Sibirien. 30. Dezember 2003. Greller Sonnenschein, blauer Himmel – und für diese Jahreszeit erstaunlich milde 16 Grad in Irkutsk. Unter null, versteht sich. Unsere beiden XTs stampfen seit einigen Minuten im Standgas vor sich hin; wir brauchen mindestens eine halbe Stunde, bis wir einigermaßen gegen Wind und Kälte geschützt eingepackt sind. Dann können wir endlich aufbrechen. Kurs Ost. Vorbei am Südende des Baikalsees und weiter während der nächsten drei Monate über Jakutsk bis in die 4500 Kilometer entfernte Hafenstadt Magadan. Und wieder zurück. Allerdings hoffen wir, auf dem Rückweg ab Jakutsk etwa 2000 Kilometer weit über den zugefrorenen Fluss Lena bis quasi zum Baikalsee fahren zu können – vereiste Flüsse sind im Winter in diesem Teil der Welt ganz offiziell für den Straßenverkehr freigegeben. Die letzte Etappe soll schließlich rund 600 Kilometer über das Eis des Baikalsees führen.
Damit wir mit den beiden Yamaha XT 600 im Schnee und auf Eis überhaupt noch vorankommen, haben wir uns einen besonderen Clou ausgedacht: Die Solo-Maschine kann mit wenigen Handgriffen an der rechten Seite des Gespanns befestigt werden. Damit wir unser „Fünfradmobil“ nicht in unterschiedliche Richtungen lenken, werden die Gabeln durch ein Gestänge miteinander verbunden – nur beim Gasgeben und Bremsen müssen wir uns irgendwie einigen. Jetzt aber bloß raus aus Irkutsk. Richtung Ulan-Ude.

Seit fast zwei Wochen sind wir schon unterwegs. Per Achse in Rekordzeit von Amsterdam via München, Prag, Warschau und Kiew bis nach Moskau. Und vor dort samt der Motorräder mit der Transsibirischen Eisenbahn in drei Tagen nach Irkutsk. Zum Glück ist dieser Industriemoloch längst aus den Rückspiegeln verschwunden, und wir kommen während der ersten beiden Fahrtage erstaunlich gut voran. Statt Schnee und Kälte mindern allenfalls zahlreiche Polizeikontrollen unserer Reisetempo. Aber die Beamten entpuppen sich als nette Kerle, sind einfach nur neugierig. Ausländische Motorradfahrer im Winter? Das hat es hier noch nicht gegeben.
In Ulan-Ude – heute ist Silvester – erfahren wir aus den Nachrichten, dass ungewöhnlich heftige Schneefälle weite Teile Sibiriens praktisch unbefahrbar gemacht haben. Die zugefrorenen Flüsse liegen unter einer bis zu einem Meter dicken Schneeschicht, und die Lena wurde für die nächsten Wochen für den „Eisverkehr“ gesperrt. Genau dort sollte unsere geplante Strecke verlaufen. Noch wollen wir die Route aber nicht ändern.
Sibirien (2)

Über Novopavlovka und Tanga gelangen wir nach Tschita. Bei minus 26 Grad. Zum ersten Mal ziehen wir unsere speziell isolierten Thermokombis an, die eher an Astronauten- denn an Motorradanzüge erinnern. Die Griffheizung glüht im Dauerbetrieb, Handschuhe, Strümpfe und Visiere sind ebenfalls mit Heizdrähten versehen. Und die Triebwerke der XTs laufen nun auch während längerer Pausen die ganze Zeit weiter.
Nachts sinkt die Temperatur inzwischen auf minus 38 Grad. Dagegen herrscht in vielen Häusern eine fast schon tropisch anmutende Hitze – mehr als ein T-Shirt tragen die Menschen in Sibirien ungern innerhalb ihrer vier Wände, in die sie Fremde wie uns gerne aufnehmen. Über einen Schlafplatz brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wann immer wir nach einem Zimmer fragen, werden wir eingeladen. Oder man versucht rührend, im Bekanntenkreis eine Bleibe für uns zu finden. Einziges Problem: der enorme Wodka-Konsum. Ohne den geht’s nie, und wir werden ständig dazu angehalten, kräftig mitzutrinken.

Drei Tage später erfahren wir in Schilka per E-Mail von einem Bekannten, dass die Behörden von Jakutsk und Ust’-Kut die Lena auf der gesamten Strecke zwischen diesen beiden Städten endgültig für jeglichen Verkehr dichtgemacht haben. Eine andere Verbindung als diesen Flusslauf gibt es nicht. Die Straße nach Magadan gilt ebenfalls als nahezu unpassierbar. So schwer es uns fällt – wir müssen von unseren Plänen Abschied nehmen. Es macht keinen Sinn, bei diesen Temperaturen weiter bis Jakutsk zu fahren, um sich letztlich auf dem gleichen Weg wieder zurückzuarbeiten. Wir sind frustriert, überlegen lange, wie es weitergehen soll. Dabei war uns immer bewusst, dass bei dieser Reise kaum etwas planbar sein wird.
In Nertschinsk geben wir auf, kehren um nach Schilka. Diesmal nehmen wir aber nicht die Straße, sondern gleiten über das Eis des gleichnamigen Flusses, dessen Lauf einer breiten, weißen Trasse gleicht, die stur geradeaus durch dieses vom Winter verzauberte Land führt – und die zurzeit befahrbar ist, wie wir von einem Fernfahrer erfahren haben. Ich bin überrascht, wie viel Halt mir die Spikes auf der teilweise blanken Fläche geben – noch müssen wir die Solo-XT nicht am Gespann fixieren, was dem Fahrspaß zugute kommt.
Sibirien - das Motorrad
Motorrad fahren auf Schnee und Eis bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad eine Reise, die im Winter durch Sibirien führt, stellt besondere Anforderungen an Mensch und Material.
Robust und ausgereift, luftgekühlt, kein Schnickschnack und beinahe von jedermann selbst im Schneesturm mit dicken Winterhandschuhen zu warten – bei der Wahl der Fahrzeuge wollten Rob und Dafne de Jong keine Experimente wagen. Unterm Strich kamen für die beiden Abenteurer nur zwei Yamaha XT 600 in Frage. Ob die Technik der Enduros allerdings Temperaturen von bis zu 40 Grad unter dem Gefrierpunkt standhalten würde, war der große unbekannte Faktor – entsprechende Erfahrungsberichte gab es bis dahin nicht.
Auch klar, dass für den Transport der notwendigen und umfangreichen Winterausrüstung und für das Fahren auf Eis und Schnee nur ein Gespann Sinn macht. Da sich in Verbindung mit einer kettenangetriebenen Yamaha XT 600 ein zusätzlich angetriebenes Seitenwagenrad technisch nicht realisieren lässt, grübelten die beiden Extremreisenden darüber, ob es nicht möglich sei, das Gespann bei Bedarf schnell mit dem Solo-Motorrad zu einer zweiradangetriebenen und somit traktionsstarken Fuhre zu verschrauben.
In die Tat umgesetzt wurde dieser Plan von Helmut Hermann vom Stern Gespannservice (www.stern-gespannservice.de). Die Basis bildete ein robuster Stahlrahmen und eine Verkleidung aus Kunststoff als Wetterschutz für die auf der Plattform gestapelten Ausrüstungsgegenstände – wo wenig dran ist, kann auch wenig kaputt gehen. Parallel dazu wurden drei Stahlausleger an verschiedenen Stellen des Rahmens der Solo-XT angebracht, um dieses Motorrad mit dem Gespann in möglichst kurzer Zeit verbinden zu können. Für den Fahrbetrieb wird das nun arbeitslose Rad des Seitenwagens mit Hilfe eines einfachen Mechanismus hochgeklappt. Damit die so vereinten Piloten stets auf gemeinsamen Kurs bleiben, hat Hermann eine mit wenigen Handgriffen zu montierende Lenkgestängekonstruktion entwickelt, die jeweils auf der Höhe des Lenkkopfs an einem Ausleger beide Gabeln miteinander verbindet – fertig war das Expeditionsmobil.
Zumindest teilweise. Jetzt ging es darum, die Fahrzeuge gegen die Kälte zu rüsten. Damit das Motoröl bei arktischen Temperaturen überhaupt in Schwung kommt, wurde es mit 15 Prozent Dieseltreibstoff vermischt. Zusätzlich rüstete Rob die Maschinen mit einer an den Schwimmerkammern montierten Vergaserheizung aus, implantierte gegen Kälte unempfindlichere Gel-Batterien, die zudem über eine sehr hohe Startleistung verfügen, und verzurrte auf der Ladefläche des Beiwagens einen 1000 Watt starken Notstromgenerator. Damit lassen sich die XTs selbst bei minus 40 Grad starten oder Heizdrähte auf Temperatur bringen, die notfalls in den Öleinfüllstutzen eingeführt werden, um das Motoröl anzuwärmen. Um die besonders kälteresistenten (und mit Spikes versehen) Reifen des schwedischen Herstellers Trelleborg aufziehen zu können, wurden die Antriebsräder, das Beiwagen- und das Vorderrad der Zugmaschine mit 18er-Felgen versehen. Bei den Wilbers-Federbeinen handelt es sich ebenfalls um eine wintergerechte Sonderanfertigung: Ein »Eiskratzer« sorgt an der Dämpferstange dafür, dass das Teil stets eis- und schneefrei bleibt.
Dann der erste Härtetest für Mensch und Material: Rob und Dafne verschwanden dick vermummt mit den Motorrädern und der gesamten Ausrüstung für mehrere Stunden in einer riesigen Kühlkammer, in der ansonsten Lebensmittel gelagert werden – und in der für diesen Test eine Temperatur von minus 46 Grad herrschte. Zelt aufbauen, Schlafsäcke und Isomatten auslegen, eine Suppe kochen – alles keine leichte Angelegenheit mit dicken Winterhandschuhen. Dass sich die Motorräder nach dieser Abkühlung tatsächlich wieder starten ließen, besiegelte endgültig den kühnen Plan der Abenteurer, damit im Dezember nach Sibirien aufzubrechen.