Tankstellen-Report

Tankstellen-Report Die Nachttanke

Was macht ein Mensch nachts an der Tankstelle? Ausschließlich zapfen jedenfalls nur noch selten. Annette Johann und Fotograf Dave Schahl beobachteten zwölf Stunden lang, was zwischen Sprit und Shop sonst noch passiert.

Freitagnachmittag, 16.25 Uhr. Der Feierabendverkehr läuft auf Hochtouren. Nahezu alle 18 Tanksäulen der Esso-Station am Stuttgarter Westbahnhof sind belegt. An der Kasse tippen Meike und Martin im Akkord, merken nicht, dass hinten an Pumpe xx ein junger Mann wütend ausholt und einen Mittfünfziger mit einem Fausthieb zu Boden schickt. Und damit ist auch dessen Dauerhupkonzert zu Ende. Die Umstehenden verharren erschrocken, doch es greift niemand ein. Freitagnachmittags liegen die Nerven bloß. Jeder will nach Hause, ins Wochenende und den Job hinter sich bringen. Wer dann blockiert oder drängelt, lebt gefährlich. 17.00 Uhr. »Einmal Komfortwäsche, Lotto und fünf Vollkornbrötchen!« »Mit Spiel 77?« »Nein, ohne.« Rasselnd fliegt das Wechselgeld in die Schale. Trotz Spritpreisen auf Höchstniveau fließt nur noch ein Viertel (?) des Tankstellenverdiensts aus den Kerndisziplinen Benzin und Öl in die Kassen. Von den rund drei Pfennig Provision pro Liter Sprit alleine kann kein Pächter mehr leben. Deswegen suchten die 16287 deutschen Tankstellen neue Absatzmärkte. Sie fanden sie quasi im Ersatz des Tante Emma Ladens, dem sogenannten Convenience-Store, in dem fast jeder dritte Kunde auf die Schnelle noch Getränke, frische Milch oder einen Mikrowellen-Snack mitnimmt, wie die Mineralölfirmen ermittelten. Und der inzwischen rund 40 Prozent (?) des Tankstellengewinns liefert. Tschibo lässt grüßen. Singles und junge Paare sind die Zielgruppe, die Ladenschluss, Parkplatzsuche und Kassenschlangen mehr nerven als höhere Preise.17.30 Uhr. Frau Kawalesowski schiebt noch ein Blech Aufbackbrötchen in den Ofen. Mit einer Kollegin betreut sie von 9 bis 21 Uhr die Bistro-Ecke des Shops. Mit Wüstchenkessel, Backwarentheke und zwei Stehtischen. Ein Software-Vertreter ordert nach dem Tanken noch schnell einen Kaffee und zwei belegte Brötchen. Bei 500 Kilometern am Tag sei er froh um jede eingesparte Minute, erklärt er kauend. Währenddessen reihen sich draußen die Autos in Zweierkolonnen vor den gelbschwarzen Bürsten der »Tigerwäsche« auf, Staubsauger brummen im Dauereinsatz. Die Wochenendreinigung. Mit xx Prozent das zweite prosperierende Finanzstandbein der modernen Servicestation. Eine Guzzi poltert an Säule sechs. Nein, er möge diese Riesenstationen nicht, erklärt Pilot Christoph. Drinnen gäbe es jeden Mist, aber draußen der Luftdruckprüfer, der sei unter aller Kanone. »Echt unbrauchbar, das Ding.« Virago-Fahrer Horst schüttelt ebenfalls den Kopf: »Entweder gehe ich Tanken oder Kaffeetrinken.« 18.25 Uhr. »Jürgen, der Typ an Säule drei fährt zur Waschanlage, hat aber nicht bezahlt.« Meike beobachtet einen roten Kombi im Überwachungsmonitor. Der Kollege sprintet hinaus. Benzinprellerei komme jede Woche vor, erklärt Martin, besonders nach Preiserhöhungen. »Aber die kriegen dann eine freundliche Rechung geschickt.« Rund 200 000 Fälle werden bundesweit jährlich registriert. Nicht alle zahlen später, aber einige. Doch der Fahrer des roten Kombi wollte offenbar wirklich nur zum Waschen. Allmählich legt sich der Feierabendansturm. Ein alter Mann holt zwei Jägermeister und fünf Dosen Dominikaner Pils aus dem »Dauertiefpreis-Angebot« für 0,99 Mark. »Wegen 20 Pfennig gehe ich nicht extra zum Tengelmann.« Und schwankt in die Grünanlage auf der anderen Straßenseite. 20.00 Uhr. Wir wechseln in die Innenstadt. Zur Shell-Tankstelle unter der Paulinenbrücke, einem Klassiker des Stuttgarter Nachtlebens. Früher eine der wenigen mit Nachtschalter und oft genug Rettung, wenn die letzte Kneipe zumachte oder auf der Party das Bier ausging. Bis heute versorgt sie mit ihren vier Zapfsäulen und dem »Select-Shop« die Cruising-Meile von Tübinger-, Eberhard- und Hauptstätter Straße sowie die Nachtschwärmer der umliegenden Kino- und Kneipenszene. Zwei Drittel der Shop-Regale sind mit Getränken belegt. An der Paulinen-Tanke ist jetzt die Hölle los. Die Luft vibriert vom Dröhnen der Endrohre und Subwoofer der Breitreifenfraktion, die unablässig auf dem engen Terrain zwischen Straße, Tankinsel und Brückenpfosten unterwegs ist. Sieben Liter Super für 14,95 Mark, eine halbe Kanne Wasser für den maroden Kühler und zwei Büchsen Beck’s - mehr darf der Spaß für die zwei Typen an Pumpe vier nicht kosten. Genug für zirka zwei Stunden. Dann sind sie wieder da. 21.15 Uhr. Während hinter dem Shop ein paar Penner die Weinflaschen kreisen lassen, besorgt sich vorne ein Pulk Jugendlicher mit einen Sixpack die erste Dröhnung. Später in der Disco wird’s teuer genug. Tannhäuser, Le Patron und billiger Weißwein stehen für konkurrenzlose 4,99 Mark im Regal, Bier und Aufputschdrinks werden umstandslos im Großkarton davor aufgeschichtet. Ein Toyota mit blinkender Lichterkette am Spoiler kommt schon zu dritten Mal vorbei, ein überstundenbleicher Manager im Porsche aus der Tiefgarage der BW-Bank nebenan kauft schnell noch Zigaretten und die Türsteherin der »Boa« ihr erstes Bier. 21.30 Uhr. Es wird vorübergehend ruhiger. Der erste Schwung Kino- und Kneipengänger ist durch. Um 22 Uhr setzt leichter Nieselregen ein. Wir fahren ein Stück raus aus der Stadt. Zwanzig Minuten später taucht weithin neonblau leuchtend die Aral-Tankstelle in Illingen auf. Dahinter ein Burger King-Restaurant. Perfekte Neuzeitkombination für Freitagabende auf dem Land. An der Tankstelle weisen Schilder darauf hin, dass ab 22 Uhr das Autoradio leise zu stellen und mit Schrittgeschwindigkeit zu fahren sei. Eindeutiges Indiz für Auto-Cruiser. Doch die hocken ein Haus weiter bei Whopper und brüllender MTV-Musik. Drei Mädchen klettern kichernd aus einem alten Corsa und laufen zur Restauranttür. Ihre Fete in Nussdorf sei öde und so suchen sie lieber hier nach ein paar netten Typen. Leider sei der Fotograf ja im Dienst, schade eigentlich. Aber der Abend ist noch lang. Schon bald scheint Gesellschaft für die Mädels zu kommen. Zwei Jungs aus Ludwigsburg, lachend und »ohne feste Pläne«. Vier Halbwüchsige rollen im Polo ein, Skin-Schnitt und schwarze Jacken, die »King Wings« auf der Suche nach irgendwas Unsichtbarem - die Nachttanke als letzter Aufschub vor dem unweigerlichen Nachhausegehen. 1.15 Uhr. Hier passiert nicht mehr viel, Dave und ich brechen auf zur letzten Station – der Freien Sprint-Tankstelle in Stuttgart-Rot. Szene-Treff der nördlichen Problem-Stadtteile Hallschlag, Zuffenhausen und Rot. Der Regen hat wieder aufgehört, und ein paar junge Kerle lehnen im Halbdunkel an ihren Autos, es ist auch hier ungewöhnlich ruhig. Jens Riede schiebt heute die Nachtschicht. Von 23 bis 7 Uhr früh. Gutgelaunt steht er hinter seiner Verkaufstheke, zwischen Duftbäumchen, längst vergessenen Schokoladenosterhasen, türkischen Tageszeitungen und Wodka für 14,95 Mark im Angebot. Hier tankt nicht die Upperclass. Im Viertel herrscht die höchste Arbeitslosenquote Stuttgarts, und man ist froh, wenn es bei Sprint den Sprit ein paar Pfennig billiger gibt. Aber im letzten Sommer, als die Raffinerien die Preise für die Freien in so aushungernde Höhen trieben, dass das Kartellamt eingriff, da seien sie trotzdem gekommen, die Stammkunden. »Und haben wenigstens Bier und Zigaretten gekauft«, erzählt Jens. Er macht den Job gerne. Auch wenn er manchmal den ganzen Frust der Leute abkriege, seien doch die meisten, die hier rumhingen, okay. »Die wollen nur was trinken und sich unterhalten.« Jens erinnert sich, wie sie ihm halfen, einen völlig betrunken Fahrer mit einem Kind im Auto den Schlüssel abzunehmen. Überfälle? Ach was. Vielleicht mal ein Benzinklauer im Monat, und das war’s dann auch. Klar, ein Notrufknopf wäre beruhigend, aber auch teuer. 4.00 Uhr. Dave packt die Kameras zusammen. Ein letzter Kaffee noch neben ein paar Streifenpolizisten in der Nacht-BP am Leuze-Bad, dann mache ich auch die Biege. Gerade noch rechtzeitig wird die Morgenzeitung ausgeladen und ein neuer Schub Brötchen fertig. Ideal. Über der Stadt wird es bereits hell, als ich mit den letzten Nachschwärmern Gas gebe.

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