Wer sich jetzt aufs Motorrad setzt, kann die vielleicht extremste Tour des Jahres fahren. Wie Michael Moritz, der bei milder Witterung aufbrach und auf geschlossener Schneedecke zurückkehrte.
Wer sich jetzt aufs Motorrad setzt, kann die vielleicht extremste Tour des Jahres fahren. Wie Michael Moritz, der bei milder Witterung aufbrach und auf geschlossener Schneedecke zurückkehrte.
Das Telefon klingelt. »Hi, Rüdiger hier, schon den Wetterbericht gehört? Zwölf Grad soll es morgen geben und für die nächsten Tage keine Änderung in Sicht. Genau das Richtige für einen zünftigen Wintertrip. Was hältst du von Thüringen?«Mir schaudert bei dem Gedanken, dass aggressives Sreusalz meine zauberhafte Bandit zur alten Rostlaube verwandeln wird. Doch derlei Bedenken lässt Rüdiger nicht gelten. Nach kurzem Zögern willige ich ein. Im Osten glimmt gerade der erste rötliche Schimmer des beginnenden Tages auf, als wir am nächsten Morgen bei Ebergötzen die B 27 in Richtung Duderstadt verlassen. Ein traumhaftes Farbenspiel begleitet uns, von Rot über Purpur bis hin zu warmem Blau, der Himmel zieht alle Register. Die ersten Sonnenstrahlen sorgen sogar schon für etwas Wärme hinterm Visier. Und die mollige Thermokombi schottet zuverlässig gegen die befürchtete, schleichende Kälte ab. Entspannt lausche ich dem dem Sound meiner 1200er-Bandit, während wir von Göttingen in Richtung neue Bundesländer rauschen. Hinter Duderstadt erwarten uns stille und fast autofreie Sträßchen. Bald queren wir die ehemalige innerdeutsche Grenze. Willkommen in Thüringen. Die Stoßdämpfer verrichten ihre Arbeit deutlicher als bisher. Rüdiger stoppt in einer Straßenbucht, klappt das Visier hoch und grinst: »Na, wie isses, schon Frostbeulen?« Von wegen Kälte. Glatt vergessen. Aufgetaut von sanfter Sonnenwärme bin ich wie schwerelos durch die Kurven geglitten, habe fast vergessene Schräglagengefühle erlebt. Und die Straße wurde immer besser.Schlaglöcher, Plattenbauten, Trabis verstaubte Wessi-Klischees. Aber was verbindet man sonst noch mit Thüringen? Logisch, die Rostbratwurst. Gute Idee eigentlich. Und auch Zeit, sich diese pikant gewürzte Mischung aus Rind-, Kalb- und Schweinefleisch zu gönnen. Diese Würste werden bereits seit 1613 nach demselben Rezept in den beizenden Schwaden eines Holzkohlengrills gebräunt, erfahren wir beim Stopp an der Imbissbude. Rüdiger bestellt noch einen dampfenden Kaffee und ich denke bei mir, dass er sich für seine tolle Idee mit der Wintertour eine Essenseinladung verdient hat. Wir sitzen wieder auf, kletten hermetisch jede Kombiöffnung gegen den kalten Fahrtwind zu und cruisen gemächlich weiter. Genussvoll erlebe ich jedes Öffnen und Schließen der Gasschieber, und die Power des dicken Vierzylinders weckt Frühlingsgefühle in mir.Wir nähern uns Bischofferode. Zu DDR-Zeiten arbeiteten hier 2000 Menschen im Kali-Bergbau. Die Ausmaße des stillgelegten Bergwerks sind gewaltig. 50 Kilometer lange Gänge unterminieren den Ort und die Umgebung. Bald nach der Wiedervereinigung sorgte der Name des knapp 2900 Einwohner zählenden Dorfes für Schlagzeilen. Im Dezember 1992 wurde bekannt, dass die Mitteldeutsche Kali AG mit der Kassler BASF-Tochter Kali und Salz fusionieren werde. Das bedeutete in Bischofferode Schicht im Schacht. Die Bergleute traten in den Hungerstreik, einmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Heute erinnert noch als einsames Industriedenkmal der ehemalige Förderturm an die Ereignisse von damals. Und die gewaltige, 140 Meter hohe rostrote Abraumhalde. Sie prägt nach wie vor das ganze Tal.Immer weiter tauchen wir nach Thüringen ein. Allmählich wird mir warm im durchdachten Arrangement der diversen Funktionsfasern. Beim nächsten Stopp auf einer dörflichen Pflasterstrecke wandert eine Fleeceschicht in den Koffer. Weiter gehts Richtung Kyffhäuser, einem stark bewaldeten Bergrücken. Dort wartet der Sage nach Kaiser Barbarossa tief in einer Höhle auf seine Wiederauferstehung. Außerdem haben sich die letzten deutschen Kaiser auf dem Höhenzug ein Monumentaldenkmal setzen lassen. 8850 Kilogramm Kupfer und 8250 Kilo Eisen wurden allein für die Figurengruppe auf der Spitze des Aussichtspunktes verarbeitet. Der Sockel des Denkmals hat die ganze Wärme der spärlichen Sonnenstrahlen gespeichert wie ein Kachelofen. Den Rest des ohnehin kurzen Tages verbringen wir hier oben und erst die rötliche Verfärbung am westlichen Horizont mahnt zur Quartiersuche. Bald endet der Tag in einer warmen gemütlichen Dorfkneipe.Am nächsten Morgen triff uns beim Blick aus dem Hotelfenster beinahge der Schlag. Das Wetter hat über Nacht umgeschlagen und eine weiße Schneedecke über Land und Wege gebreitet. An die Weiterreise ist nicht zu denken. Also was tun? Autoreisezug fällt aus, weil kein passender Bahnhof in der Nähe ist. Von den Kumpels per Anhänger abholen lassen wäre eine Megablamage. Bleibt also nichts anderes, als zu versuchen, auf dem festgefahrenen Schnee vorsichtig zurückzuschleichen. Und es funktioniert gar nicht so übel. Der Himmel klart bald auf und so gleiten wir mit schleifenden Stiefelsohlen langsam Richtung Heimat. Und dank Winterdienst laufen wir kurz vor Einbruck der Dunkelheit wohlbehalten in Göttingen ein.Schnell noch die weiße Salzkruste von den Bikes waschen, dann lassen wir in unserer Stammkneipe die Tour zünftig ausklingen. Der erste Tag war sensationell, da sind wir uns einig. Aber auch dem zweiten gewinnen wir mit jedem Bier mehr Positives ab. »Was machst du eigentlich Ende des Monats?« fragt Rüdiger zu fortgeschrittener Stunde ganz harmlos. »Arbeiten!« »Nee, am Wochenende, Mensch.« »Weiß noch nicht«, antworte ich arglos. »Na klasse«, sprudelt es aus ihm heraus, »dann hast du ja Zeit für die nächste Motorrad-Gleitzeit.«
Thüringen ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert. Hier locken viele kaum befahrene, kleine Sträßchen. Und viele Orte und Plätze der jüngeren und älteren Vergangenheit.
AnreiseGöttingen, der Ausgangspunkt der Tour, ist über die A 7 aus Richtung Hamburg oder Würzburg erreichbar. Wer aus dem Osten anreist, startet den Turn am besten zwischen Sangerhausen und Erfurt.ÜbernachtenFast überall auf dieser Thüringentour finden sich nette Landgasthäuser und Hotels, die ein Bett, Tourentipps und einen Platz für das Motorrad bieten. Einige Empfehlungen: Thüringer Hof, Hauptstraße 30-32, 99706 Sondershausen, DZ ab 120 Mark, Telefon 03632/ 6560; Landhotel Sachsenhof Marktstraße 38, 06537 Kelbra, DZ ab 95 Mark, Telefon 034651/4140, im Internet unter www.sachsenhof.de. SehenswürdigkeitenAuf über 700 m2 ist im Grenzlandmuseum (Telefon 036071/97112) die Entwicklung der DDR und der Grenze dokumentiert. Einen Eindruck von 84 Jahre Bergbaugeschichte bekommt man in Bischofferode.Sondershausen bietet eine sehenswerte Innenstadt und der südlich gelegene Aussichtspunkt Possen einen schönen Blick über die Landschaft. Spannend ist die Barbarossahöhle bei Bad Frankenhausen wo ein Abstecher ins ewige Dunkel unternommen werden kann, Infos unter Telefon 034671/79036. Wer sich mehr für bildende Kunst interessiert, werfe einen Blick ins Panorama Museum Bad Frankenhausen, Telefon 034671/6190, in dem ein einmaliges Monumentalgemälde des Malers Werner Tübke mit über 3000 Figuren zu sehen und ein interessanter Einblick in die Kunst der DDR möglich ist. Das Kyffhäuserdenkmal nahe Kelbra zeigt stattdessen den Pomp und Gigantismus der deutschen Kaiserzeit. Das Freilichtmuseum Tilleda, Telefon 034651/2923, verfügt mit der Königspfalz auf dem Pfingstberg über eine vollständig ausgegrabene und teilweise rekonstruierte Burganlage aus dem frühen Mittelalter. Fachwerk-Liebhaber kommen in Bad Langensalza und Mühlhausen voll auf ihre Kosten.InformationenThüringer Tourismus, Weimarische Straße 45, 99099 Erfurt, Telefon 0361/5402234 oder im Internet unter www.th-online.de/tourismus. Kyffhäuser Fremdenverkehrsverband e. V., Telefon: 03 46 71/717-0, im Internet unter www.kyffhaeuser.de.LiteraturEin guten Überblick bietet der kleine Polyglott-Reiseführer »Thüringen« für 14,90 Mark. Zur Orientierung eignet sich Generalkartenblatt 11 von Marco Polo für 8,80 Mark im Maßstab 1:200 000. Zeitaufwand: Zwei bis drei TageGefahrene Strecke: Zirka xxxx Kilometer