Eine Schnapsidee
Irgendwann vergisst man zu zählen. Sind 18 oder gar 19 Monate vergangen seit unserer letzten Tour? Egal, zwei wären schon zu viel. Aber was willst du machen? Als Sklave des Alltags? Seit Ewigkeiten planen Andreas und ich, mal wieder einfach drauflos zu fahren. Seit Ewigkeiten kommt irgendwas dazwischen. Kind plötzlich krank, Kind plötzlich da, Banktermin, Eltern zu Besuch, Zimmer ausbauen, Garten umgraben - irgendwas ist immer.
Gemeinsame Events reduzieren sich nur auf Schwimmen, Radeln oder Grillen. So wie an diesem Abend im Mai 2009. "Mist", sagt Andreas, "die Flasche Grappa ist leer. Ich bring dir beim nächsten Mal wieder eine mit."
Ich schaue auf das Etikett: Nardini Aquavite Riserva. "So einen bekommst du hier nicht so einfach." Wir sitzen neben dem Lagerfeuer, Funken sprühen, die Kinder sind im Bett, die Frauen vorm Fernseher. "Wären wir jetzt noch 20, würden wir einfach eine aus Italien holen. Eine echte. Werksmaterial sozusagen." Das Holz prasselt, Minuten vergehen. Wir schauen uns an. Irgendwann gibt es keine Ausreden mehr. Man sollte das Leben nicht immer auf den nächsten Tag verschieben. "Morgen früh Punkt neun", sagt Andreas, "vier Tage sollten reichen." Ich schlage ein: "Hand drauf!"
Um neun regnet es. Bedröppelt schaue ich auf den Reifen meiner Suzuki Gladius: Dunlop Sportmax Qualifier. Ein Gummi, der die Feuchtigkeit so liebt wie der Fisch das Land. "Keine Ausreden", sagt Andreas. Schlechte Reifen, mieses Wetter? "Denk an früher", sagt er. Und ich denke zurück an die vielen gemeinsamen XT-Touren: kein ABS, kein Fahrwerk, keine Bremsen. Alpen extrem. Beim scharfen Bergabfahren konntest du den Bremsgriff nach der dritten Kurve bis an den Lenker ziehen. So what?
603 Kilometer einfache Strecke von der Haustür bei Stuttgart bis zum Berggipfel des Monte Grappa nahe Bassano, der Stadt, in der wir die Flasche kaufen wollen, berichtet Google. Wenn man Autobahnen ausgrenzt. Und das werden wir tun: quer über die Alp, die Lechtaler Alpen, vorbei an den Dolomiten und rein in die Vicentiner Alpen. Es ist Feiertagsverkehr, viele Biker sind unterwegs.
Nahe Gomadingen kommt uns ein Geschwader neuer BMW-Maschinen entgegen. Sie grüßen nicht zurück. Ob‘s an der zierlichen Gladius liegt? Zwiefalten auf der Alb, endlich hört der Nieselregen auf. Lichtblicke Richtung Süden. Die Wolken, eine Melange aus Grautönen, der Asphalt abgetrocknet, fern am Horizont glüht Hoffnung auf Wärme. Bad Buchau, Bad Wurzach, Isny - die Wolkendecke bekommt langsam Lücken. Endlich Sonne. Von Hindelang geht‘s über den Oberjoch-Pass zum Hahntenn-Joch.

Dort stoppt uns ein Schild: "Wintersperre ab Passhöhe" prangt unübersehbar auf dem Wegweiser. Gleich daneben der Hinweis: "14 Tonnen". "Na, was jetzt?", sagt Andreas, "da liegen wir doch locker drunter." Ob die Schilder tatsächlich in Verbindung zueinander stehen? Ein paar Biker kommen den Berg runter, wir stoppen sie, wollen wissen, ob sie von der anderen Seite kommen. "Keine Chance", sagt ein Kerl auf einer KTM Supercompetition, "der Schnee liegt meterhoch."
Es ist Mitte Mai, ich nehm‘s ihm ab. Wir wenden uns Richtung Flexen-, Arlberg- und Reschenpass. Eine Baustelle im Tunnel stoppt den Verkehr. Auf der Pole Position der Warteschlange drängeln sich unzählige Motorradfahrer. Wir kommen uns vor wie Teil einer Invasion. Nichts für uns, Fahrer mit Pfadfindergedanken. Das Stilfser Joch ist ebenfalls noch geschlossen, so stranden wir abends in Kastelbell irgendwo vor Meran. Kleines Kaff, kleines Zimmer, nette kleine Bar, Holzofenpizza. Blick aufs Tal, wo tausende Obstbäume von den silbrigen Schweifen der Wasserwerfer geküsst werden. Als ich die junge Frau, die uns die Pizza bringt, frage, wo denn hier heute was los ist, beginnt sie zu lachen. Sie lacht beim Servieren, lacht beim Zurückgehen und lacht Minuten später noch in der Küche.
Als sie uns am nächsten Morgen sieht, lacht sie wieder los, schüttelt den Kopf und echot: "Wo ist hier was los...?" Auf der Weiterfahrt sinniere ich über den Auslöser ihrer Heiterkeit. Ist hier wirklich nichts los, oder sehe ich aus, als würde ich nichts los machen können? Wir brechen unseren Vorsatz und stoßen bei Bozen kurz auf die Autobahn. Schmelzwasser tost in den Flüssen Adige und Isario. Bei Bozen Nord verlassen wir die Bahn, um unseren Pfadfinder-Hunger zu stillen: Eine kleine, zauberhaft einsame Straße schraubt sich von Prado aus kehrenreich nach oben. Zum Greifen nah, dennoch gut 15 Kilometer Luftlinie entfernt, sticht der 2564 Meter hohe Schlern aus den bepuderzuckerten Gipfeln. Ein gigantisches Panorama, das zur Pause ködert.
Für Momente wie diesen sind wir aufgebrochen. Wasserflasche, Wurst, Käse, Brot raus. Gevespert wird auf einem Baumstumpf. Stille sackt über uns zusammen wie eine flauschige Decke. Wir sind beide Ü40. Sind wie so viele unserer Altersgenossen termin- und verpflichtungshörig. Doch fast scheint es, als wäre diese Tour, wären diese vier freien Tage ein wuchtig gestanztes Loch in unserem durchgeplanten, gehetzten Dasein. "Weißt du", presst Andreas neben der Zigarette heraus, "ist eigentlich egal, ob sie am Monte Grappa das Zeug verkaufen oder nicht. Es ist gut, ein Ziel zu haben. Aber noch viel wichtiger ist es, einfach aufzubrechen."
Unterwegs zum Monte Grappa

Wir schrauben uns durch luftigen Baumbestand nach oben. Niger-Pass steht auf einem Schild. Dann mündet dieser kleine Weg auf die Landstraße 241. Auf teils großlöchrigem Asphalt überrollen wir den Klarer-Pass und finden uns inmitten von Dutzenden Bikern wieder, die scheinbar alle Richtung Dolomiten unterwegs sind. Und bummeln statt fahren. Ein Korso. Gruppenreise, Wallfahrt. Kein Spaß mehr.
Unsere Tanks sind beinahe leer. Es ist Mittag in Italien, Tankwarte halten Siesta und tanken mit Karte ist mitunter so sicher wie die Vorhersage der Lottozahlen. Wir fischen die letzten Bargeldreserven aus den Taschen, pumpen die Tanks randvoll und entscheiden uns nach einer Riesenportion Penne al arrabiata, nicht dem Mainstream Richtung Pordoijoch zu folgen, sondern in Moena abzufahren und den kleinen Luisa-Pass mit 2250 Höhenmetern mitzunehmen.

Doch es ist vertrackt: Seit 25 Jahren durchstreift man die Alpen, und trotz immenser Erfahrung passieren immer noch die gleichen Dinge: Wir finden den Einstieg nicht, folgen der verträumten Landstraße 346 zum San-Pellegrino-Pass über den malerischen Valtes-Pass. Dann spuckt uns die Einsamkeit wieder aus. Auf dem bestens geteerten Rolle-Pass sind wir plötzlich wieder inmitten von Dutzenden Bikern, und erst 40 Kilometer südlich wieder allein. Mittlerweile ist es 18 Uhr.
Auf der Suche nach dem Einstieg zur Straße, die uns zum Ziel führen soll, irren wir durch Seren del Grappa. Es ist ein wundervolles Irren - knatternde Vespen, röchelnde Apes, schwarz gekleidete Alte mit tiefen Schneisen der Weisheit im Gesicht auf maroden Holzbänken, neben Fußball tobenden, dunkel gelockten Kindern. Blühende Gärten hinter schiefen, altersschwachen Steinhäusern unter einer honigfarbenen Sonne, die ihr weiches Licht wie eine milde Gabe verteilt. Ein Ort, der der Zeit trotzt. Touristenfrei. Abgelegen. Selbstbewusst. Wie eine einsame Insel, auf der das Gefühl von Beständigkeit in jedem noch so kleinen Winkel spürbar ist. Ein Stück Italien, wie ich es aus Filmen der 60er Jahre kenne. Die Einheimischen sind völlig verdattert, als wir nach dem Weg zum Monte Grappa fragen. Was bitte wollt ihr da, steht unsichtbar auf ihrer Stirn geschrieben.
Und schwingt im Singsang ihrer Antwort wieder: "Da questa parte." Dort entlang. Eine winzige Straße frisst sich durch den Baumbestand schlängelnd bergauf. Erosion hat an ihr genagt, alle zwei, drei Kilometer mahnen Schilder zur Vorsicht, Schlaglöcher, Erdrutsch, Bauarbeiten überall.
Fieser Splitt, der jetzt, zu dieser Tageszeit, kaum als solcher auf dem groben Asphalt erkannt wird. Es ist eine von diesen Straßen, deren Ende meist ein massiver Schlagbaum markiert. In diesem Fall jedoch belohnt sie uns letztlich mit einer spektakulären Aussicht. In der nördlichen Ferne stoßen die Zacken der Dolomiten in den sich dunkelblau färbenden Horizont, südlich breitet sich die venezianische Tiefebene aus. Ein kleiner Weg führt zu einem Parkplatz, auf dem wir die Bikes stehen lassen, um die letzten Höhenmeter des Monte Grappa auf Stufen zu erklimmen.
Ankunft in Bassano del Grappa

1742 Meter über dem Meer. Kein Windhauch, kein Smog. Als wir auf dem Gipfel das monumentale Kriegsdenkmal aus den 1930er Jahren betreten, bleibt das Leben stehen. Wir schweigen minutenlang. "Lass uns nicht runter in die Stadt fahren, sondern hier irgendwo übernachten", sagt Andreas. 30 Minuten später stehen unsere Bikes vor der Herberge Rifugio Scarpon, 1650 Meter hoch, direkt am Gipfel. Ein perfektes Ziel: gigantische Aussicht, glühender Sonnenuntergang, gutes Essen, kaltes Bier, leckerer Grappa, keine Termine mehr. Als wir am Mittag des Folgetages über die sehr viel besser ausgebaute südliche Passstraße endlich Bassano del Grappa erreichen, können wir uns kaum entscheiden: Quasi an jeder zweiten Ecke finden sich Destillen, die sich auf Grappa spezialisiert haben.
Zwei verstaute Flaschen später sind wir wieder auf dem Weg nach Norden. Von der anderthalb Tage langen Heimreise wird Andreas in den Folgemonaten noch oft reden: "Erinnerst du dich an diesen unglaublich steilen, kleinen Pass, engste Serpentinen, quasi in die Felswand gehauen, der von Valstagna auf die Hochebene von Asiago führte? Oder die Weiterfahrt auf dieser Schwindel erregenden Landstraße zwischen Asiago und Trento, wo es auf 80 Kilometern keine Gerade gab?" Ich nicke dann immer zustimmend, froh, die Gunst der Stunde genutzt zu haben. Und hebe das kleine Glas, in dem der leckere Grappa schwappt. Genau. Prost! Wir müssen bald mal wieder los.
Infos

Shopping-Tour in die Vicentier Alpen - Rund um den Monte Grappa wimmelt es von kleinen Nebenstraßen in grandioser Landschaft.
Kleine Grappakunde
Grappa ist eine ausschließlich italienische Spirituose, die durch direkte Destillation von naturreinem Trester (Schalen ausgepresster Weintrauben) gewonnen wird, und zwischen 40 bis 50 Volumenprozent Alkohol enthält. Er macht weltweit nur ein Tausendstel aller getrunkenen Spirituosen aus. Rund 40 Prozent aller Grappe werden in der Ge-gend rund um den Monte Grappa produziert. Ein Abstecher in die ansässigen Destillen ist nicht nur für Feinschmecker lohnenswert, denn dort kostet der Grappa meist nur die Hälfte des Preises, der in Deutschland verlangt wird.
Monte Grappa
Mit 1742 Höhenmetern ist er einer der höchsten Berge der Vicentiner Alpen und zwischen Ende April bis Ende Oktober meist befahrbar. Unter den Gleitschirmfliegern gilt der Berg als idealer Ausgangspunkt für Streckenflüge und ist sehr berühmt für seine gute Thermik. Auf dem Gipfel errichteten die Faschisten in den 1930er Jahren ein sehr imposantes Denkmal für die Soldaten, die bei den vielen Schlachten im Ersten Weltkrieg hier ihr Leben ließen. Von Süden aus führt eine relativ gut asphaltierte Straße zum Gipfel, während die Strecke von Norden sehr unüberschaubar und schmal ist und weniger guten Belag aufweist.
Bassano del Grappa
Die 40000 Einwohner große Stadt am Fuße des Mt. Grappa ist ein malerischer Ort mit einem schönen Wahrzeichen: einer über 700 Jahre alten Holzbrücke, die sich über den Fluss Brenta spannt. Rings um die Brenta-Brücke finden sich unzählige Restaurants und Destillen, in denen man vorzüglichen Grappa serviert bekommt. Tipp: Besuch des Grappa-Museums in der Destillerie Poli, Adresse: Via Gamba 6, Telefon (0039)0424/524426 und www.poligrappa.com, geöffnet tägl. zwi-schen 9 und 19.30 Uhr, Eintritt frei.
Übernachtung
Zwei Tipps nahe des Reschenpasses: Garni Claudia, I-39028 Schlanders-Silandro, Moargasse 19, Telefon (0039)0473/730303, www.garni-claudia.it, EZ ab 30 Euro, DZ ab 25 Euro/p.P. und Familienhotel Steinberger, I-39028 Schlanders-Silandro, Hauptstraße 27, Telefon (0039)0473/730314 (www.hotel-steinberger.com) DZ ab 39 Euro/p.P. Übernachtung auf dem Monte Grappa: Rifugion Scarpon auf 1650 Höhenmetern, HP mit Abendessen und Frühstück 40 Euro/p.P.