzt von einem vielsagenden Lächeln überzogen wird.Später, weiter in Richtung Norden, macht mein Motor komische Geräusche. Wahrscheinlich verstopft irgendwelcher Dreck den Vergaser. Ich beschließe, ihn in Hawke«s Bay, dem nächsten Dorf, zu säubern. Der große Eisenwarenladen rechts scheint eine Werkstatt zu haben. Ich halte, doch Ken Kely ist zu beschäftigt, um sich um mich und meinen Roller zu kümmern. Aber ich darf seine Werkstatt benutzen. Zwischen reparaturbedürftigen Snow-Mobilen und vierrädrigen Motorrädern, sogenannten Quads, reinige ich meine Schwimmerkammern. Mein Gastgeber übt einen im hohen Norden typischen Beruf aus: er repariert, verkauft und verleiht Motorsägen, Bootsmotoren, Herde, Gaskühlschränke, Regenmäntel, Stromaggregate und vieles mehr. Alle Fischer und Trapper aus der Gegend schwören auf ihn, weil er immer einen Rat weiß und so gut wie alles wieder hinbiegen kann. Am elften Juni erreiche ich den 52. Breitengrad. Hier wird es um 23 Uhr Nacht und um vier Uhr morgens schon wieder Tag. Das Wetter ist schön, aber kalt, denn der Wind kommt aus Nordost, von Grönland. Auf der anderen Seite der Bucht, entlang der Küste Labradors, ragen beeindruckende Eisberge aus dem Meer. Die Straße ist nichts als ein armseliger Streifen Asphalt, ein dünner Deich, der auf einem von Wasser getränkten, von Seen zerlöcherten und von Flüssen durchschnittenen Boden balanciert. Dieser Verbindungsweg erreichte die Westküste erst in den sechziger Jahren und wurde vor zehn Jahren dann asphaltiert. Schon wieder Vergaserprobleme. Nach einer zermürbenden Steigung halte ich an, um noch einmal dieses verteufelte Teil zu reinigen und einen neuen Benzinfilter einzubauen. Aber der Motor belohnt meine Arbeit nicht. Er hört einfach auf zu laufen. Nach einer Weile weiß ich, was das Problem ist: Die fehlende Kompression beim Ankicken zeigt mir, daß der Kolben ein Loch haben muß. Das Ersatzteil habe ich dabei, doch bis St. Anthony, der nächsten Stadt, sind es immer noch 150 Kilometer. Schon der erste Wagen hält. Der nette Kerl am Steuer heißt Boyd und erklärt, daß er mit seinem dicken, brandneuen Pick up einfach nur spazieren fährt. Er ist ein ruhiger Kerl, der mit seinen Brüdern und seinem Vater von Mai bis September als Fischer arbeitet und sonst als Holzfäller in den Wäldern lebt. Spät am Abend setzt er mich in St. Anthony ab. Und zwei Tage später schnurrt die Vespa fast wieder so wie zu Beginn unserer Reise durch den nordamerikanischen Kontinent vor fast 20 000 Kilometern.Nach einer kurzen Fährfahrt über den Belle Isle-Kanal erreiche ich Labrador. Kindheitsträume werden wach, Jack London taucht aus der Erinnerung wieder auf. Diese nackte Erde, schwammartig nachgebend und feucht, wo die Temperaturen im Winter auf unter minus 50 Grad Celsius fallen und wo es im Juli schneien kann, gehört zu einer schmucklosen Landschaft. Aber die 31 000 Einwohner Labradors schätzen dieses Land und haben schon seit jeher eine außergewöhnliche Fähigkeit entwickelt, sich der schwierigen Umgebung anzupassen. Ich habe Gück: In Labrador gibt es weniger als 200 Kilometer geteerte Straßen, und dazu gehören die nächsten 100 Kilometer zwischen Blanc Sablon und Red Bay, einem Dorf mit 300 Einwohnern, hinter dem die Straße dann schließlich aufhört. Doch die Strecke ist wunderbar. Die bezaubernde, schmale Straße zieht sich an kleinen Buchten und Häfen vorbei. Dann an einer in die Stille getauchten Seenkette entlang. Seit dem letzten September bin ich der erste Gast im einzigen Hotel von Red Bay. Wie in anderen Dörfern sind die Leute neugierig auf den durchreisenden Fremden. Alle haben das ungewöhliche Vehikel vor dem Hotel gesehen. Als ich mich zum Lebensmittelladen begebe, lassen mich alle in der Schlange Wartenden mit einer belanglosen Ausrede vor, um mich Englisch sprechen zu hören, um zu erraten, woher ich komme, um zu erfahren, was ich esse...Eine Schnellfähre bringt mich wieder nach Neufundland zurück. Nach ein paar Minuten Fahrt auf dem Highway macht mir plötzlich ein entgegenkommender Autofahrer wilde Lichtzeichen und hält mitten auf der Straße an. Es ist ein Fischer, der mich etwa 14 Tage vorher in St. Anthony gesehen hatte. Wie vor drei Wochen in Corner Brook: Ein Fischer aus Maison d«Hiver fuhr verkehrt herum im Rückwärtsgang durch eine Einbahnstraße um mir einen guten Tag zu wünschen. Ein paar Tage später sprach mich in Daniel«s Harbour ein junger Mann an, weil er die Vespa am Morgen 200 Kilometer weiter südlich gesehen hatte. Neufundland ist ein freundliches Dorf! Wieder in St. John`s, dieser Stadt, die Europa geographisch näher ist als Vancouver. Ich bringe die Vespa für einen letzten Winter in Roy Bartletts Garage zurück. Was wird der Unterschied zwischen Neufundland und Island sein, meiner nächsten Etappe? Obwohl beide Inseln die gleichen harten Winter erleben und von den gleichen Atlantik-Winden gepeitscht werden, ist Neufundland noch Amerika und Island schon Europa.

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