Osteuropa: Litauen
Dünen, Mythen, neue Zeiten

Eine Motorradreise ins Baltikum ist noch immer ein Stück Abenteuer. Auch wenn die EU-Eingemeindung im vergangenen Jahr viele ehemalige Ostblockstaaten dichter an den Westen rücken ließ – Litauen bleibt nah und fern zugleich.

Dünen, Mythen, neue Zeiten
Foto: Annetzberger

Langsam schiebt sich die Fähre unter strahlender Sonne in den Hafen von Klaipeda. Die Strände sind gut besucht – Litauen empfängt uns mit schönstem Frühsommerwetter. Eine kurze Fahrt durch die Stadt, dann rollen wir noch einmal auf schwankenden Schiffsboden und dampfen zur Nordspitze der Litauen vorgelagerten Landzunge, der Kurischen Nehrung.
Dort geht es schnurgerade Richtung Süden, und wir schalten vor Nida einen Gang herunter, auch innerlich. Hektik
ist hier nicht angesagt. Rechts und links
der Straße gepflegte Gärten und Häuser mit gekreuzten Pferdeköpfen am Giebel. Sie sind typisch für die Region und sollen Unheil von den Menschen fernhalten.
Wir parken die Maschine, wandern
zum Wasser – und entdecken Afrika. Bis
zu 60 Meter hoch erheben sich Sandberge hinter dem Wassersaum, Dünen in Sahara-Format, Afrika-Impressionen an der Ostsee. »Alles ist weglos, nur Sand, Sand und Himmel«, schrieb Thomas Mann über die Nehrung. Laut einer Sage hat die Riesin Neringa einst diesen Sandwall aufgeschüttet, um die Fischer vor den Stürmen des Meeresgottes Bangputis zu schützen.

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Der Ausblick von den hohen Sandbergen ist beeindruckend: im Osten das Haff, westlich die Ostsee und im Süden
die russische Hälfte der Nehrung sowie
die Enklave Kaliningrad. Die verschlossene Grenze liegt keine zwei Kilometer entfernt. Und wer keinen Ärger mit litauischen
oder – noch unangenehmer – russischen Grenzsoldaten will, sollte nun langsam den Rückzug antreten. Also widmen wir uns dem verträumten Hafen Nidas, wo Bernstein an Verkaufsständen schimmert,
das »Gold der Ostsee«. Ein frischer Wind weht über die Dünen und ein paar hart gesottene Sonnenanbeterinnen hinweg. Immer mehr und vor allem junge Menschen entdeckten nun die Region, erzählt unsere Gastgeberin Birute Kargiriene in fließendem Deutsch. Vorbei die Zeiten,
als hauptsächlich ältere »Heimweh-Touristen« kamen, die ihre Kindheit im einstigen Ostpreußen verbracht hatten.
Der Rückweg nach Klaipeda führt
uns durch die malerischen, direkt am Haff liegenden Fischerdörfer Preila und Pervalka nach Juodkrante mit seiner endlosen Promenade an der Haffküste. Zurück auf dem Festland, sind Störche fortan unsere ständigen Begleiter. Bei Pagegiai verlassen wir die Hauptstraße und graben uns durch Schotter und Sand die Flussauen der Memel entlang, passieren ab und an ein kleines Dorf. Die Grenze zu Kaliningrad liegt wieder in unmittelbarer Nähe. Eine der neuen EU-Außengrenzen und offenbar schwierig zu kontrollieren. Geklaute Autos diffundieren nach Osten, Prostituierte und Drogen Richtung Westen. Den Austausch von Waren und Dienstleistungen stellte man sich in Brüssel vermutlich anders vor.
Der Rambynas taucht auf, ein ehe-
mals heidnischer und in Litauen sehr
bekannter Opferberg. Aus fünfzig Höhenmetern lässt sich das silbrige Band der Memel in der Ebene Litauens betrachten, an deren Ufer Kinder plantschen. Idylle und Trugbild zugleich, denn Schadstoffe aus Litauen und den Nachbarländern
haben den größten Fluss des Landes in gefährliche Kipplage gebracht.
Es ist kühl geworden, als wir in der Hauptstadt Vilnius ankommen, gespannt, ob das per E-Mail arrangierte Blind Date mit unserer Vermieterin funktioniert. Es klappt! Am Treffpunkt vor der Kathedrale stöckelt eine rot gekleidete Dame auf
uns zu. Angelina! Als Pärchen mit Motorrad sind wir leicht zu identifizieren.
Sie bringt uns zu einem wunderschönen Privatquartier am Rande der Altstadt.
In unserer Hinterhofidylle treffen wir die Malerin Elena Andrulienes-Jasienes. Mit den wenigen Worten Deutsch, die
sie noch aus ihrer Schulzeit kann, erzählt die 81-Jährige von den harten Zeiten unter sowjetischer Besatzung. Und vom Hass, den viele auf die Russen haben. Das Verhältnis zur einstigen Besatzungsmacht ist noch immer angespannt, doch EU- und NATO-Mitgliedschaft verhelfen zu neuem Selbstbewusstsein.
Am nächsten Tag schlendern wir durch die wunderschön renovierte Altstadt. »Rom des Ostens« wird die 540000 Einwohner starke Metropole genannt. Übrigens nicht nur wegen der Architektur. Bei einem
Cappuccino in der Fußgängerzone können
wir die anderen Schönheiten des Landes bewundern. Schlank und langbeinig stolzieren sie an uns vorbei. Offenbar geht es hier primär um eines: Wer trägt die höchsten Absätze, wer den kürzesten Rock? Die Fußgängerzone avanciert zum Laufsteg. Italienische Momente in Litauen.
Am nächsten Morgen bestimmt dagegen der sonntägliche Kirchgang das Bild. Auch wir lassen ein kleines Stoßgebet
für einen trockenen Tag los. Vergeblich. Eine weitere Regenfront zieht über die Stadt. Als es nachmittags aufklart, geht’s zur Burg Trakai, dem Nationalheiligtum der Litauer. Vom Ufer des Galve-Sees betrachten wir die rötlich leuchtenden Ziegelmauern. Da das Wetter hält, fahren wir nach Druskininkai, im Süden des Landes. Die Straßen – wie per Lineal gezogen, abwechselnd von Feldern und Wäldern flankiert.
Bei Grutas plötzlich Grenzpfosten, Stacheldraht, Wachtürme. Doch es ist nicht die nahe gelegene Grenze zu Weißrussland, sondern der gut bewachte Eingang zum umstrittenen Skulpturenpark von Grutas. Dutzende von Lenin- und
Stalin-Statuen, die einst auf öffentlichen Plätzen im ganzen Land die Symbole
sowjetischer Macht repräsentierten, bilden nun die Kulisse für den Familienausflug. Ein Viehwagen und Holzpfade sollen
an die Verschleppung hunderttausender Litauer nach Sibirien erinnern.
Auf dem Rückweg nach Vilnius geht
es an Bauernhäusern, Storchennestern und Pferdefuhrwerken vorbei. Hier im Grenzgebiet scheint die Vergangenheit noch existent. Und die Zukunft? Sieht nicht gerade rosig aus. Kleine Anbauflächen, geringe Produktivität sowie hohe Arbeitslosigkeit. Und ein aus Brüsseler Sicht viel zu hoher Agraranteil.
Wieder in Vilnius, fühlen wir uns wie am Ende einer kleinen Zeitreise: Lenin-Statuen, Pferdefuhrwerke, Natur und schließlich diese Stadt, die versucht, eine Brücke zwischen Tradition und Moderne zu schlagen.
Schicke Läden beherrschen die Hauptgeschäftsstraße, den Gediminas-Prospekt. Doch mit durchschnittlich 330 Euro Monatseinkommen können dort nur wenige shoppen. Der Aufschwung der letzten Jahre ist an den meisten vorbeigegangen.
Wir verabschieden uns von Angelina. Ihren offenbar extra dafür gelernten englischen Satz hat sie prompt vergessen. Hilfloses Schulterzucken, ein bezauberndes Lächeln und ein internationales »Ciao« ersetzen ihn charmant.
In einem Bogen geht es durch den von Seen und Wäldern geprägten Nordosten des Landes zurück zur Küste. Bei Siauliai weckt ein Rasseln und Klappern tausender im Winde wehender Holzkreuze und Rosenkränze unsere Aufmerksamkeit:
der Berg der Kreuze. Hier stellten die
Menschen Kreuze auf, um der Opfer des Stalinismus zu gedenken. Inzwischen ist aus dem gespenstischen Ort des Protests ein populärer Wallfahrtsort geworden.
Dann öffnet der Himmel abermals
seine Schleusen, und gewaltige Sturmböen fegen uns schier von der Bahn.
Nach drei Stunden Kampf retten wir uns auf die Fähre. Um ein Land zu verlassen, dessen Geschichte und Freiheitswillen
uns beeindruckt haben. »Wir in Europa« stand auf einem großen Transparent in
Vilnius. Herzlich willkommen, Litauen!

Infos

Litauen ist der größte und dicht besiedelste der drei baltischen Staaten: 3,7 Millionen Einwohner leben auf 65000 Quadratkilometern. Damit
ist Litauen größer als die Schweiz und hat immerhin
einen 293 Meter hohen Berg. Willkommen an der Ostsee.

D Anreise
Entweder über Land durch Polen (anstrengend, langwierig, nur Landstraßen) oder per Fähre über die Ostsee: Von Kiel aus gibt es regelmäßige Verbindungen nach Klaipeda, Fahrzeit 19 bis 21 Stunden, ab etwa 100 Euro inklusive Motorrad. Näheres unter www.scandlines.de und Telefon 01805/7226354637. Von Sassnitz auf Rügen verkehrt dreimal wöchentlich ein Frachtschiff, auf dem begrenzt Touristenkabinen bereitstehen und das eine besondere Bord-Atmosphäre bietet. Fahrzeit 18 Stunden, Infos unter Telefon 038392/22681. Deutsche
benötigen für die Einreise ins EU-Land Litauen lediglich den Personalausweis, aber unbe-
dingt die Grüne Versicherungskarte. Besonders empfehlenswerte Reisemonate sind Mai bis September, für Juli und August sollten Hotels rechtzeitig gebucht werden.
D Historie
Ab 1944 war Litauen unter sowjetischer Herrschaft und lag fast 50 Jahre lang hinter dem Eisernen Vorhang. Noch in den 50er Jahren kämpften tausende Partisanen gegen die Rote Armee. Unter dem Einfluss von Gorbatschows Perestroika führte Litauen den Kampf der
besetzten Republiken gegen die sowjetische Herrschaft an. Die Demokratiebewegung
Sajudis fand in der Bevölkerung zunehmend Zuspruch, gewann die Wahlen im Februar 1990 und rief die Unabhängigkeit aus. Hardliner
im Kreml schickten Truppen, um die Unabhängigkeitsbewegung niederzuschlagen, wobei viele Menschen ums Leben kamen: Zivilisten,
die das Parlament und den Fernsehturm in Vilnius mit ihren Leibern schützten, wurden von sowjetischen Panzern überrollt. Erst
mit dem fehlgeschlagenen Putsch gegen
Gorbatschow im Sommer 1991 kam die Wende. Der Westen erkannte die Unabhängigkeit
Litauens an, im selben Jahr wurde das Land Mitglied der Vereinten Nationen und im Mai 2004 schließlich Mitglied der EU.
D Essen & Unterkunft
Größere Orte bieten reichlich Auswahl an
Restaurants und Cafés mit einheimischen
und internationalen Gerichten. Die litauische Küche ist einfach, es gibt meist Fleisch,
Gemüse, Kraut, Kartoffel und Knödel. Nicht leicht, aber schmackhaft! In der Hauptstadt Vilnius finden sich auch Pizzerien und Fastfood-Restaurants. Die Preise sind an der
Küste etwas höher als im Inland, aber immer noch deutlich niedriger als hier zu Lande.
In allen Städten gibt es Hotels unterschiedlicher Preisklassen sowie auf der Kurischen Nehrung nette und günstige Privatquartiere, meist in den traditionellen Holzhäusern.
D Motorradfahren
Straßenzustand und Verkehrsaufkommen
sind überaus angenehm. Nur fehlen auf Landstraßen oft Wegweiser, so dass eine gute
Karte wichtig ist. Es gibt zwei Autobahnen:
Die A1 von Klaipeda nach Vilnius (312 Kilometer) durchquert den südlichen Teil des
Landes, die A2 von Vilnius nach Panevezys (135 Kilometer) führt durch den Norden.
Die Tankstellen konzentrieren sich vor allem um die größeren Ortschaften. Sie bieten
bleifreies Benzin (92 und 95 Oktan) etwa
ein Drittel günstiger als in Deutschland an.
D Literatur & Internet
Empfehlenswert sind »Litauen« von Reise Know-How für 14,90 Euro sowie der gleichnamige Titel von Marianna Butenschön aus der Beck’schen Reihe für 12,90 Euro. Außerdem der Baedeker »Baltikum« mit Reisekarte in 1:750000 für 19,95 Euro. Karten: Shell EuroKarte »Baltische Staaten«, 1:750000; World mapping project »Litauen und Region Kaliningrad«, 1:325000. Buchhandlungen vor Ort bieten für zwei Euro eine gute Karte in 1:500000.
Internet:
www.litauen-info.de
www.litauen.org
www.baltikuminfo.de

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Erscheinungsdatum 15.09.2023