Platt ist das Land und Platt heißt die Sprache im meerumschlungenen Schleswig-Holstein, welches mit auffälligen Reizen geizt. Allerdings nur auf den ersten Blick.
Platt ist das Land und Platt heißt die Sprache im meerumschlungenen Schleswig-Holstein, welches mit auffälligen Reizen geizt. Allerdings nur auf den ersten Blick.
Ein paar schwarz-bunte Kühe stehen neben mir im Regen, glotzen neugierig mit ihren großen, runden Augen. Hier und dort blöken Schafe, während ich in patschnaßen Motorradstiefeln und mit einem Höhenmeser am Handgelenk über matschige Wiesen latsche und unter einem düsteren Himmel den geographischen Höhepunkt der flachen Wilstermarsch suche, nämlich den tiefsten Punkt Deutschlands und somit das Gegenstück zur Zugspitze. Amerikaner hätten an einem solchen Ort sicher Wegweiser, Imißbuden und bestimmt auch ein Regendach errichtet. Den wortkargen Anwohnern von Neuendorf ist solcher Firlefanz schlichtweg egal. Kollektives Kopfschütteln, als ich im Dorfkrug nach dem Weg fragte, dort gebe es bei diesem Wetter wirklich nichts zu sehen. Nun, ein großes schwarzes Loch habe ich bestimmt nicht erwartet. Aber Wiesen dreieinhalb Meter unter dem Meeresspiegel, der zum direkten Vergleich nur ein paar Kilometer entfernt gegen den Deich plätschert, findet man halt nicht überall. Ich gebe auf, fahre langsam weiter durch die Wilstermarsch. Auf schnurgeraden Landstraßen, allesamt im rechten Winkel zueinander. Unzählige Kanäle und kleine Flüsse durchziehen diese sattgrüne und feuchte Wiesenlandschaft. Rund um die Uhr wird hier das Wasser mit elektrischen Pumpen von den Weiden in die Elbe und in die Stör gepumpt, sonst würden Kühe, Schafe und Menschen nicht nur im Matsch, sondern irgendwann wohl auch in den Fluten versinken.Der kräftige Wind schmeckt und riecht schon hier angenehm nach der salzigen Luft der nicht mehr weit entfernten Nordsee und läßt die schwere Yamaha in den wenigen langgezogenen Kurven ganz schön hin und her schaukeln. Aus dem grauen Schleier, der über dieser Landschaft liegt, tauchen regelmäßig rechts und links der Straße mächtige Bauernhäuser mit herausgeputzten Fachwerken und wunderschönen Reetdächern auf. Sie stehen meist in bunten Gärten von der Größe eines Fußballfeldes und lassen mich als Stadtbewohner in ihrer Großzügigkeit vor Neid fast platzen.In Brunsbüttel trägt mich eine angerostete Autofähre über ein imposantes Bauwerk, daß vom Ufer aussieht wie ein breiter, schmutziger Fluß. Vor genau 100 Jahren wurde der Nord-Ostsee-Kanal eröffnet, nachdem über 9000 Arbeiter mit ihren Schaufeln acht Jahre lang über 80 Millionen Kubikmeter Boden ausgehoben hatten. Heute ist der knapp 100 Kilometer lange Kanal zwischen Brunsbüttel an der Nordsee und dem Ostseehafen Kiel die meistbefahrene Wasserstraße der Welt, rund 60000 Schiffe durchqueren Schleswig-Holstein pro Jahr. Drüben am anderen Ufer beginnt Dithmarschen. Die Straße führt über Marne nach Melldorf, zwei kleine Städte, die vor über 200 Jahren jeweils noch einen richtigen Hafen hatten, weil sie damals direkt am Meer lagen. Doch die Kapitäne hatten die Rechnung ohne die frisischen Bauern gemacht, denen es seit über 1200 Jahren ausschließlich um Landgewinnung ging. Mühsam drängten sie die Nordsee Meter für Meter zurück, bauten hartnäckig Deiche, die von gewaltigen Sturmfluten oft wieder weggespült wurden und wandelten das eingedeichte Watt langsam in ein fruchtbares Marschland um. Auf den neuen Wiesen und Weiden, den sogenannten Kögen, gründeten sie schließlich neue Dörfer, die manchmal nur aus einem großen Gutshof bestehen und Kaiser-Wilhelm-Koog, Kaiserin-Aguste-Victoria-Koog oder Kronprinzen-Koog heißen.Wer hier mitreden möchte, sollte auf jeden Fall einen Grundwortschatz in Plattdütsch beherrschen, welches hier »bi de Dorpslüüd«, den Dorfbewohnern, nahezu ausnahmslos gesprochen wird. Wichtigste Vokabel: Moin, moin - das heißt soviel wie guten Morgen, guten Tag, guten Abend und gute Nacht, aber auch Mahlzeit und Tschüß. Außerdem wichtig: Köm un Beer, das heißt Korn und Bier und wird ausnahmslos in dieser Reihenfolge getrunken. Zweite Regel: Nur keine Hektik verbreiten, denn die ist hier genauso unerwünscht wie ein harvarierter Öltanker im Watt. Der seit vielen hundert Jahren andauernde Kampf gegen den »Blanken Hans«, wie die oft stürmische Nordsee hier genannt wird, hat die Menschen in Dithmarschens Kooglandschaft geprägt und vielleicht so etwas wie eine Marschmentalität geschaffen: Man wartet ab, bleibt »scheun sutsche«, nämlich schön ruhig und läßt die Dinge erst einmal auf sich zukommen. Zeit um Handeln ist dann immer noch.Vor mir erstreckt sich Schleswig-Holsteins wohl steilster Straßenabschnitt. Mit einer Gesamtlänge von sieben Metern führt die kühne Strecke auf den drei Meter hohen Deich. Von oben ist der Ausblick überwältigend. Ich sehe bis zum Horizont - und bin trotzdem enttäuscht. Schon wieder Ebbe. Kein Wasser, keine Nordsee, nur matschiges Watt. Genau wie gestern, als ich im Friedrichskooger Hafen stand. Von der See keine Spur. Macht aber nichts, denn der weitläufige Strand von St. Peter Ording, der sich jetzt vor mir erstreckt, ist Deutschlands Gegenstück zu Amerikas Strandmeile von Daytona Beach. Hier darf man noch, was Umweltschützer anderswo auf die Palme treibt, nämlich mit einem Fahrzeug über den Sand und durchs Watt fahren. Zumindest ein paar hundert Meter weit. Gleich hinterm Deich pflügt die Yamaha durch salzige Wasserpfützen, dann schlingern die beiden breiten Schlappen über den rutschigen, grauen Schlick, daß es eine wahre Freude ist. Bis zu den imposanten Pfahlbauten, in denen viele Meter über dem Watt auf wetter- und salzwassergegerbten Holzstelzen urige Kaffeehäuser auf autofahrende Gäste warten, die kein Salz an ihren Karossen scheuen.Der Blick von der hohen Aussichtsterrasse ist trotz Ebbe sagenhaft. Oder vielleicht gerade deswegen. Flach wie ein Spiegel erstreckt sich das Watt bis zum Horizont, darüber ein verhangener Himmel. Nur ab und zu blitzt die Sonne durch die schnell dahinziehenden Wolkenfetzen und liefert in diesen kurzen Momenten überraschende Lichteffekte, wenn sich die Strahlen in den vereinzelten Wasserpfützen spiegeln. Allein der Wind ist zu hören, laut pfeifend, wenn plötzliche Böen durch das Gebälk ziehen. Nach einer Weile schmecken Lippen und Hände nach Salz. Leuchtende Punkte bewegen sich weit draußen im Schlick - Spaziergänger in Ostfriesennerzen, den in dieser Gegend obligatorischen gelben Regenmäntel.Barfuß marschiere ich durchs Watt. Bei jedem Schritt versinken meine Füße bis zum Knöchel im Schlickboden - und in einem Lebensraum, dessen Artenvielfalt nur schwer zu begreifen ist. In anderen Worten: Zwischen meinen Zehen tobt das pralle Leben. In einem Quadratmeter Watt hausen bis zu 120000 Wattschnecken neben ungezählten Muscheln, Krebsen und Würmern. Ein einzigartiges Ökosystem. In der Komplexität und seiner Bedeutung ist der Lebensraum Watt durchaus vergleichbar mit dem Regenwald in den Tropen. Leider hält im Augenblick auch das Wetter wieder jedem Vergleich mit den Regenfällen in den Tropen stand. Brasilien liegt eben viel näher, als man glaubt. Aber davon später. Links der Deich, rechts ewig weites Weideland, stur geradeaus der Asphalt. Fast hätte ich den scharfen Linksknick der Straße, die kurz hinter Husum über einem drei Kilometer langen Damm auf die Insel Nordstrand führt, übersehen. Dagegen nicht zu übersehen: Strandkörbe. Überall hinterm Deich, aus pflegeleichtem Kunststoff, aufgestellt nach einem rigorosen Ordnungssystem, bunt bemalt, durchnumeriert und genormt - einssechzig hoch, einsfünfundzwanzig breit, zweiundachtzig Zentimeter tief. Oder die Klassiker auf der Nachbarinsel Pellworm. Nicht genormt, dafür aus geflochtenen Weidenrohr mit einer bunten Markise, bequemen Fußstützen und einem abschließbaren Innenraum, der sich für sonnenhungrige Besucher nur öffnet, wenn dieser bei der Kurverwaltung dafür bezahlt hat. Hätte ich vorher wissen sollen, denn die Behörde wohnt viele Kilometer entfernt am anderen Ende von Pellworm. Wie zum Hohn kreischt eine Lachmöve dicht über meinem Kopf. Wieder auf dem Festland, weiter in Richtung Norden. Mattes Grün rechts und links der Straße. Vereinzelt hochgewachsene kräftige Bäume. Bis Dagebüllhafen. Dann ein abrupter Richtungswechsel nach Westen. Noch 50 Kilometer bis Flensburg an der Ostsee. Kaum merkbar verrinnt die Zeit, so scheint es, wenn man dieses weite Land durchfährt. Vorbei an reetgedeckten Katen, vorbei an steinernen Kirchen, vorbei an Windkraftanlagen, deren meterlange Rotorblätter bei jeder Umdrehung in der grellen Mittagssonne blinken. Eine wunderbare Gelassenheit stellt sich ein, weil das stundenlange Umherstreifen in einem Land, welches ständig von einem übermächtigen Himmel dominiert wird, ablenkt von den Widerwilligkeiten der Gegenwart.Plötzlich ist alles anders. Heftige Windböen zerren nicht mehr am Helm, keine Deiche schützen vor einem gefürchteten Angriff des Meers, keine Ebbe, keine Flut, kein Watt. Sondern türkis schimmerndes, leicht wogendes Wasser, welches an fast schon weiße Sand- und Kieselstrände plätschert. Die Ostseeküste zwischen Glücksburg und Gelting präsentiert sich bei gutem Wetter so freundlich, wie es der grauen stürmischen Nordsee nur selten gelingt. Wohl aus diesem Grund stehe ich im endlosen Stau. Vor mir Wohnmobile mit langen Bootsanhängern, Kombis mit überladenen Dachgepäckträgern, breitbereifte Geländewagen, behängt mit bunten Surfbrettern. Gnadenloser Freizeitstreß, der nicht so recht in dieses beschauliche Land und schon gar nicht zu den gemütlichen Menschenschlag, der hier lebt, passen will. Doch die Anwohner aus dem urigen Fischerdörfchen Maasholm an der Mündung der Schlei bei Kappeln nehmen´s gelassen - weil sie im Sommer gut verdienen. Dicht an dicht schieben sich Kurgäste und Wochenendbesucher durch die engen Gassen, vorbei an wunderschön herausgeputzten Kapitänshäusern bis in den kleinen Hafen, staunen über eine Armada von blitzblanken Segelyachten, die in ihrer Zahl die bunten Fischkutter längst übertroffen haben. Nur eine Handvoll Fischfänger startet heute noch lange vor Sonnenaufgang, gänzlich unbemerkt vom Touristenstrom.Akeby, Brodersby, Haddeby. Dänische Dorfnamen entlang der Schlei, einem Fjiord, der sich bis Schleswig erstreckt. Brasilien und Kalifornien. Nord- und südamerikanische Namen an der Kieler Bucht - zwei winzige Orte mit einfachen Stränden, unspektakulär, beschaulich, gemütlich. Vergessen ist hier die herbe Kraft des salzigen Windes an der Nordseeküste, keine Spur mehr von der Urgewalt des Meeres im Westen des Lands zwischen Brunsbüttel bis Dagebüllhafen. Das ist es, was mir fehlt, geht es mir beim Strandspaziergang zwischen Brasilien und Kalifornien durch den Kopf. Aber auch noch etwas anderes würde mich wieder zurück an die Nordseeküste locken: Gestern erzählte mir ein Biker, daß der tiefste Punkt Deutschlands eine Wiese von Bauer Karstens sei, und dort soll es doch tatsächlich ein Hinweisschild geben.
Auch wenn der Kurvenspaß im Norden etwas zu kurz kommt, sind Nord- und Ostseeküste attraktive Reiseziele.
Anreise: Wer von Süden oder Westen kommt, fährt entweder über die A1oder die A7 bis nach Hamburg, Kiel oder Lübeck. Aus den neuen Bundesländern führt die A24 bis nach Hamburg.Übernachten: Hotels, Pensionen, Bauernhöfe mit Gästezimmer und Zeltplätze gibt es in großer Auswahl und in allen Preisklassen. Im Sommer sollte an den Küsten unbedingt vorher reserviert werden. Der Fremdenverkehrsverband Schleswig-Holstein informiert über Unterkünfte, Telefon 04 31/56 00 100, Fax 56 00 140. Der Tip für Motorradfahrer: Das gemütliche Hotel Möven-Kieker im Nordseebad Friedrichskoog-Spitze liegt gleich hinterm Deich und der Cheff, Stefan Ott, verschließt das gute Bike persönlich in seiner Garage. Doppelzimmer gibt es ab 98 Mark. Infos: Hotel Möven-Kieker, Strandweg 6, 25718 Friedrichskoog-Spitze, Telefon 0 48 54/2 86, Fax 16 89.Aktivitäten: Neben einer Wattwanderung und einem Ausflug auf die in der Nordsee vorgelagerten Inseln ist eine Segeltour einer der Höhepunkte in Schleswig-Holstein. Vom Hafen in Travemünde geht es von Mai bis Oktober mit dem alten, aber hervorragend restaurierten Frachtensegler »S.S. Solvang« einen Tag lang durch die Kieler Bucht oder mehrere Tage über traditionelle Ostseerouten bis Helsinki, St. Petersburg oder Oslo. Die Passagiere müssen kräftig mit anpacken: Segel setzen, Wache am Ruder gehen, und Backschaft (Küchendienst) in der Kombüse verrichten. Infos: Yacht Kontor Solvang, Am Bahnhof 4a, 24999 Wees, Telefon 04 63 1/42 62, Fax 43 66.Literatur: Gute Infos über Land und Leute sowie zahlreiche Adressen von allen regionalen Fremdenverkehrsämtern stehen in der Merian-Ausgabe »Schleswig-Holstein« für 14,80 Mark. Über die gesamte Nordseeküste informiert das »GEO-Spezial Nordsee« für 14,80 Mark. Karte: Schleswig-Holstein von Ravenstein im Maßstab 1:250 000.