Osteuropa
Die Hochzeits-Reise

Die Einladung eines guten Freundes zu seiner Hochzeit ausschlagen –unmöglich. Das Fest sollte allerdings bei den Eltern der Braut stattfinden – in Rumänien. Macht von Hamburg gut 2500 Kilometer.

Die Hochzeits-Reise
Foto: Jung

Wo, um Himmelswillen, liegt Gura Râului? Es dauert eine Weile, bis Yujin und ich das winzige Bergdorf auf der Landkarte entdecken. Der nächste Trip würde uns also mitten in die rumänischen Karpaten führen – zur Hochzeit eines guten Freundes im Elternhaus der Braut. Diese Einladung, so viel war klar, wollten wir uns auf keinen Fall entgehen lassen. Natürlich könnte man einen Flug ins etwa 30 Kilometer entfernte Sibiu buchen und für ein Wochenende entspannt dorthin jetten. Aber je länger wir darüber nachdachten, desto mehr gefiel der Gedanke, mit dem Motorrad zu fahren. Eine Entdeckungstour durch den uns noch völlig unbekannten Osten Europas – eine tolle Herausforderung.

Sieben Tage vor dem Fest. In letzter Minute findet die Campingausrüstung Platz auf der Aprilia Pegaso, dann geht’s endlich los. Es dauert, bis Yujin und ich uns auf dem arg beladenen Bock arrangiert haben. Doch sobald Hamburg endgültig aus den Rückspiegeln verschwunden ist, rollen wir durch endlos scheinende Allen, genießen den Tanz über geschwungene Landstraßen in Richtung tschechischer Grenze und den ersten Anflug von Urlaubsstimmung. Obwohl die Zeit drängt, scheiden Autobahnen aus – Ostdeutschland und Osteuropa im Schnelldurchlauf kommt nicht in Frage. Zumal das Wetter mitspielt. Unter einem wolkenlosen Himmel passieren wir Magdeburg und folgen eine Weile dem Lauf der Elbe. Links und rechts erstrecken sich weite Kornfelder in leuchtendem Goldgelb, hier und dort ziehen Mähdrescher ihre Runden, unzählige Strohballen markieren schließlich ihre Spur. Der Geruch von geschnittenem Gras lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Spätsommer bereits begonnen hat.

Unsere Highlights
Scholz
Vorbei an einsamen Bergdörfern und orthodoxen Kirchen in den Karpaten.

Fünfhundert Kilometer. Mehr als genug für den ersten Tag. Kurz vor Wittenberg findet sich ein idyllischer Campingplatz. Perfekt. Dachten wir zumindest bei unserer Ankunft. Woher hätten wir auch wissen sollen, dass die Dorfjugend am Abend quasi direkt nebenan Party macht? Zuerst schallen die üblichen Hits aus den überforderten Lautsprechern, dann versucht sich eine eher mittelmäßige Coverband bis in die frühen Morgenstunden an Songs von Mickie Krause, Wolfgang Petry und Konsorten. An Schlaf ist nicht zu denken.

Leicht übermüdet peilen wir am nächsten Vormittag Dresden an. Ein Kaffee in der alten Stadt hilft ein wenig auf die Beine, ein Blick auf die prachtvoll restaurierte Frauenkirche, die nach einem zwölf Jahre dauernden Wiederaufbau im vergangenen Herbst eingeweiht wurde, macht uns vor Begeisterung hellwach. Ohne die Flut an Spendengeldern aus aller Welt – insgesamt über 100 Millionen Euro – wäre dieses gewaltige Projekt nicht finanzierbar gewesen.

In einem Rutsch gelangen wir zum Grenzübergang nach Tschechien – der sich durch einen langen Stau ankündigt. Gemächlich ziehe ich an der Autoschlange vorbei, was erstaunlicherweise von allen Wartenden ohne Hupkonzert toleriert wird. Ein kurzer Blick in die Pässe, dann sind wir schon wieder unterwegs, folgen von nun an einer Straße, die sich durch das Elbsandsteingebirge windet – und darüber hinaus als überaus spaßige Kurvenstrecke erweist. Dazu scheint dieses überraschend gut ausgebaute Schmankerl fast nur uns zu gehören. Ein herrliches Vergnügen.

Erst als nach etwa 50 Kilometern Litomerice auftaucht, entschließen wir uns zu einem Halt. Das Städtchen, das direkt am Elbufer liegt und im Laufe seiner 800-jährigen Geschichte phasenweise Königs- und Bischofssitz war, ist mit seinen verwinkelten Straßenzügen und bunten Häuserfassaden ein echter Hingucker. Wir überlegen, hier zu übernachten. Doch Prag ist in greifbare Nähe gerückt – und die Aussicht auf einen Abend in der tschechischen Metropole lockt einfach zu sehr.

Osteuropa: Von Hamburg nach Rumänien (Inofs)

Urlaub im Osten Europas? Auf jeden Fall! Neben den tollen Landschaften und überraschend genialen Motorradstrecken sind es die überaus herzlichen Begegnungen, die den Reiz dieser Länder ausmachen.

Reisezeit
Die Länder Osteuropas lassen sich jederzeit zwischen Frühjahr und Herbst bereisen. In den Sommermonaten kann es in manchen Regionen allerdings fast schon unerträglich heiß werden. Dennoch gehören ein warmer Pullover und Regenkleidung zur Grundausrüstung.

Dokumente
Für die in der Reportage beschriebenen Länder genügt zur Einreise der Personalausweis. Neben dem Kfz-Schein muss jedoch zusätzlich eine grüne Versicherungskarte mitgeführt werden. An den Grenzen sollte man mit längeren Wartezeiten rechnen. Das Auswärtige Amt informiert auf seiner Internetseite (www.auswaertigesamt.de) ausführlich über Einreisebestimmungen sowie eventuelle Reisewarnungen.

Übernachten
Einfache Privatunterkünfte, Pensionen und Hotels finden sich praktisch überall in den erwähnten Ländern. Pro Nacht und Nase sind ab 20 Euro zu kalkulieren. Ausnahme: Rumänien, wo die Suche nach einer Bleibe schon mal etwas länger dauern kann. Ein einfaches Zimmer gibt es hier schon ab etwa zehn Euro. Unbedingt Zelt und Schlafsack mitnehmen – das Netz an Campingplätzen ist mittlerweile recht gut, und in abgelegenen Regionen lässt es sich auch wild campen.

Sicherheit und Verkehr
Die Länder Osteuropas sind besser als ihr Ruf – und Motorräder gelten nur bedingt als bevorzugtes Diebesgut. Dennoch ist es besonders in Städten ratsam, das Fahrzeug stets bewacht in einer Garage oder auf einem Parkplatz abzustellen. Im Straßenverkehr geht es generell etwas chaotischer zu als in Deutschland – eine defensive Fahrweise ist das beste Rezept gegen so manches wilde Überholmanöver. Mit rigorosen Geschwindigkeitskontrollen muss überall gerechnet werden. Entgegenkommende Verkehrsteilnehmer warnen jedoch regelmäßig per Lichthupe vor solchen Polizeieinsätzen. Bleifreier Treibstoff ist inzwischen überall zu bekommen. In Rumänien sollten Fahrer von Fahrzeugen mit Kat aber sicherheitshalber nur die größeren Tankstellen ansteuern und über eine Reichweite von rund 300 Kilometern verfügen. Ansonsten findet sich eine Tankstelle garantiert spätestens alle 200 Kilometer.

Motorräder
Eine Tour durch den Osten Europas lässt sich mit jeder Art von Motorrad unternehmen. Während sich die meisten Straßen in Tschechien und der Slowakei in einem recht guten Zustand befinden, muss man in Rumänien besonders abseits der Hauptstrecken mit welligem Asphalt oder Schlaglöchern rechnen. In den Karpaten findet sich auch die eine oder andere spannende Piste. Hier sind Fahrer von (Reise-)Enduros klar im Vorteil.

Literatur
Bei einer entsprechenden Tour durch diverse Länder ist man auf mehrere Reiseführer angewiesen. Damit diese auf dem Motorrad nicht zu viel Platz beanspruchen, lohnt ein Blick in die sehr kompakten, jeweils knapp 130 Seiten starken Marco-Polo-Führer (www.marcopolo.de), die dennoch sehr umfangreich informieren. Die Ausgaben »Tschechien«, Slowakei«, »Ungarn« und »Rumänien« kosten je 7,95 Euro. Überaus gute Karten kommen ebenfalls aus dem Hause Marco Polo: die neuen »Autokarten« im Maßstab von 1:303000 für je 7,50 Euro decken ganz Europa ab. Der dazugehörige »Reiseguide« liefert zudem jeweils 150 Reisetipps über das entsprechende Land. Eine Liste mit Links zu Rumänien findet man unter www.karpatenwilli.com/links.htm.

Osteuropa (2)

Jung
Urlaub im Osten: hier gibt es tolle Landschaften und überraschend geniale Motorradstrecken.

Unsere Laune wird einzig durch den abendlichen Berufsverkehr getrübt. Nichts geht voran auf den hoffnungslos verstopften Straßen. Und dann verfahren wir uns auch noch auf der Suche nach einem Hotel. Endlich eingecheckt, heißt es schnell duschen und dann ab in die Altstadt. Enge Gassen, Kopfsteinpflaster, weite, prächtige Plätze, Kirchen, Paläste, barocke Häuserzeilen. Besucher aus aller Herren Länder wuseln umher, drängen mit uns in Richtung Karlsbrücke, die über die Moldau in den gegenüberliegenden Teil Prags führt – und zugleich die beliebteste Promenade der Stadt ist.

Verliebte Teenager, Reisegruppen, Straßenmusiker, Rentner, Geschäftsleute, eine Gruppe von Nonnen in langen, schwarzen Gewändern, die wie Schulmädchen herumalbern. Alle Welt scheint an diesem wunderbaren Sommerabend einen Blick von dem berühmten Viadukt hinunter auf den breiten Strom und hoch zur gewaltigen, über 1000 Jahre alten Burganlage, dem Hradschin, werfen zu wollen. Dem Reiz Prags kann sich offensichtlich niemand entziehen. Erst lange nach Sonnenuntergang verschwinden Yujin und ich in einer der über 1000 stets gut besuchten Bierstuben der Stadt. Dicke Rauchschwaden hängen unter der Gewölbedecke, alte Holztische, auf denen zwischen den Humpen üppig beladene Teller mit Fleisch und Knödeln serviert werden. Tschechische Küche. Deftig und schwer. Aber überaus schmackhaft. Wir ärgern uns, dass wir aus Zeitgründen nicht noch einen Tag in Prag bleiben können.

In der Slowakei empfangen uns Nebel und leichter Sprühregen. Nach der Hitze der letzten Tage eine fast willkommene Abwechslung. Ebenso der Verlauf der Straße, die sich durch die Kleine Fatra, ein winziges Kalksteingebirge, windet. Nicht dass diese Strecke in Konkurrenz zu irgendwelchen Alpenpässen treten könnte – doch nach der Bummelei durch die sanft geschwungene tschechische Hügellandschaft kommt auf einmal Dynamik ins Spiel – erstmals während dieser Tour kratzen sogar die Fußrasten das eine oder andere Mal über den Asphalt.

Scholz
Am Ziel in Rumänien: die Gastgeber freuen sich über den weit angereisten Besuch.

Nach einem Schlenker in Richtung Norden landen wir am Orava-See, der die Grenze zu Polen markiert. Von einem Hügel erblicken wir die zackigen Umrisse der Hohen Tatra, und kurz vor Sonnenuntergang haben wir diesen völlig unvermittelt aufragenden Gebirgszug erreicht, der werbeträchtig als das „kleinste Hochgebirge der Welt“ bezeichnet wird: Gerade einmal 26 Kilometer lang, bietet dieses Massiv 20 Gipfel, die höher als 2500 Meter sind. Das „Dach der Tatra“, die Gerlachspitze – oder Gerlachovský stít –, ragt immerhin 2655 Meter hoch in den rötlich schimmernden Abendhimmel. Ein Zeltplatz direkt am Fuße dieses „Bergriesen“ kommt wie gerufen.

Am nächsten Morgen streikt die Pegaso. Die Batterie hat ihren Geist aufgegeben, und der Bock lässt sich nur noch anschieben. Keine gute Aussichten, wenn man es eilig hat. Also ab in die nächste größere Stadt, nach Poprad.

Dort treffen wir beim Tanken einen jungen Burschen, der nahezu perfekt Deutsch spricht und sofort anbietet, uns zu einer Werkstatt zu bringen. In der findet sich zwar kein entsprechendes Ersatzteil, aber bis zum Abend würde dem Mechaniker schon eine Lösung einfallen, verspricht der Junge. Mit einem zugegeben unguten Gefühl im Bauch lassen wir unser Motorrad zurück – und hoffen, nicht in die Fänge der osteuropäischen Mafia geraten zu sein, die scharf auf unser Gefährt ist. Einige Stunden später erweisen sich unsere Sorgen als völlig unbegründet: Stolz drückt Mikus, der Mechaniker, auf den Anlasser, und sofort erklingt das vertraute Stampfen des Einzylinders. Mit einem Tag Verspätung kann es weitergehen.

Für Ungarn bleibt deshalb noch weniger Zeit, als ursprünglich geplant. Hinter Miscolc biegen wir auf dem Weg nach Eger dennoch für einen kurzen Abstecher ins winzige Bükk-Gebirge ab. Die gewundenen Strecken sind in fester Hand der örtlichen Sportfahrerfraktion. GSX-R und Co. fliegen förmlich an uns vorbei – na klar, Wochenende. Wir drehen wieder ab, Richtung Eger, eine der schönsten Barockstädte Ungarns. Einfach dran vorbeifahren? Unmöglich. Zumindest ein kurzer Gang durch die Fußgängerzone muss sein. Herausgeputzte, bunte Fassaden, unzählige Kneipen und Cafés, ein weitläufiger Markplatz, auf dem an diesem herrlichen Spätsommertag reges Treiben herrscht. Die Stadt ist auf Anhieb überaus sympathisch. Der weitere Weg dagegen nicht: Monoton führt die Fahrt ohne jede Abwechslung durch die Puszta. Die für die Jahreszeit ungewöhnlich heiße Luft scheint über dem vollkommen platten Land zu stehen, und nirgends ein Baum, der Schatten spenden könnte. Es fällt schwer, nicht am Lenker einzuschlafen.

Am späten Nachmittag endlich die Grenze zu Rumänien, der letzte von vier Übergängen. Etwas unwohl ist uns beim Anblick der streng schauenden Beamten schon. Entgegen allen Befürchtungen lässt man uns jedoch nach kurzer Kontrolle problemlos passieren. Kein Auspacken, kein schikanöser bürokratischer Hürdenlauf, keine Forderung nach Schmiergeld. Andere Erwartungen werden allerdings gleich nach dem Übergang bestätigt: Der Zustand der Straße ist miserabel, und die meisten Häuser Oradeas müssten dringend renoviert werden. Beim Ampelstopp werden wir von einem aufdringlichen Bettler bedrängt. Erstmals sind wir ein wenig verunsichert. Zum Glück finden wir in einem Vorort recht schnell ein nette Herberge.

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MOTORRAD 20 / 2023

Erscheinungsdatum 15.09.2023