Ungarn Jenseits der Donau

Fernab von der Hektik Budapests und den Touristenströmen in der Puzsta präsentiert sich der Osten Ungarns zwischen dem Bükk-Gebirge und der russisch-rumänischen Grenze von seiner ruhigen Seite.

Eigentlich ist Tibor in Eile. Als Fotograf für eine ungarische Tageszeitung soll er Bilder von einer Studentendemonstration in Debrecen schießen, wo er uns zufällig über den Weg lief. Doch für einen kurzen Plausch in einem kleinen Kaffee hat er Zeit. Ihm gefiel unsere Suzuki und unsere Idee, den Osten Ungarns zu besuchen. »Die meisten Touristen« erklärt er, »bleiben in Budapest oder in der Puszta hängen.« Spontan lädt er uns ein, ihn morgen nach Tokai zu begleiten. Er soll dort am Abend ein Open-air-Sinfoniekonzert auf dem Marktplatz fotografieren. Davor er will uns die Stadt zeigen und uns einem seiner Freunde, einem bekannten Künstler, vorstellen. Am anderen Tag begleiten wir Tibor mit unserem Motorrad in das hübsche Städtchen. Noch ist es ruhig auf dem kleinen Marktplatz, und bis zum Konzert bleiben noch ein paar Stunden Zeit. Gemeinsam spazieren wir durch eine steile Gasse zu der barocken Kirche hoch oben über der Stadt. Nebenan lebt in einem alten Weinbauernhaus Tibors Freund, der Maler Makoldi Sandor. Im Garten hat der Künstler zwischen herbstlich verfärbten Weinreben einige seiner Werke ausgestellt, und neben einer ausgedienten Waschmaschine haust ein riesiges, schwarzbehaartes Wildschwein.Sandor ist von einer beeindruckenden Statur, und auf dem Kopf trägt er eine Mütze, die an jene Rembrandts erinnert. Mit einer fast schon königlichen Gebärde lädt er uns in sein Haus ein. Doch bevor Sandor die Klinke der weißen Tür, die wie eine einfache Küchentür aussieht, niederdrückt, dreht er sich noch einmal zu uns um: »Ihr müßt eure Köpfe einziehen - wer ins Paradies will, muß sich bücken.« Er lächelt und verschwindet in einem finsteren Tunnel. Wir folgen. Angenehme Kühle umfängt uns. Nur langsam gewöhnen sich unsere Augen an das Dunkel des schmalen Gangs. Eine Glühbirne in einer alternden Halterung spendet schwaches Licht. Sandor zündet Kerzen an und verteilt sie auf den Weinfässern, die überall in dem alten Gewölbekeller stehen. Die imposante Gestalt des Künstlers wirft riesengroße Schatten auf die gekrümmten Wände. Dann richtet er sich - soweit es geht - auf und verkündet mit feierlicher Stimme: »Meine Pince - mein Paradies!«Der Weinkeller, die Pince, wurde bereits im Barockzeitalter tief in den Löß unter dem Haus gegraben. Die Temperatur in dem Raum ist im Sommer und im Winter immer gleich, zirka zwölf Grad. Uralte Rebwurzeln hängen dekorativ von den Wänden herab und liegen auf den Fässern. Dunkler Kellerschimmel überzieht alle Gegenstände in dem Raum braun und samtig. Doch der Schimmel habe eine wichtige Funktion, erklärt Sandor, er reguliere die Luftfeuchtigkeit.Der Weinkellerbesitzer führt uns bis zu einem großen Faß, taucht ein langes Glasrohr mit einer bauchigen Ausbuchtung in eine kleine Öffnung im Deckel, saugt an und füllt dann unsere Gläser. Der Weinheber heißt »rabló«, was nichts anderes als Räuber bedeutet. Der dem Faß geraubte Wein funkelt im Schein der Kerzen. »Egészégére, zum Wohlsein!« Dann erzählt der Künstler und Weinkenner vom Weinanbau, von der Besonderheit der Aszubeere, der Trockenbeere, die dem Tokajer Aszuwein seinen einzigartigen Geschmack verleiht. Diese Frucht, erfahren wir, kann sich nur in einem langen und warmen Herbst entwickeln. Dann wird sie gesondert gelesen und zu einem teigartigen Brei verarbeitet. Auf drei, vier, fünf oder sechs Butten von diesem Aszubrei wird schließlich ein Faß neuer Wein aufgegossen. Dann ruht der Wein sechs bis sieben Jahre in Eichenfässern tief unter der Erde.»Aber was treibt euch nach Ostungarn?« Auch Sandor ist über unseren Besuch in diesem Teil des Landes überrascht. Wir erzählen, daß wir vor Budapest nur in Szentendre angehalten hatten, um uns die Keramiken im Museum der Kovàcs Margit anzusehen. Der kleine Künstlerort am Donauknie ist jedoch so überlaufen, daß wir bald die Flucht in Richtung Nordosten ergriffen haben und selber überrascht waren, jenseits der Donau plötzlich fast alleine unterwegs zu sein. »Habt ihr Eger gesehen?« fragt Sandor. Oh ja, ein wirklich schönes Barockstädtchen inmitten weitläufiger Weinberge. Sandor und Tibor nicken zustimmend. Und der Wein, der Egri Bikaver, was soviel wie Stierblut bedeutet, schmecke hervorragend. Sandor läßt wieder Wein aus dem Räuber in unser Glas laufen. »Furmint«, sagt er pathetisch, als würde er uns mit einer berühmten Diva bekanntmachen. Die goldgelbe Flüssigkeit der Furmintrebe schimmert in unseren Gläsern, schmeckt feurig und hat ein fruchtiges Aroma. Der edle Tropfen macht uns die Wangen heiß und beflügelt unser Gespräch.Das waldreiche Bükk-Gebirge habe uns sehr gefallen. Sandor und Tibor nicken wieder, denn die Ungarn lieben ihre kleinen Berge noch mehr als die weiten Ebenen. Aber am besten gefiel uns das Zemplener Bergland im Norden, nahe der slowakischen Grenze. Eine abgelegene Landschaft mit mächtigen Burgen auf bizarren Vulkankegeln, einsam und fern jeder Hektik, mit liebenswerten Menschen und nicht zuletzt ein idealer Platz zum Motorradfahren. Unterhalb der Burgruine Füzér, wo einst die ungarischen Krönungsinsignien vor den Türken versteckt wurden, hatten wir uns allerdings verfahren. Plötzlich hörte die Straße einem Hof auf. Ein Hund protestierte lautstark, wurde aber von der Bäuerin mit einem solchen Wortschwall bedacht, daß er sich leise und mit hängenden Ohren in eine Scheune zurückzog. Ein stämmiger Bauer mit Baskenmütze schabte gemächlich weiter an seinen Futterrüben, die Frau winkte in unsere Richtung, wir sollten doch näher kommen. Ein paar nette Worte zur Begrüßung, dann saßen wir auch schon in der Küche von Mutter Antonia. Unseren Durst löschte sie mit orangefarbener Limonade aus einer großen Plastikflasche. Anschließend tischte sie frischen Quark auf und schnitt vom riesigen Brotlaib kräftige Scheiben. Sie huschte auf bunten Socken in den Garten hinterm Haus und pflückte frischen Paprika. Schließlich setzte sie sich zufrieden auf einen Schemel nieder und ließ ihre abgearbeiteten Hände im Schoß ruhen.Wir verständigten uns durch viele Gesten und mit Hilfe eines kleinen, längst ergrauten Wörterbuchs. Drei Söhne habe sie, voller Stolz erzählte sie von Stephan, den sie nach dem ersten ungarischen König benannt hatte, und von Joseph, natürlich, und ... und ..., sie hatte den Namen ihres jüngsten Sohnes in diesem Augenblick vergessen. Tränen kullerten plötzlich über ihre faltigen Wangen. Schon ein halbes Jahr war er nicht mehr zu Hause gewesen. Der zweite Sohn schaute in die Küche herein, ein großer, schnurrbärtiger Mann. Er ließ unser Motorrad, das unbeaufsichtigt auf der Straße stand, nicht aus den Augen. Wegen der Zigeuner, gab Joseph zu verstehen.»Ja, ja, die Zigeuner«, bestätigt Sandor, »die sind bei uns nicht gerade beliebt.« »Aber sie sind freundlich und haben Charme«, protestieren wir und erzählen von einer kleinen Episode, die uns vor ein paar Tagen passiert ist. In einem Dorf nahe Sàrospatak hatten wir ein verfallenes Herrenhaus entdeckt, dessen ursprüngliche Schönheit nur noch zu erahnen war. Ein Autowrack und ein räderloser Kinderwagen rosten vor dem Gebäude vor sich hin. Ich stellte die Suzuki auf den Seitenständer, und wir spazierten durch die Ruine. Plötzlich kam ein vielleicht siebenjähriger Zigeunerjunge vorbei. Er stellte seinen Schulranzen beiseite, blinzelte in die Sonne, und beobachtete uns eine Zeit lang. Dann schulterte er wieder seinen Ranzen, ging zu Anne und verabschiedete sich mit den Worten: »Czòkolom, küss« die Hand, gnädige Frau.« Sandor erwidert auf meine Erzählung nichts, sondern beschäftigt sich schon wieder mit dem nächsten Weinfaß. »Das ist ein Szamorodni, sein herber Geschmack ist mit dem eines Sherry vergleichbar - und dazu eine Karpfensuppe nach Art der Tisza-Fischer«, genießerisch riecht Tibor am Glas, »Karpfengerichte sind hier eine wirkliche Spezialität.« Die Tisza sei neben der Donau der größte Fluß im Land, und in den zahlreichen abgetrennten Flußschleifen, Altwasserarmen, aber auch in den zahlreichen kleinen Seen gebe es noch viele Welse, Karpfen und Zander. »Zumindest so lange, bis sie in den Suppentopf wandern«, fügt er lachend hinzu. »Ja, im Suppentopf beginnt der Ernst des Lebens«, doziert Sandor und leert sein Glas mit einem kräftigen Schluck, »denn eine richtige Karpfensuppe wird nicht gekocht, sie wird gezaubert.« Natürlich weiß Sandor, wie. Zuerst, erklärt er, würde aus kleineren Fischen und den abgetrennten Köpfen der Karpfen ein kräftiger Sud mit Zwiebeln, Tomaten und Paprikaschoten bereitet. Diese Fischbrühe müsse man mitsamt dem Gemüse durch eine Sieb geben und wieder langsam auf einer kleinen Flamme erhitzen. Schließlich würden dünne Karpfenscheiben, Roggen, Milch, Leber und viel Paprikapulver dazugegeben. Nur ab und zu solle man Topf drehen oder sanft schaukeln, denn der Fisch müsse schwimmen. »Wenn man dann nach zehn Minuten den Deckel lüftet, schwinden einem die Sinne.« Sandor schließt die Augen und schnalzt laut mit der Zunge. »Seid ihr überhaupt schon an der Tisza gewesen?«Wir erzählen, daß wir während der letzten Tage dem Verlauf des Flußes bis nach Szamtmárcseke gefolgt seien. Aber leider führte keine Straße unmittelbar an den urwüchsigen Ufern der gemächlich fließenden Tisza. Nur ab und an überschauten wir eine Flußschleife. Manchmal hörte die Straße plötzlich auf, und wir ließen uns von einer altertümlichen Fähre an das andere Ufer bringen. Je weiter wir nach Osten bis in die Nähe der rumänischen Grenze kamen, um so einfacher und ursprünglicher wurden Land und Dörfer. Oft waren wir allein unterwegs, nur ab und zu kam uns ein alter Trabbi oder ein Moskwitsch entgegen. Die meisten Bewohner in den kleinen Dörfern mit ihren uralten Holzkirchen und Mühlen gingen zu Fuß oder fuhren auf Fahrrädern, manchmal saßen sie sogar zu zweit oder zu dritt auf einem altersschwachen Drahtesel. In der kleinen Ortschaft Tákos schauten wir ein paar Frauen über die Schulter, die in Windeseile die wunderbarsten Muster in kleinsten Kreuzstichen auf Deckchen, Kissen und Vorhänge stickten. Sandor nickt, auch ihm gefällt das Gebiet im Osten des Landes zwischen Rumänien und der Ukraine, für ihn ist dort die Seele der ungarischen Volkskunst beheimatet.»Kommt!« Sandor nimmt einen alten Kronleuchter und winkt uns weiter. Wir befürchten, mit einem neuen Weinfaß Bekanntschaft zu machen, doch Sandor senkt geheimnisvoll seine Stimme: »Ursprünglich reichte der Keller unter dem Haus nur bis hierher. Aber dann bemerkte ich, daß eine Wand hohl klang.« Nach einem Durchbruch entdeckte der Künstler zu seiner großen Überraschung einen weiteren Gang, den er uns jetzt zeigen will. »Kommt weiter.« Der Gang setzt sich in gleicher Richtung des Kellers fort, verzweigt sich einmal nach links und dann wieder nach rechts. Am Ende des Gangs wischt Sandor mit mit einer beschwörenden Gebärde den braunen Kellerschimmel von der Wand. Ein Sensenmann, vor etwa fünfhundert Jahren in den Lehm geritzt, wird sichtbar, ein Wesen, das vorne Vogel und am Schwanz ein Fisch ist - eine gehörnte Gottheit. »Seht, hier, die Zahlen 146 lassen auf das Jahr 1460 schließen, zu dieser Zeit hat Gutenberg in Mainz die erste Bibel gedruckt.« Dann klopft er mit seinen kräftigen Händen die nächste Wand ab, die auch hohl klingt. Irgendwann, erklärt der Maler, würde er den nächsten Durchbruch wagen und bestimmt etwas Neues entdecken.Wir steigern uns in jene Begeisterung, die Sandor wohl jedesmal erfaßt, wenn er in seiner Pince seinen Gedanken und Träumen nachhängt. Längst wissen wir nicht mehr, wie viele Gläser wir probiert haben. Unsere Gesichter glühen vom Wein und vom Erzählen. Eine angenehme Wohligkeit sitzt in unseren Gliedern. Raum und Zeit sind längst in Vergessenheit geraten. Über Tokaj ist es Nacht geworden. Sterne leuchten, und es riecht würzig nach welkem Laub und der nahen Tisza. Es ist still, nur ein Hund bellt in der Ferne. Wir sind froh, erst morgen wieder aufs Motorrad steigen zu müssen, wir haben uns glücklicherweise in ein Hotelzimmer eingemietet. Tibor blickt auf die Uhr, joi - das Konzert! Hastig verabschieden wir uns, stolpern durch das Dunkel den holprigen Weg hinab ins Dorf und sehen gerade noch den letzten Musiker den Deckel seines Geigenkastens zuklappen.

Infos

Neben der Metroplole Budapest und der Puszta ist der Osten Ungarns ein weiteres attraktives Reiseziel: Abwechslungsreiche Strecken führen durch kleine Gebirge und durch reizvolle Landschaften, in denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint.

Anreise: Nach Budapest geht´s am besten über die Autobahn von München über Salzburg und Wien. Lediglich ein kurzes Teilstück hinter der österreichisch-ungarischen Grenze ist noch nicht fertiggestellt. Zur Einreise genügen Personalausweis, Fahrzeugpapiere und die Grüne Versicherungskarte. In Budapest herrscht ein ausgesprochen weltstädtisches Verkehrstreiben, eine Umfahrung ist allerdings umständlich. Bei der Weiterfahrt sollte man die Schnellstraße nach Szolnok meiden. Wesentlich ruhiger und schöner ist die Strecke über Eger und das Bükk-Gebirge.Reisezeit: Die Sommer sind gegenüber denen in Mitteleuropa wärmer und sonnenreicher, die Winter dafür um so kälter. Für Tourenfahrer ideal sind die Monate von April bis Oktober, besonders schön der Altweibersommer und die Herbstlaubfärbung im September und Oktober. Ebenso kommen Weinliebhaber in diesen Monaten auf ihre Kosten.Übernachten: Unterkünfte sind in Ungarn zahlreich und preiswert, lediglich in den östlichen Grenzgebieten beschränken sie sich auf größere Orte. In ländlichen Mittelklassehotels zahlt man selten mehr als 40 Mark für das Doppelzimmer mit Frühstück. Privatzimmer und Touristenhotels oder Jugendherbergen sind noch preiswerter. Allerdings kosten Zimmer in Budapest selten weniger als 100 Mark. Auf die zahlreichen Campingplätze wird mit blauen Schildern hingewiesen. Weiter Auskünfte: Ungarisches Fremdenverkehrsamt, Berliner Str. 72, 60311 Frankfurt, Telefon 0 69/9 29 11 90, Fax 0 69/92 91 19 18.Literatur: Zur Vor- oder Nachbereitung einer Reise nach Ostungarn empfehlen sich zwei Bücher: »Der Tokajer« von Michael Sailer und Pap Miklos aus dem Michael Sailer Verlag für 38 Mark und »Die Puszta« von Gyula Illés, erschienen im Greno Verlage für 48 Mark. Das Buch beschreibt auch die Geschichte des Weins und des Anbaugebietes Tokaj - ein Kapitel, das ursprünglich von dem ungarischen Lehrer und Museumsdirektor Pap Miklos geschrieben wurde, dem einst auch der im Text beschriebene Weinkeller gehörte. Anders als der Titel vermuten läßt, bezieht sich das Buch nicht ausschließlich auf den gleichnamigen Landstrich, sondern beschreibt das Leben der ungarischen Landbevölkerung. Für den interessierten Besucher eine sehr gute Einführung. Die Beschreibung des östlichen Teils von Ungarn findet sich nur in allgemeinen Ungarnführern. Als recht ausführlich und praxisgerecht erweist sich der ADAC-Reiseführer »Ungarn« für 29,80 Mark. Als Landkarte genügt die Shell EuroKarte »Ungarn« im Maßstab 1:300000 für 14,80 Mark. Hier sind auch kleinste befahrbare Straßen aufgezeichnet.ZeitaufwandGefahrene Strecke

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