Wasser läuft in meinen Kragen, wird von den Handschuhen aufgesogen. Es ist kalt und düster. Der rutschige Asphalt verschwindet bergan in einer Waschküche, passiert die französisch-spanische Grenze, zwirbelt sich auf den etwa 1000 Meter hohen Ibañetá-Pass hinauf. Dort weicht der dichte Wald einer Lichtung, dann ist im grauen Nebel die Silhouette einer kleinen Kapelle auszumachen. Finger und Füße sind droben längst nass, und das Leder der Kombi wird bald gänzlich durchgeweicht sein. Ich werde es niemals schaffen, rechtzeitig in eine Regenkombi zu steigen.Es dauert eine ganze Weile, bis das leidige Teil sitzt. Währenddessen schweifen meine Gedanken ab, versetzen mich zurück in eine andere Epoche, zurück ins Mittelalter. Hunderte, Tausende, Abertausende ziehen in meiner Fantasie an mir vorbei, passieren diesen unscheinbaren Pass. Priester, Abenteurer, Könige, Huren, Ritter, Diebe, Bauern, Mörder. Armselige Gestalten. Oder schwer bewachte, prunkvolle Prozessionen. Hinter ihnen lag eine monate- oder gar jahrelange Wanderung quer durch Europa, und spätestens an diesem Pass trafen alle aufeinander; im nahen St. Jean-Pied-de-Port vereinen sich drei Pilgerwege aus Frankreich zum Camino de Santiago, dem Jakobsweg, der quer durch den Norden Spaniens rund 850 Kilometer weit bis in den äußersten Westen des Landes nach Santiago de Compostela führt. Vorbei an unzähligen Kirchen und Kapellen zum Grab des Apostels Jakob.Langsam rolle ich bergab, passiere das fast 900 Jahre alte Kloster von Roncesvalles, eine der ersten Pilgerherbergen am Camino, dem Weg, wie man heute der Einfachheit halber sagt. Wer sich nicht verlaufen hatte, wer nicht erschlagen wurde, wer nicht erfroren, ertrunken oder vor Erschöpfung verreckt war, fand hier eine einigermaßen sichere Herberge. Weiter. Die Straße durchtrennt den noch dichten Wald, die Höhen der Pyrenäen dagegen schwinden allmählich, schrumpfen zu Hügeln, die langsam in einer weiten Ebene auslaufen. Bis nach Pamplona ist es nur noch ein Katzensprung. Zumindest mit einem Fahrzeug.Auf dem Weg dorthin versuche ich mir einzuprägen, was ich über diesen Jakob gelesen habe. Und zu verstehen, warum die Menschen seinetwegen seit nahezu 1000 Jahren zumeist zu Fuß bis an den äußersten Rand Europas gepilgert sind. Und es noch heute massenhaft tun. Ich gebe zu, dass ich bis vor ein paar Wochen nur wenig über diesen Heiligen wusste. Und er mir deswegen auch ziemlich egal war. Dabei liest sich Jakobs Lebenslauf recht spannend, verdichten sich Geschichte und Legende lange nach seinem Tod allerdings zu einer dramatischen Handlung: Jakobus der Ältere, Bruder des Evangelisten Johannes, Apostel Christi und seit seinem Tod im Jahr 44 der erste Märtyrer des Christentums. Seine sterblichen Überreste werden rund 450 Jahre später vor den Sarazenen in Sicherheit gebracht - aus dem Sinai bis an das damalige Ende der Welt, dem »finis terrae«, das in Spanien in der Nähe des heutigen Kap Finisterre liegt. An der Stelle, an der man im Jahr 825 im dichten Gestrüpp das Grab des Apostels fand, wurde schließlich die Stadt Santiago de Compostela gegründet. So weit, so gut. Doch erst dann schlägt Jakobs große Stunde. Als »Matamoros«, als Maurentöter. Unter seinem Zeichen und mit dem Schlachtruf »Santiago« auf den Lippen zieht man in der Mitte des 9. Jahrhunderts vernichtend gegen die ungläubigen Araber zu Felde, die den Süden Spaniens besetzt hielten. Ich komme ins Grübeln, übersehe fast eine Ampel in einem Vorort Pamplonas. Ein friedfertiger Apostel plötzlich als brandschatzender und mordender Kriegspatron? Gefragt hat ihn ganz sicher niemand. Denn der Kirche kam´s gelegen: »Sein Dienst« an der christlichen Sache verbreitet sich schnell in Europa, und von nun an wollte jedermann zum Grab des Heiligen. Nicht zuletzt, weil die Kirche büßenden Jakobspilgern vollen Ablass und Vergebung der Sünden versprach. Ich überlege für einen kurzen Moment, ob ich wieder umkehren soll.Spanische Lebensart lässt diesen Gedanken verfliegen. Ich spaziere über die Plaza del Castillo in Pamplona. Nicht unbedingt ein Ort der Ruhe, dafür herrscht zu viel Verkehr. Dennoch ein Platz für die Sinne. 300 Jahre alte Häuserzeilen, bunte Fassaden mit hölzernen Balustraden, mit reich verzierten Gittern vor den Balkonen und großen halbrunden Fenstern, die allesamt Blumen-verhangen sind. Im Schatten der Platanen - was sonst könnte an einem solchen Platz in Südeuropa Schatten spenden?- reihen sich Straßencafés, beginnen enge Gassen, die durch die Altstadt führen, sitzen die Pensionäre in stilvollen Anzügen, flirten Teenager, die lässig auf bunten Rollern hocken. Ich finde meinen Logenplatz im »Iruña«. Die unglaubliche Arroganz des Kellners regt mich auf, passt aber zugegebener Maßen perfekt zum aristokratischen Flair des Cafés, in dem Ernest Hemingway fast schon einen Stammplatz hatte. Mir fällt es schwer, wieder in den Sattel der BMW zu steigen.Nur wenige Kilometer. Dann weitläufiges, hügeliges Land unter sengender Sonne. Unendlich anmutende Getreidefelder. Wein, Oliven, Mandeln. Tausend unterschiedliche Grüntöne. Knallroter Mohn. Kleine graue Festungen auf nahezu jeder Spitze, an der Straße dann und wann verschachtelte Dörfer. Spanische An- und Aussichten wie aus einem Bildband. Unverfehlbar führt der Jakobsweg nach Westen. Mal geradeaus, mal herrlich geschwungen. Santiago ist bereits ausgeschildert, obwohl es noch rund 750 Landstraßenkilometer bis dorthin sind. Unübersehbar auch das eigentliche Jakobssymbol: eine gemeine Flachmuschel aus dem nahen Atlantik. Sie ziert fast jeden Wegweiser, schmückt viele Hauswände, ist in Felsen und Steinblöcke am Straßenrand geritzt oder einfach aufgemalt. Und wird seit jeher von allen Pilger getragen.Viele sind unterwegs. Überraschend viele. Still ziehen sie nach Westen. Selten alleine, meist zu zweit, gelegentlich in kleinen Gruppen. Man sieht sie am Straßenrand, in jedem Dorf, in jeder Kirche und Kapelle, in jeder Taverne. Pilger aus ganz Europa, Australien oder Südamerika. Die meisten von ihnen jedoch aus den USA. Es sind Twens wie Rentner, die sich mit schweren Rucksäcken oder beladenen Fahrrädern auf den langen Weg nach Santiago de Compostela gemacht haben. Ein Wanderstab aus Holz, die Jakobsmuschel, fast immer ein breitkrempiger Hut und oftmals eine Kalebasse, die alsTrinkgefäss dient, erinnern an das überlieferte Erscheinungsbild von einst; Goretex-Stiefel oder Trekkingsandalen, leichte Kaki-Hosen und bunte Funktionsklamotten sind Zugeständnisse an die Moderne. Optisch eine Mischung aus Kirchentag und Abenteuertourismus. »Jacob, here I come«, lese ich auf einem T-Shirt.Längst glüht das trockene Land feuerrot im Abendlicht, als ich Santo Domingo de la Calzada erreiche. Ein schöner Ort. Mit einer bemerkenswerten Kathedrale, in der ein weißer Hahn in einem verglasten Hühnerstall kräht. Heiligenverehrung der besonderen Art. Aber noch bin ich wie von Sinnen von den letzten Kilometern. Ein einziger Rausch. In einem ständigen auf und ab nimmt die Strecke Hügel für Hügel, hält direkt auf die untergehende Sonne zu, verläuft parallel zu gezackten Gebirgszügen, die in diesen Moment zwischen Tag und Nacht nur schemenhaft auszumachen waren. Ich hätte bis zum Atlantik fahren können.Breit führt die Straße nach Burgos, die einzige größere Stadt in diesem Teil Spaniens. Unzählige Lkw reduzieren seit dem frühen Morgen das Tempo, die Pilger und ich leiden unter den Abgasen. Und unter der Hitze. Irgendwie manövriere ich die BMW bis ins Zentrum, bis direkt vor die Kathedrale Santa Mará. Es dauert eine ganze Weile, bis ich diese schiere Größe begreife. Und diese unglaubliche Pracht. Mein Blick verfängt sich an Türmen, in Erkern, Bögen und Arabesken, hängt an meterhohen Skulpturen, schätzt diese gewaltigen Portale ab. Ein einzigartiges wie formvollendetes Meisterwerk der Gotik aus hellem Stein, an dem 300 Jahre lang gebaut wurde. Mit ihren gewaltigen Ausmaßen nur das Gotteshaus von Sevilla ist noch größer beherrscht diese Kathedrale den luftigen Platz, auf dem Pilger in schweißnassen, verstaubten Klamotten ihre geschundenen Beine strecken. Und ganz und gar nicht in das Flaniergehabe einer südeuropäischen Großstadt passen.Ich folge wieder dem Zeichen der Muschel. Die Enge der Stadt weicht einem großzügigen, aber kargen Landstrich. Die Straße verliert an Bedeutung, führt nach einer Weile nur noch als schmaler Weg nach Hontanas. Um eine einfache Kirche gruppieren sich gedrungene Häuser aus grauem Stein. Die meisten Dörfer sehen hier so aus. Und immer erscheint die Kirche etwas zu groß geraten. Fette, granitere Trutzburgen. In Castrojeriz. In Fromista. In Carrió, wo der Weg nach zwei, drei Stunden wieder auf die befahrene Landstraße zweigt. Und noch etwas fällt auf. Ich habe nur sehr lange gebraucht, um es zu bemerken. Weder Zäune noch Stromleitungen stören dieses einsame Land.Einen Tag später. Im wilden hin und her stürmt die Straße durch die von Heide und Ginster übersäten Berge von León, schwingt sich panoramareich bis auf eine Höhe von 1500 Metern. Sozusagen das Dach des Jakobswegs, das von einem Eisenkreuz markiert wird. Nach vielen schnurgeraden Kilometern zuletzt die Strecke von der prächtigen Königsstadt León nach Astorga eine wunderbare Abwechslung, die die fahrerischen Reflexe wieder weckt. Wie eine ganze Weile später der Aufstieg nach Cebreiro. Kurve an Kurve steil bergan, bis mein Blick hinter den kleinen strohgedeckten Steinhäusern weit über die ersten Hügel Galiciens reicht. Üppige Wiesen und Weiden, sattgrüne Hecken und dichte Baumreihen, blühendes Bergland, durch das die Strecke in weiten Kurven stiebt. Über die San-Rochos-Anhöhe, die Alto de San Roque, wo sich in 1300 Meter Höhe eine übergroße Pilgerstatue dem ständig wehenden Wind entgegenstemmt. Dann steil bergab. Rund 45 Kilometer downhill bis Samos und noch einmal ein ganzer Schwung von Kurven bis Sarria. Was für eine Etappe!Santiago de Compostela. Ein steinerner Traum am westlichsten Rand Europas. Neben Jerusalem und Rom das bedeutendste Pilgerziel der Christenheit und UNESCO-Weltkulturerbe. Enge Gassen, prachtvolle Bauwerke aus jeder Epoche, unzählige Kneipen und Restaurants. Menschen aus aller Welt schlendern und drängeln durch die verwinkelte Altstadt, verweilen im Schatten großzügiger Arkaden, gelangen schließlich auf den riesigen Platz vor der himmelstürmenden Kathedrale mit ihren wuchtigen Zwillingstürmen. Ich stehe und lausche dem babylonischen Stimmenwirrwarr. Pilger, nach Wochen oder Monaten endlich am Ziel ihrer Reise, weinen vor Freude, singen, begrüßen lautstark bekannte Gesichter von unterwegs. Reiseleiter drängeln, manövrieren ihre Gruppen in möglichst aussichtsreiche Positionen. Souvenirhändler verramschen goldfarbene Jakobsmuscheln und Kalebassen aus Plastik. Bettler und Musiker hoffen auf ihren Teil. Zehn Millionen Besucher kamen im letzten Jahr nach Santiago. Kirche und Köche leben vermutlich sehr gut von den Pilgern.Noch aber fehlen ein paar Meter bis zum endgültigen Ziel. Blank geschliffene Stufen führen in die Kathedrale, dann stehe ich im Dunkel des gewaltigen Gebäudes, erkenne nur den in goldenes Licht getauchten Hochaltar am anderen Ende. Es riecht nach einer befremdenden Mischung aus Weihrauch und Schweiß. Und es herrscht eine Hektik wie auf einem Schulhof. Bei so vielen Besuchern erlaubt der Kampf um die besten Plätze keine Zeit für Muße. Man eilt zum Altar, filmt und fotografiert, erweist dem Apostel kurz seine Referenz, lässt sich von Schildern den Weg ins Mausoleum zeigen, wo sich die Reliquien des Heiligen befinden. »Camino de Santiago I did it« lese ich auf einem T-Shirt.Ach ja. Von wegen sündenfrei und so. Das funktioniert leider nicht, wenn man den Weg im Sattel eines Motorrads zurücklegt. Trotz schmerzender Handgelenke oder wundem Sitzfleisch. Ich habe mich da sehr genau erkundigt. Die Devise einer Wall- oder Pilgerfahrt lautet: »per aspera ad astra«, was frei übersetzt soviel wie »durch Mühsal und Plage zum Paradies« bedeutet. Na, dann eben nicht.
Infos
Wer den Jakobsweg mit dem Motorrad von den Pyrenäen bis fast an die Atlantikküste von Galicien folgt, entdeckt ein vielseitiges Spanien. Und ein Land, dass reicht an Kultur und Lebensart ist.
Anreise Motorradfahrer, die dem Jakobsweg in Spanien folgen möchen, kommen um eine sehr lange Anfahrt nicht herum. Ausgangsort ist das noch auf französischer Seite der Pyrenäen liegende St. Jean-Pied-de-Port. Dorthin gelangt man am schnellsten über die gebührenpflichtige Autobahn via Lyon, Narbonne, Toulouse in Richtung Biarritz. Zwischen Pau und Bayonne Ausfahrt »Nummer 7« (Pamplona) nehmen. Reifenschonender ist die Anreise per Autoreisezug bis Narbonne. Ab Frankfurt/Neu Isenburg sind je nach Saison einfach pro Motorrad ab 194 Mark und pro Person im Liegewagen 163 Mark zu zahlen. Infos und Reservierung in jedem DB-Reisecenter oder unter 0180/5241224.Unterkunft Entlang des Jakobsweg finden sich Hotels, Pensionen und Privatunterkünfte in jedem Ort hier ist man bereits seit dem Mittelalter auf zahlreiche Gäste eingestellt. Trotzdem kommt es in der Hauptsaison (besonders in Pamplona und Santiago de Compostela) regelmäßig zu Engpässen. In St. Jean-Pied-de-Port empfiehlt sich das »Hotel Itzalpea« für etwa 70 Mark pro Person; Telefon 0033/5593-70366. Am besten schläft man in Spanien in den sogenannten »Paradores de Turismo«, meist zu Hotels umfunktionierte Burgen oder Schlösser. Zu den schönsten des Landes gehört der Parador in Santo Domingode la Calzada. Pro Person sind hier etwa ab 170 Mark für eine Nacht inklusive Frühstückbuffet zu zahlen. Telefon 0034/941-340300; Fax 941-340325. Ein »etwas« einfacher und dafür preiswerterer Parador befindet sich in Villafranca del Bierzo. Hier kostet die Nacht pro Person ab zirka 130 Mark. Telefon 0034/987-540175; Fax 987-540010. Weiter Infos über Paradores de Turismo können beim Spanischen Fremdenverkehrsamt, Myliusstraße 14, 60323 Frankfurt, erfragt werden; Telefon 069/725033; Fax 725313. In Santiago de Compostela lässt es sich wie in jeder anderen größeren Stadt sehr gut ab zirka 50 Mark in den zahlreichen und preiswerten Privatpensionen übernachten, den »casas de huéspedes«.Sehenswert Klöster, Burgen und Kirchen sind ganz klar die Highlights entlang des Jakobswegs. Wer sich bisher für so was nicht interessiert hat, sollte sich einmal die Kathedralen von Burgos, Leon oder Santiago de Compostela anschauen die schiere Größe und Pracht verschlägt garantiert jedem den Atem: Romantik und Gotik in absoluter Perfektion! Nicht minder eindrucksvoll sind die mittelalterlichen Stadtbilder wie in Santiago (UNESCO-Weltkulturerbe) oder die urigen, geduckten Steindörfer wie zum Beispiel Cebreiro. In der Römersiedlung Astorga befindet sich im Gaudí-Palast das lohnenswerte »Jakobswege-Museum« (montags bis samstags von 11 bis 14 und 16 bis 20 Uhr).Literatur Sehr empfehlenswert für Individualreisende ist »Nordspanien und der Jakobsweg« von Reise Know-How für 36,80 Mark. Wer sich ausführlich über den Jakobsweg und die einzelnen Etappen informieren möchte: »Praktischer Pilgerführer« von Millán Bravo Lozano aus dem Everest-Verlag (ISBN 84-241-3835-X) für 40 Mark. Dank der sehr guten Karten und Streckenskizzen quasi wie ein Roadbook für den modernen Pilger. Auf der Shell EuroKarte Spanien/Portugal von Marco Polo im Maßstab von 1:750000 ist der Verlauf des Jakobswegs bereits verzeichnet. Für 12,80 Mark. Die beste Wahl sind allerdings die beiden Michelin-Karten 441 (Nord-West-Spanien) und 442 (Nord-Spanien) im Maßstab von 1:400000 für je 14,80.Zeitaufwand: fünf Tage Gefahrene Strecke: 880 Kilometer