Warum bloß mit einem Mofa? Die Frage kennt der Mann mit dem blonden Wuschelkopf und dem grünen Parka bereits zur Genüge. »Weil damit kaum noch eine Barriere zwischen dir und den anderen Menschen ist. Du bist unterwegs wie sie selbst«, erwidert er schlicht. »Und«, fügt er etwas profaner hinzu, »weil ein es leichter zu verschmerzen ist, wenn ein Mofa und nicht ein teures Motorrad irgendwann mal zurückbleiben muß.« Als Alternative hätte Olaf Seifert, ohnehin nur sein Ural-Gespann zur Verfügung gestanden, daß es nachweislich nicht mal durch Polen geschafft hätte, weil der Motor schon daheim nach 700 Kilometern verreckte. »Man kann mit allem reisen.« Mit riesigen Händen, an denen noch Öl unter den Nägeln glänzt, breitet er vorsichtig ein paar Fotos, eine zerlesene Landkarte und ein dicht beschriebenes, kleines Notitzbuch vor sich auf dem Tisch aus. Kostbarkeiten einer schier unendlichen Reise, die ihn 10 000 Kilometer weit bis nach Sibirien geführt hatte und die das ewig ungestillte Fernweh des Thüringer Zweiradmechanikers, der 1989 als einer der ersten durch den ungarischen Grenzzaun in die Westen kletterte, endlich stillen sollte. »Vielmehr wie Tschechien und Ungarn bekamen wir ja damals nicht zu sehen.« Nachdem Olaf die noch aus Ostbeständen herübergerettete 14 Jahre alte Simson S 51 für 75,80 Mark in reisetauglichen Zustand gebracht, zwei neue Reifen aufgezogen und einen Fünfliterkanister auf dem Gepäckträger gezurrt hatte, brach er am 11. August in Nürnberg gen Osten auf. Bereits am 13. notiert er im Erzgebirge seinen Ärger über die deutschen Autofahrer, die ihn »mit ihrem machohaften Gehabe schier in den Graben drängen«. Mühsam quält sich das dreieinhalb PS-Mofa die Bergsträßchen hinan. Mit 90 Kilogramm Fahrergewicht und etwa einem Zentner Gepäck ist die Simson an der Grenze des Möglichen angelangt. »Aber sie klettert sehr tapfer«, notiert er. Nach einem Tankstopp verweigert sie plötzlich den Dienst. Gottlob ist es nur der Tankrucksack, der die Entlüftungsbohrung verdeckt hat. Weiter geht es, hügelauf, hügelab, in Greiz noch bei Muttern vorbei. In Görlitz solles über die Grenze gehen. Doch kurz davor streikte die S 51 während einem Regenguß erneut. Diesmal ist durch eine Öffnung am Luftfilter Wasser in den Vergaser gelangt. Also Schwimmerkammer leeren. Bald hatte Olaf es dann raus: »Wenn man nicht gleich basteln will, einfach den Choke ziehen, dann fährt sie noch eine Weile. Aber das brave Ding läuft komischerweise auch dann noch, wenn die Schwimmerkammer halb voll mit Sand und Wasser ist«, schreibt er am 14. August. In Polen hatte der 31jähriger dafür eine Glückssträhne. Der konstante Westwind bläst ihn in sensationellen zwei Tagen über Warschau bis zur weißrussischen Grenze bei Brest. »65 Sachen! Der große Rucksack wirkt wie ein Segel.« Es ist zwar noch Sommer, doch hinter Minsk gerät der Weltenbummler in kaltes, unwirtliches Wetter. Turnschuhe, Jeans, Wachsjacke und Jethelm und für ganz schlimme Tage eine Regenkombi und ein warmer Pulli - viel mehr Klamottenzuschlag ist bei dieser Art von Light Ride nicht drin. Im Tankrucksack stecken Werkzeug, Isolierband, Bindedraht, Flickzeug, Luftpumpe ein russischer Straßenatlas und ein Fotoalbum von daheim. »Das hilft immer.« Olaf kann ein wenig schulrussisch - das erledigt den Rest. Auf der eintönigen M1 nach Moskau trifft er am Straßenrand drei junge Leute mit abenteuerlich umgebauten und bepackten 125er Minsk. Ebenfalls auf Urlaubsreise. »Sie haben selbstgebastelte Kühlgebläse vor die Motoren gebaut. Noch nie gesehen, so was. Toll!« Sie fahren ein Stück zusammen. Viel schneller als Olaf kommen die Motorräder auf den schlechten Straßen auch nicht voran. Die noch provisorische Grenze zu Rußland ist schnell passiert, Olaf und seine Simson fallen nicht weiter auf. Die Nächte verbringt Olaf in Zelt und Schlafsack. »In Mooren und Weideland, finde ich die schönsten Schlafplätze. Oft sitze ich abends vorm Zelt, beobachte Störche und genieße den Sonnenuntergang.« Ein paar Tage widmet er St.Petersburg, der sprudelnden, westlichen Metropole am Finnischen Meerbusen. »Eine alte Frau erzählt mir, daß ihre Schwester während der deutschen Belagerung im Zweiten Weltkrieg verhungerte. Es ist schrecklich. Alles scheint noch so nah.«Bis Murmansk wären es 1500 Kilometer, informiert ein Wegweiser. Doch es ist bereits hier empfindlich kalt geworden. Also Kurs Südost, über die M 20 in Richtung Goldener Ring, jener von goldenen Zwiebeltürmen nur so strahlender historischer Rundkurs nördlich von Moskau. Während hier die Klöster und Kirchen auch den Kommunisten erhaltenswert erschienen, sind in den übrigen Orten die Gotteshäuser meist ein Bild des Jammers. »Entweder umfunktioniert zu Busdepots und Fabrikhallen wie in Kirillow oder Irbit oder einfach bröckelnde Ruinen.« Die spätsommerliche Wärme und die farbigen und lebendigen Dörfer des Wolgatals hinter sich lassend, geht es durch die stillen, weiten Ebenen zum Ural wieder auf striktem Ostkurs. Der Baikalsee wartet. Mitunter ist die Beschaffung von Benzin das einzige Ereignis. »Tanken ist immer spannend. Hat man Glück, sind die Leute nett, wie in am Kubenskoesee, wo ich zum Tee eingeladen und mit Keksen und Zweitaktöl versorgt werde, während mein Fotoalbum die Runde macht. Ist der Tankwart schlecht drauf, fließen die zehn Liter Benzin, die zwischen Original- und Reservetank verteilt werden müssen, schon mal zur Hälfte daneben oder über die Klamotten.« In Kirillow bekommt Olaf von Passanten eine Landkarte geschenkt, mit Tips, was er sich unbedingt ansehen müsse. Und immer wieder Fragen und ungläubige Blicke, wenn die Einheimischen von seiner Reise erfahren. Reichen die Worte nicht, wird mit Zeichnungen übersetzt. Am 11. September fotografiert Olaf im Ural die Simson an der Grenze zu Asien. Einen Monat ist er jetzt unterwegs. »Mühseelig suche ich die Grenzsäule, um das historische Bild zu machen.« Durch das Gebirge wird er von einer Serie von Reifenpannen verfolgt. Wieder und wieder wird der poröse Hinterreifen geflickt, bis zum Schluß sogar der Batteriehaltegummi herhalten muß. »Aber bei null Grad hält nichts mehr.« Frierend und mutlos kämpft sich Olaf über die kleinen Bergsträßchen. Bis schließlich in Jekaterinburg fatamorganagleich ein Reifendienst am Straßenrand auftaucht. »Die Jungs dort sind klasse. Sergej nimmt mich in seinem Uralgespann mit zu seiner Familie nach Hause, wir trinken Tee und zeigen Familienfotos. Abends geht es noch zu seinem Schwiegervater in die Datscha am Stadtrand. Ich tanke richtig auf hier.« Östlich des Ural trifft ihn dafür die endlose Weite Rußlands mit voller Wucht. Die Straße führt durch nicht endenwollende Getreidefelder, auf denen die Kolchosbauern mit großen Raupenschleppern die Ernte einfahren. Doch die Dörfer und Kolchosen liegen weitab von der Straße. »Oft stoße ich 50 bis 60 Kilometer lang weder auf ein Dorf noch einen Menschen. Tag um Tag dieselbe Landschaft, dieselbe Aussicht. Es ist schrecklich.« Jetzt wird das langsame Tempo zur Folter. Am 17. September erreicht Olaf die sibirische Stadt Omsk. Bis zum Baikalsee liegen noch einmal drei Wochen Straße, Felder und Steppe vor ihm. »Auch wenn die Simson immer noch wacker läuft - ich kann und will nicht mehr«, notiert er in seinem Tagebuch, nachdem er ausgerechnet hat, daß er mit dem Wintereinbruch am Baikalsee ankäme. Am 20. September fotografiert er die Simson noch mal vor dem Hotel, fährt die drei Kilometer zur Bahnstation, packt Helm und Werkzeug in den alten Tankrucksack, schnürt ihn fest und legt einen Zettel ins Klarsichfacht: »Na padarock«, ein Geschenk. »Ich bin traurig aber es hilft nichts«, lautet der Eintrag im Notizbuch. Eine Stunde später quetscht er sich und seinen Rucksack für 50 Mark in ein Abteil der Transsibirischen Eisenbahn. In weniger als 48 Stunden ist Olaf in Irkutsk. »Es ist faszinierend, wie schnell plötzlich alles geht.« Vom Fenster des klapprigen Reisebusses, mit dem er die letzten 70 Kilometer zurücklegt, sieht Olaf ihn am Abend des 24. September zum ersten Mal. »Riesig und glasklar liegt er vor mir, der Baikalsee. Endlich am Ziel. Im Westen leuchten herbstlich gefärbte Bäume, am Ostufer stehen die schneebedeckten Zweitausender. Es ist der schönste Moment der Reise.« Als er zurückfährt, fällt der erste Schnee. Er war keinen Moment zu früh.
Rußland : Rußland - der Weg
Reisen kann man mit jedem Fahrzeug - meinte Olaf Seifert und fuhr mit seinem steinalten Simson S 51-Mofa bis nach Sibirien. MOTORRAD durfte einen Blick in sein Reisetagbuch werfen.