Unterwegs: Aostatal
Eine Alpenreise abseits der Hauptrouten

Das norditalienische Valle dAosta mit seinen sechzehn verschwiegenen Seitentälern ist eingerahmt von den Viertausendern rund um Mont Blanc und Matterhorn sowie den Pässen Großer und Kleiner Sankt Bernhard - da bleibt abseits der Hauptrouten bei kurvensüchtigen Alpenfans kein Auge trocken.

Eine Alpenreise abseits der Hauptrouten
Foto: Daams

Domenico weiß alles. Der 49-jährige Grauschopf ist Inspektor bei der Kripo in Aosta und zugleich Präsi des örtlichen Motorradclubs - also der ideale Ansprechpartner für die Frage: Welches sind die zehn besten Motorradstrecken rund ums Aostatal? Schon Domenicos erster Tipp erweist sich als Volltreffer, das familiäre Hotel Monte Emilius (in Aosta Richtung Skigebiet Pila) als günstiges Basislager für die Tour. Mille grazie oder auch merci beaucoup.

Das Valle d’Aosta ist die kleinste Region Italiens und genießt einen autonomen Sonderstatus. Es gehörte einst zum Königreich Savoyen, zweite offizielle Amtssprache ist daher noch heute Französisch. Seit der Antike kreuzen sich hier wichtige Verkehrswege der Westalpen, woran römisches Amphitheater und Augustusbogen in Aosta erinnern. Attraktiver als das Zentraltal, durch das neben der Dora Baltea auch die Lkw vom und zum Mont-Blanc-Tunnel rauschen, sind die vielen durch Gletscher und Wildbäche entstandenen Seitentäler. Was beim Blick auf die Karte nicht unbedingt reizvoll scheint ("Immer nur Sackgassen"), garantiert unverwässertes Vergnügen. Kein Durchgangsverkehr stört das Tête-à-tête mit der grandiosen Natur, oftmals schmale Stichstraßen führen immer wieder hinauf zu Bergen und Wolken.

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Korkenziehermäßig schraubt sich die Straße vom Bergbaustädtchen Cogne weiter hoch nach Gimillan. Verwitterte Schieferdächer, grob verputzte Natursteinfassaden, üppige Blumenkübel und über allem ein offener Glockenturm, in dem Django auf Besuch warten könnte – was für ein Idyll. Oberhalb von Gimillan ist auf Wanderpfaden für die Yamaha XJR 1300 Ende Gelände. Immerhin kann das Auge in die Ferne schweifen, bis zu den majestätischen, wie von weißen Hermelinkrägen geschmückten Gipfeln im Nationalpark Gran Paradiso. Nomen est omen.

Neben dem Val di Cogne, Platz 6 auf Domenicos Liste der Top Ten, stoßen noch drei weitere Täler wie die verbogenen Zinken einer Heugabel tief hinein in die unberührte Berglandschaft um Italiens einzigen Viertausender, den Gran Paradiso. Die unterschiedlichen Charaktere von Val Savarenche, Val di Rhêmes und Val Grisenche (gemeinsam auf Platz 10) zu beschreiben, würde den Rahmen sprengen, deshalb hier nur so viel: Kurven gibt es reichlich, wenn auch selten als spektakulär verschlungenes Spaghettiknäuel - womit sie leicht hüftsteifen Boliden geradezu auf den Leib geschrieben sind. Als schließlich mit einbrechender Nacht im überraschend anmutigen Val Grisenche der Scheinwerferkegel orientierungslos durch Höhennebel geistert und dabei nicht einmal den Lac de Beauregard trifft, wird es Zeit, zurück an den gedeckten Restauranttisch im Monte Emilius zu eilen.

Daams
Gran Paradiso – der Name bringt die Sache auf den Punkt.

Am nächsten Vormittag wird der Ausflug ins Valpelline (Platz 9) zu einem recht feuchten Vergnügen. Wälder, Wiesen, Dörfer, Felsen - alles verschwimmt hinter einem gigantischen Wasservorhang. H2O in seiner schönsten Form dagegen am Ende der Straße, wo der Stausee Place Moulin - eine der größten Talsperren Europas - ins Tal gebettet liegt, als hätte jemand eine türkisfarbene Brosche verloren. Nach nur 94 Kilometern parkt das Motorrad wieder vorm Heimathafen, wann hat es das je gegeben? Und wann bereits zum Mittagessen einen halben Liter Rotwein? Picobello dann das Wetter am nächsten Morgen, also los, grobe Richtung: Mont Blanc.

Wie am Mittelrhein zwischen Koblenz und Bingen jagt im Valle d’Aosta eine alte Burg die nächste. Sie wurden meist dicht an dicht auf Schussweite erbaut und haben es sicher nicht verdient, statt besichtigt nur en passant als Fotokulisse genutzt zu werden. Bard, Verrès, Issogne, Ussel, Fénis, Sarre, Introd. Doch noch mehr lockt das Bergsträßchen von Saint-Pierre nach Saint-Nicolas! Neun Kilometer appetitlich hergerichteter Asphalt (Platz 5), dazu Apfelplantagen und die höchsten Weinlagen Italiens. Höchste Genüsse verspricht auch das mit einem Michelin-Stern geadelte Café Quinson im mittelalterlichen Morgex. Alternativ besorgen sich eilige Gourmets in der gegenüberliegende Alimentari ein paar Sandwiches, dick belegt mit Prosciutto di Bosses oder Fontina-Käse. Die richtige Stärkung für Nummer 2 und 4 auf Domenicos Liste, denn die animieren jetzt zum Höhenmetersammeln. Ab Morgex steigt die Straße gut 1000 Meter zum Colle San Carlo an, stürzt sich von dort 500 Meter hinab in den Wintersportort La Thuile, um dann nochmal 750 Meter bis zur Passhöhe am Kleinen Sankt Bernhard (2188 Meter) zu steigen.

So verführerisch es ist, vom Kleinen Sankt Bernhard nach Frankreich zur Route des Grandes Alpes durchzustarten, so pflichtbewusst geht es zurück ins Valle d’Aosta - auch das ein kurvenreicher Genuss - und vorbei am noblen Courmayeur direkt aufs vergletscherte Mont-Blanc-Massiv zu. Wie ein gestrandeter Moby Dick versperrt der Koloss das Talende, lässt nur die Wahl, sich vom Schlund des Mont-Blanc-Tunnels verschlucken zu lassen - oder im letzten Moment das Ruder herum zu werfen, rechts ins Val Ferret oder links ins Val Veny abzuschwenken. Auch wenn die beiden Hübschen es nicht in die Top Ten geschafft haben, sind sie eine Stippvisite wert. Ein absolutes Muss ist anderentags der Col di Joux. Die Passstraße zwischen Saint Vincent und Brusson rangiert unangefochten auf Platz 1 der Liste, und wenn dort die Fußrasten mehr oder weniger sanft den Asphalt kosen, wird klar, warum. Wer eher die Entschleunigung liebt, fahre von Brusson durchs Val d’Ayas bis nach St. Jacques, wo am Ende der Straße ein munter durch den Wald gurgelnder Gebirgsbach zur meditativen Betrachtung bittet.

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Am Wegesrand stehen Burgen wie am Mittelrhein: dicht an dicht auf Schussweite.

Ähnlich entspannend ist das benachbarte Gressoneytal (Platz 8), Enklave der deutschsprachigen Walser und mit dem Castello Savoya sowie dem Alpenfaunamuseum in St. Jean die Gelegenheit bietend, sich kulturbeflissen einmal die Füße zu vertreten. Vielleicht bucht man dabei auch gleich den nächsten Skiurlaub, denn die Reviere hier am Monte Rosa zählen zu den schönsten der Region. Dazu passen die Wetterverhältnisse in Breuil-Cervinia: Sechs Grad zeigt das Thermometer, keine Spur vom Matterhorn, buchstäblich krönender Abschluss des Valtournenche (Platz 7).

Wer mitgezählt hat, weiß: Von Domenicos zehn Lieblingsstrecken fehlt noch die Nummer 3. Und das kann nur der Große Sankt Bernhard sein. Tunnel sei Dank, biegt bei Saint-Rhémy-en-Bosses der Schwerlastverkehr ab. Während auf italienischer Seite die serpentinengespickte Straße einen niegelnagelneuen Belag hat, ist sie jenseits der Grenze in der piekfeinen Schweiz dann runzlig wie die Haut einer alten Orange.

Letzter Tag, Begegnung mit Otello, mit 78 Jahren Zweitältester im hiesigen Motoclub delle Alpi. Seine große Liebe stammt aus Bayern: Die BMW K 100 LT, ein champagnerfarbenes Schmuckstück von 1987 mit rund 200000 Kilometern auf der eckigen Uhr, besitzt durch kunstvoll gepinselte Berglandschaften auf den Kofferdeckeln sowie eine umfangreiche Sammlung von Fotos und Musikkassetten im Topcase eine höchst individuelle Note. Fotosession mit Senioren am Arco di Augusto von Aosta, dem römischen Triumphbogen aus dem Jahre 25 vor Christus, und dann "Ciao Otello und Domenico", um auf einer Abschlusstour die Sammlung von Berglandschaften zu komplettieren.

Erst in rasantem Rutsch auf der SS 26 durchs Aostatal bis nach Pont-Saint-Martin und dort ein paar Kugeln Eis vom Italiener. Um nicht als Kulturbanause gesteinigt zu werden, noch eine Ehrenrunde ums Wahrzeichen des Städtchens, die alte Römerbrücke über die Lys, dann auf zum Finale Grande. Das Val Champorcher hat das Zeug zum Champion der Herzen. Es fängt mit ein paar saftigen Kehren an und endet 1000 Meter höher und 15 Kilometer weiter beim Bataille de Reines. Was aus der Ferne wie eine Rangelei zwischen Stieren aussieht, ist der traditionelle Kampf der "Milchmädchen", die von März bis Oktober in vielen Orten der Region gegeneinander antreten und dabei sogar aufs Fell gesprühte Startnummern tragen. Sie müssen zwar etwas zum Schubsen getrieben werden, doch das tut dem Vergnügen keinen Abbruch. Doch auch wer Kuhkämpfe nicht mag, wird im Valle d’Aosta garantiert anderweitig fündig. Wie sagte Domenico dazu so treffend: "Jeder findet hier etwas anderes schön." Ihm gefiel übrigens die Strecke vom Hotel Monte Emilius hoch nach Pila nicht so sehr, denn da gäbe es kaum was zu gucken, außer Serpentinen. Geschmackssache.

Infos

Die Reise durchs Aostatal: Reisedauer: 6 Tage - Gefahrene Strecke: 1300 Kilometer.

Wer das Valle d'’Aosta im äußersten Nordwesten der italienischen Alpen nur von der zügigen Durchreise auf Autobahn oder Staatsstraße kennt, wird in den vielen Seitentälern sein stilles Wunder erleben. Wanderstiefel nicht vergessen!

Anreise
Auch wenn es gerade in den Bergen viele schöne Wege zum Ziel gibt: der direkteste führt hier auf den mautpflichtigen Schweizer Autobahnen bis Martigny und ab dort dann weiter über den Großen Sankt Bernhard (Pass oder Tunnel) nach Aosta.

Unterkunft
Als Standort für gepäckfreie Tagesetappen sowie das abendliche Après-Moto bietet sich Aosta an. Im Herzen der Stadt liegt das Hotel Roma, Via Torino 7, Tel. 0039-(0)165-410000039-(0)165-41000, www.hotelroma-aosta.it, DZ ab 86 Euro. Ebenfalls zentral das B&B de la Ville von Motorradfan Fabio Agostinacchio, Rue Quintane 2, Tel. 0039-(0)165-2315860039-(0)165-231586, Mobil (auch sms) 0039-33137477270039-3313747727, www.bbaosta.it, DZ ab 60 Euro. Mit Schwimmbad und Kuppelarchitektur lockt vier Kilometer westlich von Aosta das Etoile du Nord in Sarre, Frazione Arensod 43 (SS 26), Tel. 0039-(0)165-2582190039-(0)165-258219, www.etoiledunord.it, DZ ab 80 Euro. Gleich vor der Tür beginnen die Serpentinen am Hotel Monte Emilius in Charvensod (Straße nach Pila), Via Capoluogo 123, Tel. 0039-(0)165-320900039-(0)165-32090, www.hotelmonteemilius.com, DZ 60 Euro.

Reisezeit
Nach, respektive vor dem Winter mit seinen wegen Schnee und Eis unpassierbaren Bergstraßen, also etwa von Mai bis Oktober, so könnte man die Motorradsaison im Valle d’Aosta kurz umschreiben. Da in den meisten Seitentälern die Straßen schon auf rund 1700 Metern enden, nur die Pässe Großer und Kleiner Sankt Bernhard sind deutlich über 2000 Meter hoch, ist das schneefreie Zeitfenster aber immerhin etwas größer als nebenan auf der französischen Route des Grandes Alpes.

Sehenswert
Wenigstens hier soll ihnen ein Absatz gewidmet werden, den im Text so stiefmütterlich behandelten Burgen und Schlössern des Aostatals. Exemplarisch genannt seien die wuchtige Festung Bard, die mit Türmen und Fresken gespickte Burg Fénis, Schloss Issogne mit seinem Granatapfelbrunnen, das würfelförmige Schloss Verres sowie das Schloss Ussel mit zeitgenössischen Ausstellungen. Und dass es außerdem auch Zeugnisse aus römischer Zeit gibt, dafür ist das Amphitheater in Aosta zwar imposantestes, nicht jedoch einziges Beispiel. Ausführliche Angaben finden sich auf der Website des Tourismus-Informationsbüros (siehe Adressen). Wer kein Kulturfreak, sondern eher als Bergfex unterwegs ist, zudem über geländegängiges Gerät verfügt, suche im "Großen Alpenstraßenführer" von Denzel nach geschotterten Schmankerln; wie sich in der Szene herumgesprochen haben dürfte, ist der Bontadini-Lift als höchster anfahrbarer Punkt der Alpen (3332 Meter) inzwischen allerdings offiziell gesperrt.

Literatur und Karten
Als Reiseführer empfiehlt sich "Piemont & Aostatal" aus dem Michael Müller Verlag für 19,90 Euro. Eine geeignete Straßenkarte ist "Italien 1, Piemont - Aostatal" von Marco Polo im Maßstab 1:200000 für 8,50 Euro.

Adressen
Tourismus-Informationsbüro Valle dAosta, Piazza Emile Chanoux 2, I-11100 Aosta, Tel. 0039-(0)165-2366270039-(0)165-236627, Fax 0039-(0)165-34657, www.regione.vda.it/turismo; die Region ist sehr um Motorrad fahrende Gäste bemüht und stellt entsprechendes Karten- und Infomaterial bereit.

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