Schade, dass die Küche des Tibeters kurz vor Évian-les-Bains am Genfer See schon geschlossen hat. Wäre die perfekte Einstimmung für die nächsten Tage gewesen, weil wir ja quasi den französischen Himalaya durchqueren wollen.
Startpunkt der 1913 in ersten Teiletappen eröffneten Alpenpassage ist Thonon-les-Bains, ein Thermalkurort, der wirkt wie, excuse, eine Diva nach verkorkster Schönheitsoperation. Kein Vergleich zur eleganten Nachbarin Évian mit ihren schmucken Villen der Belle Epoque und dem pompösen Casino. Als seien sie kostbar wie 10000-Euro-Jetons, wurden Hinweisschilder auf die Route des Grandes Alpes recht sparsam platziert. So ist etwas Spürsinn nötig, bis die Reiseenduros endlich artgerechtes Terrain vor der Schnauze haben und von der Leine dürfen. Und schwupps: Pässchen Nummer eins schnupfen, den Col des Gets (1163 m). Was in deutschen Mittelgebirgen wie dem Harz, wo der höchste Brocken gerade mal 1141 Meter misst, der absolute Star wäre, wird hier nur „mitgenommen“ wie ein dritter Torwart zur WM.
Bei der engagierten Attacke auf den Col de la Colombière (1613 m) ist Haftung gefragt. Auch die Kollegen der pedalierenden Zunft haben den Pass ins rasend pumpende Herz geschlossen. Ihre Hightech-Rennräder sind gerne mal teurer als eine gut abgehangene Fireblade. Ernsthafte Aspiranten aufs Maillot Jaune der Tour de France sind trotzdem kaum dabei. Eher ziemlich fitte Silversurfer. Die treffen wir auch beim nächsten Zwischenziel, dem Col des Aravis (1487 m). Dort an einer Souvenirbude ein Kräuterlikörchen probieren? Nö, unsere Droge heißt jetzt Alp(e)s, nicht Alkohol. Wie einst die Siedler im Wilden Westen sind wir unersättlich, ziehen weiter und weiter, statt irgendwo länger zu verweilen. Vom gelobten Bergland, daheim häufig vermisst, gibt’s schließlich mehr als genug. Wen stört es da, dass die Passhöhe des Col des Saisies (1650 m) an einem öden Großraumparkplatz liegt, geschaffen fürs Heer der Wintersportler. Im Sommer erinnert Les Saisies, 1992 Austragungsort der Olympischen Spiele, an eine ausgestorbene Westernstadt nach dem Goldrausch. Die „Saloons“ sind geschlossen, leere Gondeln baumeln an den Drahtseilen der Lifte wie Schlingen am Galgen. Da findige Köpfe jedoch nicht nur auf Schnee setzen, gibt’s hier inzwischen auch einen riesigen Bikepark zum rasanten Downhillen auf schwarzen Tracks, zumindest für Cracks.
Einsame Straßen

Wir bleiben unseren Spurtgeräten treu und rauschen weiter, unaufhaltsam wie das Schmelzwasser, das mit mächtigem Getöse am Cormet de Roselend (1967 m) die Straße quert. Der Bordcomputer meldet schattige sieben Grad, ungefähr die Temperatur des hoffentlich irgendwo auf uns wartenden Feierabend-Bieres. Aber noch ist es nicht so weit. In Bourg-Saint-Maurice ein kurzer Tankstopp – und Start frei für 43 Einsame-Klasse-Kilometer bis zum Col de l’Iseran. Dank der Gnade des späten Unterwegsseins sind die Straßen leer gefegt wie ein schwäbischer Bürgersteig am Freitagabend, dank ausgeschlafener britischer Ingenieure faucht der 1200er-Drilling beim Kurvenräubern vor Vergnügen. Brav vom Gas in Val-d’Isère, auch das ein Wintersportmekka im sommerlichen Dornröschenschlaf, und weiter zur Passhöhe. Schön, wenn bei solchen Exkursionen das Begleitpersonal nicht um 21 Uhr anfängt zu quengeln: Hunger, kalt, noch kein Quartier. Marcus, merci!
Spektakuläre 17 Kilometer windet sich der graue Wurm, 1937 als höchste Straße Europas dem Fels abgerungen, aus immer karger werdendem Tal himmelwärts, eingerahmt von Schneefeldern und den Graten schroffer Berge. Col de l’Iseran. 2770 Meter. Null Grad, null Herbergen. Dabei hätte ich so gerne mal dicht am Dach der Alpen genächtigt. Also schnell zurück ins plötzlich heimelig erscheinende Val-d’Isère, da gibt es Hotels genug.
Sans soleil samedi matin. Col du Télégraphe (1566 m), Col du Galibier (2645 m) sowie Col du Lautaret (2058 m) – allesamt fest in der Hand oder besser in den Waden der Rennradfraktion und Bühne für die Dramen der Tour – versinken in einer gigantischen grauen Suppe. Da hilft nur die Hoffnung auf eine trockenere Rückfahrt. Und die Tagessuppe in der Crêperie „Le Kawa“ in Le Monêtier-les-Bains.
Vom Kleinen wieder zum Großen. Wie erstarrte Überbleibsel aus der Ursuppe des Planeten sehen sie aus, die spitzen Felsgebilde in der Geröllwüste des Col d’Izoard (2360 m). 50 Kilometer weiter, am Col de Vars (2109 m), erinnern wir uns schaudernd an die Zeiten, als Fußrasten noch starr am Rahmen montiert waren.
Palmen, Sonne, Strand als Belohnung

The next Col is calling, der Col de la Cayolle (2326 m). Das Sträßchen schlängelt sich durch eine enge Schlucht. Weiter oben zwei Wasserfallbrücken wie am Trollstigen in Norwegen. Am Pass ist der Himmel dann bleu – als Vorbote des Südens. Irgendwo dahinten muss es liegen, das sonnenverwöhnte Mittelmeer. 130 Kilometer noch bis zum brodelnden Nizza, momentan noch unendlich fern.
Fröhliche Stimmungstupfer setzt in den Alpen naturgemäß die Flora. So entdecken geschulte Augen zum Beispiel reihenweise Frauenschuhe, die bei Männertouren wie dieser ja eher selten involviert sind. Später beherbergt uns das „Hôtel de Pelens“ in Saint-Martin-d’Entraunes. Darin eine Besonderheit für weibliche Gäste: ein Duschvorhang voller putziger Frösche – genug Auswahl, endlich einen Prinzen herbeizuküssen.
Irgendwie wirken sie jetzt lieblicher, die Pässe, fast schmusig wie eine Hauskatze. Was die Tiger nicht davon abhält, auf asphaltiertem Parkett die Krallen auszufahren. Gab es im Norden zwischen all den Power-Pässen doch immer wieder mal längere einlullende Verbindungsstücke, so protzen nun Col de Valberg (1673 m) und Col de la Couillole (1678 m) mit wahren Kurvenorgien. Dann links ab zum Col Saint-Martin (1500 m). (H)eilige Madonna! Und südöstlich von Roquebillière rockt der Col de Turini (1607 m). Dessen Serpentinen gehören zu den Höhepunkten der Rallye Monte Carlo, wovon selbst im Sommer noch schwarze Striche zeugen. Buchstäblich als Absacker über den Col de Castillon (706 m), na ja. Und dann Menton, au ja! Palmen, Sonne, Strand und Mittelmeer – was willst du am Ende der Route des Grandes Alpes mehr? Hoch und lang soll sie leben, die Königin der Alpenstraßen.
Infos

Die Pässe der Route des Grandes Alpes sind ein Bikertraum. Doch auch abseits davon warten spektakuläre Strecken.
Anreise
Thonon-les-Bains, Startpunkt der französischen Hochalpenstraße, liegt am Südufer des Genfer Sees. Am schnellsten erreichbar über die vignettenpflichtigen Schweizer Autobahnen, z. B. von Basel aus via Bern nach 240 Kilometern.
Reisezeit
Im Normalfall ist die Route des Grandes Alpes durchgängig von Juni bis Mitte
Oktober befahrbar. Zwischen Genfer See und Mittelmeer liegen neben vielen Höhenmetern auch große Temperatur- und Wetterschwankungen.
Unterkunft
Direkt am Genfer See liegt das „Hôtel le Panorama“ in Évian-les-Bains, Tel. 00 33/ 4 50 75 14 50, www.hotellepanorama.comhttp://www.hotelpanorama.com, DZ ab 85 Euro. Den Col de l’Iseran quasi überm Dach bietet das „Hôtel L’Avancher“ in Val-d’Isère, Tel. 00 33/ 4 79 06 02 00, www.hotel-lavancher.com, DZ 101 Euro. Mit dem Charme eines kleinen Familienbetriebs punktet das „Hôtel de Pelens“ in Saint-Martin-d’Entraunes, Tel. 00 33/4 93 05 51 02, DZ 70 Euro.

Literatur und Karten
Die Route wird abgedeckt durch den Michelin-Reiseführer „Französische Alpen“ (25,99 Euro) und das Reisehandbuch „Provence, Côte d’Azur“ (Michael Müller Verlag, 26,90 Euro). Außerdem: Michelin-Karten 523/527 im Maßstab 1:200 000 (7,99 Euro, reißfest).