Aber nur ohne diese hässliche Brille.“ Die Besitzerin des Dorfladens in Acceglio reißt ihr Kassengestell von der Nase und rüstet sich fürs Foto. „Probieren Sie inzwischen die Aprikosen. Ganz frisch!“ Zack, liegen die Früchte auf dem Tresen. Zwischen Haarspangen, Salami, Mottenkugeln und Kräuterlikör. „Auch diesen Käse dürfen Sie nicht versäumen.“ Triumphierend reckt die Dame ein bedrückend lebendig aussehendes Milchprodukt empor: „Castelmagno, sechs Monate alt! Eine Spezialität des Piemont.“ Kuckucksuhren, Kabelbinder, Perlenketten, Kehrichtschaufeln: Der Laden ist vollgestopft bis unters Dach, das Sortiment unerschöpflich. Was die rührige Chefin sichtlich befriedigt – ebenso, dass man sie jetzt inmitten ihrer Schätze fotografiert. Ein prüfender Blick in den Spiegel: „Hätten sie gedacht, dass ich schon 67 bin?“ Niemals. „Und diese Zähne“ – Sie verzieht den Mund zu einem breiten Lächeln – „diese Zähne, Mesdames, sind alle echt!“
Sie bedient auf Französisch, „das ist gut fürs Geschäft, gerade mit Touristen“. Viele kämen allerdings nicht. Ein paar Radler, ein paar Wanderer, an den Wochenenden ein paar mehr. Sie lächelt verschmitzt: „Vielleicht ein Schnäpschen?“ Unser Einwand, wir seien mit Motorrädern da und wollten eigentlich nur Brot für ein Picknick, verpufft. Jetzt müssten wir zuschlagen, nachher sei der Laden zu. Sie müsse doch ins Krankenhaus, ihren Mann besuchen. Ach so.
Zwei überquellende Plastiktüten im Schlepp stehen wir später draußen, grübelnd, ob sie uns nun eine Barbiepuppe aufgeschwatzt hat oder nicht – und wie wir den Plunder auf unseren Bonsai-Bikes unterbringen. Als Packesel wurde die Tricker nicht konzipiert. Yamaha dachte eher an ein Funbike für die City.

Aber das erfüllt nun wiederum Acceglio nicht. Klein, arm, 237 übrig gebliebene Einwohner. Eine Tankstelle mit Bar, zwei Restaurants, ein paar Gästebetten. Letzte Versorgungsstation im Valle Maira, bevor es nur noch auf Wanderwegen weiter ins italienisch-französische Grenzgebirge geht. Landschaftlich High-, wirtschaftlich das Dead-End der Alpen. Abwanderungsgebiet, 2,5 Einwohner pro Quadratkilometer. Genau wie die anderen Stichtäler, die sich westlich von Cuneo in Richtung Frankreich bohren. Manche so entlegen und vergessen, dass selbst die Reiseführer daran vorbeischreiben.
Mit schweren Rucksäcken schwingen wir hoch über der tosenden Maira durch Maddalena und Prazzo, deren Namen wie wider das Vergessen meterhoch an den Fassaden prangen. Geschlossene Gaststätten, leer stehende Häuser. Der blaue Bus nach „Michelin“ donnert vorbei, einer der großen Arbeitgeber aus dem Turiner Fiat-Dunstkreis. Unten in der Provinzhauptstadt Cuneo beschäftigt er über 2700 Leute. Keine 60 Kilometer davon entfernt: Elva. Die ärmste Gemeinde Italiens, am winzigen Colle di Sampeyre. Dort wollen wir hin. Bei Ponte Marmora geht’s ab – und sofort zur Sache. Eng an den Fels gekrallt, krabbelt das marode Sträßchen Kurve an Kurve durch die bizarre Elva-Schlucht. Fahrbahnbreite knapp über Handtuchniveau, Steigungsmaxima 15 Prozent! Nichts für lange Radstände oder Sonntagsfahrer. Zwei verunsicherte Sofarollerpiloten kriechen dicht an der Wand lang vor uns her. Überholen ausgeschlossen. Wir sitzen die Sache an der Madonna del Vallone aus, sprechen ein paar Fürbitten zum Schutze aller Schnecken.
Oben in Elva bemüht sich die trutzig-alpine Kirche im Verein mit der Dorfbar um so etwas wie Urbanität, der steile Absturz ins Mairatal folgt unmittelbar hinter den letzten Häusern. Noch fünf Kilometer bis zur Passhöhe, freies Fahren unter strahlend blauem Himmel, weite Schwünge, knallgrüne Wiesen – und das Gefühl zu schweben. Genau das wollten wir. Und genau das gibt es nur in abgeschiedenen Alpenregionen, wo außer Landschaft und Murmeltieren nichts mehr ist.
Eine kleine Holztafel markiert die Passhöhe, 2248 Meter über null. Von links kreuzt ein alter Militärweg, der dem Gebirgsrücken weit hinab in die Poebene folgt. Bis zum Nachmittag, der mit tieffliegenden Regenwolken kommt, spielen wir drauf herum. Trockenheit verspricht nur noch die Nordrampe des Sampeyre zum gleichnamigen Ort im Valle Varaita. War zwar nicht geplant, aber nass werden auch nicht. Runter! 1300 Höhenmeter, ungezählte Schafe und Kurven, Trilliarden rot blühender Pflanzen, die keck aus einer sanftgrünen Hochmoor-Landschaft hervorspitzen. Alpine Vegetation trifft auf mediterrane, nirgends sind die Berge schmuckvoller als hier am Südende des Alpenbogens, an der Kontaktstelle zwischen Mittelmeer und Hochgebirge. Auf einem exponierten Felsplateau werden die tonnenschweren Rucksäcke endlich von den Schätzen der netten Dame befreit. Bananen, Brot, Salami – Barbie ist gottlob nicht dabei.
Reisen mit der Tricker

Eins vorneweg: Yamaha hätte ja sehr gern, dass wir „der“ und nicht „die Tricker“ sagen. Das machen wir aber nicht. Schließlich sagt ja auch kein Mensch der Suzuki Bandit oder das KTM Adventure – weil es nun mal die (!) Motorrad heißt. So einfach ist das. Und damit zu Yamahas eigentlichem Problem mit der (!) Tricker: Man weiß nämlich nicht recht, wohin damit. Wie anbieten? Und vor allem: wem? Selten taten sich Marketingstrategen so schwer, ein Motorrad zu promoten. Zwei Räder, ein Motor, fertig. Keine 190, sondern 19 PS, keine 1000 Kubik, sondern 250. Kein Titan, kein ABS, kein schrilles Layout – noch nicht mal schwarze Blinkergläser oder so. Und damit fehlen die Schlagworte, um das Volk vom Tricker-Konzept zu überzeugen.
Komisch eigentlich: Bei einem sündteuren Hypersportler – die Knie des Piloten in die Achselhöhlen zwängend, seine Nase zwischen die Instrumente, um ihn alsdann fröhlich in die Umlaufbahn zu schnipsen – da bleiben keine Fragen offen. Wenngleich so ’ne Rennfeile im echten Leben garantiert nicht viel mehr Sinn macht wie eine Tricker: Man sitzt ähnlich unbequem, kann ebenso schlecht damit verreisen und findet nur selten artgerechte Lebensbedingungen, den Hobel von der Leine zu lassen. Dennoch wird beispielsweise eine YZF-R1 als Vollwert-Moped gehandelt, während sich die Tricker zum „Einkaufsflitzer für Wohnmobilfahrer“ oder „mobilen Infotainment-System“ (O-Ton Yamaha) stempeln lassen muss. Tolle Idee! Klingt echt nach prickelndem Fahrspaß.

Wahr ist, dass die kleine, leichte Trial-Enduro in jeden einigermaßen ausgewachsenen Kombi passt und auch in der Stadt überzeugt. Was Yamaha hingegen verschweigt, ist die Tatsache, dass die Tricker ganz normal fährt. Und ganz normal bremst und blinkt und hupt. Und federt und dämpft und spurt. Topstabil bis 120 km/h, extrem handlich in Kurven, zu Hause auf jedwedem Straßenbelag. Okay, an der Sitzposition – Hintern knapp überm Boden, Hände recht weit oben – gilt’s zu feilen, um in der B-Note gut rüberzukommen. Ansonsten jedoch läuft alles wie von selbst.
Warum wir die Tricker fürs Piemont gewählt haben? Sie kommt überall hin, hoch und durch, ohne ihre Umwelt über Gebühr zu beanspruchen. Sensible Landschaften verlangen nach sensiblen Motorrädern, die weder zu dick noch zu laut auftragen. Darin liegt die Stärke des ausreichend druck- und drehfreudigen Einzylinders – und in seiner fröhlichen Art, dich immer weiter zu treiben. Immer höher hinauf, immer tiefer in die Zeitvergessenheit. Ernüchternd wirkt nur grobes Geröll, von dem das 19-Zoll-Vorderrad in alle Richtungen abspringt.
Wegwerfen wird man die Tricker dennoch selten, und wenn, dann ungestraft, weil eigentlich nichts dran ist, was kaputt gehen kann. Aufreibend sind der Leistungsverlust in dünner Höhenluft und die minimale Reichweite von durchschnittlich 130 Kilometern, was nicht etwa auf rüde Trinksitten, sondern auf den Bonsai-Tank zurückzuführen ist: Sechs Liter sind ziemlich genau sechs zu wenig für einigermaßen sorglose Hochgebirgstouren.
Piemont und Hautes-Alpes mit Yamaha Tricker (3)

Die neben uns in Stellung gegangene BMW-Gore-Tex-Combo knallt souverän die Klapphelme zu und donnert ins Gewitter. Kein Weg für uns. Es muss eine Alternative geben. Fieberhaft scannen wir Landkarten und Umfeld ab. Da! Da unten, vielleicht 200 Meter senkrecht zu unseren Füßen, eine fadendünne Piste. Mit etwas Glück mündet sie auf die D 64, im ungünstigeren Fall landen wir irgendwo in der Provence. Egal, den Mutigen gehört die Welt. Wir finden den Einstieg – und einen Heidenspaß daran, dem Prior der Alpen per Notausgang legal zu entwischen. Ein paar Kehren, ein paar Kilometer Staub, dann die fast lautlose Landung zwischen farbenprächtigen Wäldern, Wiesen und Wasserfällen inmitten des Nationalparks Mercantour.
Es wird Abend, bis wir am Col de la Lombarde zum Rückflug nach Italien einsteigen. Überbreite Kehren katapultieren uns in die hoch gelegenen Abgründe der Ski-Retorte Isola 2000. Von Bulldozern umgekrempelte Berge, reißende Gewässer – braun und schwarz von mitgeschwemmtem Erdreich. Endzeit. Dahinter der klitzekleine Anstieg zum Col, und auf italienischer Seite erst mal wieder Idyll. Stunden scheinen wir von 2351 Metern ins Valle Stura hinabzusegeln. Demonte fängt uns schließlich bei 780 Metern auf. Eine ehemals hübsche Kleinstadt mit alten Arkadengängen, unter denen die Männer in der Bar sitzen und die Frauen auf der anderen Straßenseite, strickend, vor der Bonboniere. Nach einem Bier bei „Herren“ quartieren wir uns im Hotel „Moderna“ ein. Zustand und Kosten egal, Hauptsache heiße Dusche und Seife.

Morgens brandet der Verkehr, mächtige Lkw bahnen sich den Weg durch die eng stehenden Häuser. Schicksal der Anrainerschaft am provinzweit einzigen schwerlasttauglichen Übergang nach Frankreich. In vollem Kontrast dazu die fast parallel verlaufende Traumstrecke durchs Vallone dell’Arma, die in eine Art Hochkessel zwischen Stura- und Mairatal führt, aus dem sich schroffe, stark erodierte Bergspitzen erheben. Monte Omo, Rocca la Meia, Becco Grande, 2615, 2831 und 2775 Meter über null. Zusammen mit ein paar Rennradlern klettern wir hinauf. Rund herum eigenwillige Kargheit, kaum ein Strauch, der hier noch leben könnte. Aber jede Menge Erholung suchende Italiener, die hier oben Wochenende feiern. Campingtische und ein paar Zelte unweit der Wege, auf denen sich Mountainbiker, ein paar Motorrad- und versprengte Autofahrer vergnügen. Die Spielregeln sind klar: keine Fahrzeuge auf Wanderwegen! Kein Herumgebolze, kein Krawall.
Wir probieren ein paar Wege und finden schließlich eine teerschwarze Piste runter nach Acceglio – ebenfalls in Wochenendstimmung. Schade, dass der charmante Dorfladen zu ist. Heute gingen bestimmt auch Barbiepuppen.
Piemont und Hautes-Alpes mit Yamaha Tricker (2)

Sampeyre von oben – na ja. Plattenbau ist überall. Hässliche Betonbunker zerstören das erhoffte Bild von der idyllischen Berggemeinde, die Anmut platt gefahrener Skihänge erledigt den Rest. Bei genauerem Hinsehen entwickelt das Städtchen dennoch so was wie Charme. Mit Läden, Lokalen und Geldautomat an der Piazza, wo ein Rummelplatz gerade zusätzlichen Trubel intoniert. Angesichts der Nähe zum Colle dell’Agnello, einem der höchsten Alpenpässe überhaupt, spielt die örtliche Agip-Tankstelle allerdings die Hauptrolle. Also randvoll tanken, stolze sechs Liter, und dann hinauf ins All. 2744 Meter sind für eine vergaserbestückte Mikro-250er eine wirklich ernste Ansage.
Trotz atemberaubender Steigungen und Serpentinen wirft sich die zehn Kilometer lange Südostrampe des Colle scheinbar mühelos in die Luft. Streckenweise einer Carrera-Rennbahn ähnelnd, käme selbst ein Looping nicht wirklich überraschend. Nur würde die Tricker das nicht mehr packen. Keuchend schafft sie die 2300-Meter-Marke. Bis dahin lief alles perfekt. Angefeuert durch fröhliche Begeisterungsrufe picknickender Italiener stob der kleine Viertakter gen Himmel. Aber jetzt ist Schicht. Im zweiten Gang geht fast nichts mehr, der erste – kreisch – zu kurz. Sprotzend um Atem und Höhenmeter ringend, kriegt der kleine Trialer gerade noch die letzte Kehre beim Rifugio degli Alpini. Noch zwölf Höhenmeter bis zur französischen Grenze, sind 0,236 Kilometer bis zum Pass. Hinter uns glüht der 3841 Meter hohe Monviso, im Gegenlicht vor uns die Schattenrisse der französischen Gipfel. Unprätentiös, ewig, schön. Für diesen Anblick hätten wir die Tricker sogar hierher getragen.
Unten glimmen die Lichter des Refuge d’Agnel, wo wir nach ein paar schnellen Downhill-Schleifen tatsächlich noch zwei freie Stockbetten ergattern. Der Wirt, obwohl todmüde und seit 17 Stunden im Dienst, schiebt die Kochtöpfe noch mal übers Feuer. Seit 32 Jahren versorgt François Laget hier oben Alpinisten. Im Sommer die Wanderer, im Winter die Tourenskifahrer. Berührungsängste mit Motorradlern hat er nicht, und statt endlich ins Bett zu gehen, gesellt er sich auf einen Schwatz zu uns.

Bei Sonnenaufgang poltern die ersten Bergstiefel über die Dielen, reißen uns aus den Federn. Draußen glasklare Luft, Tau auf den Gräsern und dieses wundersam blaue Morgenlicht. „Früher Vogel fängt den Wurm“ – unserer heißt „la Bonette“. Höchster Punkt der alpinen Teerwelt, 2802 Meter über null. Trickers Atemnot hin oder her: Wir müssen da hoch. Wann, wenn nicht jetzt? Vielleicht kommen wir ja nie wieder so nah dran. Die Abfahrt lehrt uns die Unterschiede zwischen Frankreich und Piemont: Col d’Agnel statt Colle dell’Agnello, Dächer aus Blech statt Stein, an den Fassaden Blumen anstelle der Vendesi-Schilder, in den Läden Kunst statt Ken & Barbie. Gerade als es gemütlich zu werden droht, geraten wir nach St. Véran. Französisches Vorzeige-Dorf! Verkehrsberuhigt, überrestauriert und beachtlich arrogant. Statt schlichter Armut nun inszenierte Historie.
Noch 70 Kilometer bis zur Talstation des Bonette, dazwischen das Wildwasser der Gorge du Gueil und der vergleichsweise harmlose Col de Vars. In Jausiers die Tanks noch mal gefüllt, dann gilt’s: 1600 Höhenmeter müssen geknackt werden, um Napoleons Vermächtnis abzubügeln. Vorbei an Festungsruinen und graugrünen Geröllfeldern führt der Pass in eine schwarze Steinlandschaft. Auf den letzten Kilometern bläst eisiger Wind, Murmeltiere flitzen in ihre Löcher, und schön ist es hier oben streng genommen nicht. Okay, ohne Gewitterwolken sähe die Sache vielleicht freundlicher aus. Pechschwarz rollen sie an und begraben binnen Minuten die Südrampe der Route de la Bonette. Regenzeug wäre jetzt gut. Liegt aber leider auf dem Campingplatz hinter Acceglio im Zelt. Schließlich wollten wir – vorgestern – ja bloß zum Picknick.
Die Krisenregion der Alpen
Sie sind das Bindeglied zwischen Mittelmeer und Hochgebirge: Fast am Südende des Alpenbogens angesiedelt, bilden die Cottischen zusammen mit See- und Ligurischen Alpen die Kontaktstelle zwischen See- und Hochgebirgseinflüssen. Mediterrane Vegetation konnte weit in die Berge vordringen und dort eine der artenreichsten Regionen des gesamten Alpenraums ausprägen. Auch die Tierwelt zeigt sich dort ungewohnt vielfältig. So streifen seit den 90er Jahren neben Gämsen und Wildkatzen sogar wieder scheue Wolfsrudel durch die dünn besiedelten Berge. Gleichzeitig sorgten teils extreme Erosion und vielfältige Gesteinsarten für markant ausgeprägte Felsformationen.
Der Alpenhauptkamm verläuft hier in Nordsüdrichtung, so dass sich die Täler rechtwinklig dazu vom französisch-italienischen Grenzgebirge Richtung Osten in die Poebene erstrecken. Nur an wenigen Stellen sind sie mittels winziger Übergänge verbunden. Auch nach Frankreich führen bis auf den gut ausgebauten Colle della Maddalena nur wenige, sehr hohe und enge Pässe wie der Colle dell’Agnello, dennoch waren in früheren Jahrhunderten die Beziehungen nach Frankreich ausgeprägter als zum Mutterland Italien.
Entsprechend kommen Touristen im Valle Stura, Maira oder Varaita nicht einfach so vorbei. Dorthin fährt man gezielt. Und meist auf demselben Wege wieder hinaus, da die winzigen Verbindungen auf vielen Karten gar nicht erkennbar sind. Keine besonders guten Voraussetzungen für eine Neuorientierung der Täler, als die traditionellen landwirtschaftlichen Erwerbszweige, die sehr effizient betrieben wurden, im vorigen Jahrhundert allmählich an Bedeutung verloren. Und eine Abwanderung in die tieferen Talregionen einsetzte, hin zu den neu entstehenden Industriezentren rund um Turin, wo Fiat zu seinen Boomzeiten den größten Arbeitgeber Italiens stellte.
Um Alternativen in den Bergen hat man sich nie gekümmert, wie Experten heute kritisieren. Das Bergland hatte reine »Zulieferfunktion« für die tieferen Lagen, eine neue Existenzgrundlage – beispielsweise im touristischen Bereich – wurde nicht gefördert. Entvölkerung der stillen Seitentäler war und ist die Folge, oftmals ist lediglich noch der Hauptort bewohnt. Läden und Schulen schließen, zurück bleiben meist nur die Alten.
Seit einigen Jahren gibt es erste Impulse für einen sanften Tourismus. So wurden nach Vorbild der französischen Alpen, wo der Entsiedelungsprozess schon früher eingesetzt hatte, Wanderprojekte entwickelt. Im Piemont entstand mit dem Grande Traversata Delle Alpe (GTA) ein weit verzweigtes Fernwander-Wegenetz vom Wallis bis ans Mittelmeer. Gezielt wurden Wirte angeworben und ungenutzte Übernachtungsquartiere in den alten Dörfern wieder belebt. Eine Idee, die auch für Motorradreisende attraktiv ist. Wer dem asphaltierten Straßennetz der Region aufmerksam folgt, wird oft auf kleine Läden, Bars und Albergos stoßen. Sie sind die einzige Chance der Region, und wir können sie nutzen und fördern. Eine noch dünne, aber neue Existenzgrundlage. Klar, dass hier vor allem Endurofahrer zu größter Behutsamkeit aufgerufen sind, denn nur in respektvollem Miteinander hat die Region eine Zukunft. Allgemein genutzte Schotterwege können mit der nötigen Umsicht befahren werden, auf Wanderwegen jedoch herrscht striktes Fahrverbot. Wer zurückhaltend sein Naturerlebnis sucht, wird im Piemont freundliche Aufnahme finden, rücksichtslose Krawall-Crosser bekommen indessen vermutlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Zu Recht, wie wir finden! (Siehe auch Kasten auf Seite 102.)
Infos zur Tour

In vielen Reiseführern scheinen die stillen Täler des südlichen Piemont ein weißer Fleck. Nur Wanderer, Mountainbiker und Motorradfahrer steuern gezielt die kargen Felsen der Cottischen Alpen an.

Anreise
Am schnellsten via Gotthard oder Brenner den Alpenhauptkamm überqueren und in Italien per A 4 nach Turin. Dort entweder gleich nach Südwesten ins Gebirge klettern oder die Stadt umfahren und auf A 6 und SS 20 bis Cuneo.
Reisezeit
Die komplette Route ist nur von Mitte Juni bis Ende September sicher befahrbar, da mit Colle dell’Agnello und Route de la Bonette die höchsten Pässe des gesamten Alpenraums einbezogen sind. Wer sich auf die italienische Seite und die Täler im Piemont konzentriert, kann je nach Schneeverhältnissen bereits ab Mai und bis in den Oktober unterwegs sein.
Unterkunft und Gastronomie
Jenseits der Ski-Zentren Susa, Isola und Sestriere bemüht man sich im Piemont primär um sanften Tourismus und wandernde Gäste. So finden sich entlang der Strecke stets pausenfreundliche Refugios oder Bars sowie Albergos mit Posto Tappa (einfache Wandererunterkunft) für die Nacht. Beispielsweise im oberen Mairatal in Elva, Acceglio und Prazzo sowie an den Auffahrten zu den Pässen. Im Einklang mit der rucksackorientierten Minimalausstattung gefielen uns diese einfachen Unterkünfte gut. Da viele Quartiere nur über wenige Zimmer oder Betten verfügen, geben wir keinen speziellen Tipp, sondern verweisen auf die Adressen in den empfohlenen Wanderführern. Camping – in Italien durch Wohnwagen-Pferchplätze meist abtörnend – ist im oberen Mairatal passabel möglich.
Die Strecke
Ohne eine extrem detailfreudige 1:200000er-Karte ist die Route kaum zu entdecken. Dafür aber unschlagbar in Sachen hochalpinem Fahrspaß und Naturerlebnis. Obwohl durchgehend asphaltiert (nur für die Tricker wurden ein paar Schotterpassagen eingebaut) sind Pässe wie der Colle di Sampeyre und die tolle Verbindung von Demonte über Marmora ins Mairatal nur fadendünn verzeichnet. Tatsächlich sind diese Straßen gerade mal autobreit, doch zum Teil ganz neu asphaltiert und für Motorradfahrer hochgenial. Vorsichtige Fahrweise ist auf diesen oft völlig ungesicherten Strecken freilich oberstes Gebot. Am Col de la Bonette stellt die kurze Piste Richtung St. Etienne nur eine Alternative zur geteerten D 64 dar.
Literatur
Die Südwestecke des Piemont bleibt in der gängigen Reiseliteratur unerwähnt. Interessante Hintergrundinformationen sowie Tipps zu Quartieren in den kleinen Dörfern bieten aber zwei Wanderführer: von Werner Bätzing „Grande Traversata Delle Alpe (GTA) Teil II“, Naturpunktverlag, 22,50 Euro, sowie (etwas eingeschränkt und nur für das Valle Maira) von Ursula Bauer und Jürg Frischknecht „Antipasti und alte Wege“, Rotpunktverlag, 22 Euro. Gute Motorradtipps gibt Markus Golletz in „Motorradrouten in Norditalien“, Bruckmann, 17,90 Euro. Top-Karten liefern Mairs und Kümmerly & Frey mit den 1:200000er-Blättern „Piemont, Aostatal“. Bei beiden fehlt der französische Routenteil mehr (K &F) oder weniger (Mairs). Dort kann aber notfalls per Übersichtskarte (oder Michelinblatt 528) navigiert werden.