Der Anblick kommt unverhofft und haut mich schier aus dem Sattel. Selber schuld, denn mein Reisegefährte Zep, der schon öfter hier war, hatte mir ein "einzigartiges Erlebnis" versprochen. Was ich mir kaum vorstellen konnte. Doch jetzt kriege ich mich vor lauter Staunen kaum mehr ein, denn ich rolle einem Bergpanorama entgegen, wie ich es noch nie gesehen habe. Hinter den schnellen Wechselkurven des letzten Passes eröffnen sich schier unendliche Weiten. Vor uns erstreckt sich der Campo Imperatore, ein Hochplateau auf rund 1600 Metern Höhe. Ringsum ragen zahlreiche Zwei- bis Dreitausender auf, die gemeinsam das berühmte Gran-Sasso-Massiv bilden. So weit der Blick reicht - und er reicht sehr, sehr weit -, sind kein Mensch, kein Auto, kein anderes Motorrad zu sehen, das graubraune Asphaltband verliert sich einsam in der Ferne. Unzählige Schafe tummeln sich auf den endlosen Weiden, streng bewacht von Hirtenhunden, die sie vor Wölfen schützen sollen. Eine Kuhherde quert die Straße auf dem Weg zu ihrer Tränke auf einer hoch gelegenen Alm. Der kernige Zweizylindersound unserer KTM wetteifert mit dem Pfeifen des Windes, der immer stärker und kälter weht. Mit der Sonne sinkt die Temperatur fast im Minutentakt, flugs sind wir bei strammen fünf Grad angelangt. Sei‘s drum. Das erste Mal auf dem Campo Imperatore - das ist ein magischer Moment.
Kilometerweit führt uns das Asphaltband über das Plateau, mal sanft geschwungen, mal chnurgerade. Immer noch keine Menschenseele weit und breit. Am Ende einer Stichstraße am Monte Cristo halten wir an, nehmen uns trotz der Kälte viel Zeit für den majestätischen Sonnenuntergang über den Gipfeln. Kein Wind mehr, es herrscht jetzt ringsum völlige Ruhe, nur die Motoren knistern vernehmlich. Kann das Italien sein, so wild, einsam und ursprünglich? Eine Reihe von weit gezirkelten Spitzkehren bringt uns auf gut 2100 Meter zum Hotel Campo Imperatore. Keine Frage, wir sind doch in Italien, denn das Haus hat vier Sterne, und das gibt es in der Wildnis üblicherweise nicht. Die Heizung läuft auf Hochtouren, nach dem faszinierenden, aber frostigen Ritt durch die sternklare Nacht hochwillkommen. Ebenso wie das Vier-Gänge-Menü im vornehm ein-gedeckten Speisesaal, in dem sich außer uns nur noch vier Wanderer verlieren.

Wie kommt das nur? Eine so einmalige Strecke, umgeben von zahlreichen, meist namenlosen Pässen, wäre in den Alpen von Touristen regelrecht überschwemmt, zumal im Juli. Hotelchefin Maria Teresa klärt uns auf. "Wir Abruzzesen", sagt sie ein wenig wehmütig, "sind eher zurückhaltend. Genau deshalb tun wir uns mit der Werbung für uns selbst ziemlich schwer." Weshalb nur am Wochenende und im traditionellen italienischen Ferienmonat August ein wenig Leben auf dem Campo Imperatore herrscht.Uns kann das allerdings nur recht sein, denn so haben wir am nächsten Tag, an dem wir das Plateau weiträumig umkreisen, die Gegend fast für uns allein. Das Panorama wechselt ständig: erst das Hochplateau, das im strahlenden Sonnenschein rein gar nichts von seinem urzeitlichen Charme einbüßt, dann über eine Buckelpiste durch dichten Wald hinunter ins Tal, nach Castelli. Immer weiter windet sich die Straße nach unten, bis wir in Montorio auf gerade mal 260 Metern Höhe landen. Glühend heiß ist es hier, und obwohl sich die Strecke von hier aus durch eine sehenswerte, liebliche Hügellandschaft schlängelt, suchen wir uns lieber wieder eine Höhenstraße.
Sie bringt uns in engen Kehren steil bergan zu den Prati di Tivo. Kühle 1400 Meter, damit lässt sich selbst im Juli in Italien leben. Von hier aus führt eine Seilbahn hinauf ins Gran-Sasso-Massiv. Viel los ist nicht, und ähnlich wie in den Alpen wirken die auf Wintersport ausgerichteten Hotels, Imbiss- und Souvenirläden ohne den gnädig verhüllenden Schnee ziemlich fehl am Platz. Wir verzichten dankend auf die Einkehr, denn es zieht uns schon wieder zurück zum Hochplateau. Schmale Hirtenpfade laden dort zu Abstechern auf Schotter ein, mit meiner Adventure eine leichte und vergnügliche Übung. Echtes Offroad-Fahren ist im Nationalpark zwar verboten, doch wer sich an die Pfade hält und auf Tiere und Pflanzen Rücksicht nimmt, hat von der Parkpolizei in der Regel nichts zu befürchten. Schon von Weitem sehen wir im warmen Abendlicht den massiven roten Bau des Hotels und die schimmernde Kuppel des Observatoriums daneben. Das Hotel hat historische Bedeutung, denn hier wurde Mussolini nach seiner Absetzung 1944 gefangen gehalten, ehe ihn ein deutsches Kommando in einer abenteuerlichen Aktion befreite. Seine Zimmer kann man besichtigen und sogar dort übernachten. Ich lasse mir von Maria Teresa den Schlüssel geben, doch der Hauch der Geschichte will uns in den ehemaligen Räumen des faschistischen "Duce" nicht so recht streifen.

Am Samstag starte ich, eigentlich notorische Langschläferin, bei Sonnenaufgang zu einer Solorunde über den Campo Imperatore, so sehr hat mich die Gegend gepackt. Als ich gegen acht zum Hotel zurückkehre, beginnt tatsächlich eine milde Form von Tourismus. Gestresste Städter strömen aus dem nahen Rom in die erfrischende Kühle des Gebirges. Am südlichen Ende des Plateaus, Richtung Fonte Vetica, stehen mehrere große Holzbaracken. Hier wird frisches Fleisch verkauft, das sich jeder auf den aufgestellten Gasgrills selber braten kann. An den Wochenenden hat sich hier ein beliebter Motorradfahrertreffpunkt etabliert.
Kaum endet das Hochplateau, beginnt ein Kurventanz. In flinken Schwüngen fliegen wir über den Capo-la-Serra-Pass und Castel del Monte hinauf zur Festung Rocca Calascio. Der Weg zur mächtigen Trutzburg, Kulisse von Filmen wie "Der Name der Rose" mit Sean Connery oder "The American" mit George Clooney, führt über einen steilen Pfad mit hohen Stufen. Für Motorradfahrer ist er zwar nicht gesperrt, wegen vieler Stürze in der Vergangenheit bekommen wir aber eine eindringliche Mahnung der Einheimischen mit auf den Weg.
Nach einem eher traumatischen Abstecher nach L‘Aquila steht noch mal ein Höhepunkt der Reise an: Den Passo delle Capannelle kennen wir zwar schon vom Anreisetag, doch diese in Asphalt gegossene Versuchung kann man gar nicht oft genug fahren. In den harmonisch geschwungenen, schnellen Kurven mit dem griffigen Asphalt fühlt sich die Adventure genauso pudelwohl wie auf Schotter. Fast zu schnell sind wir auf der Passhöhe. Bevor wir zum Lago di Campotosto und damit zum Schlusspunkt der Reise kommen, werfe ich einen letzten Blick auf diese kaiserliche Gegend, die mich im Sturm erobert hat. Eine kleine Kapelle, ein Schotterweg. Rundum baumlose Hänge mit Felsbrocken, die aussehen, als habe ein Riese sie beim Spielen verstreut. Im Süden grüßen die schroffen Gipfel des Gran Sasso. Ein karges Land, doch mit einer urtümlichen Magie, die einen nicht mehr loslässt.

Auch zwei Jahre nach dem Erdbeben vom 6. April 2009, bei dem über 300 Menschen ums Leben kamen, gleicht LAquila, die Provinzhauptstadt der Abruzzen, einer Geisterstadt. Das Militär kontrolliert den Zugang, der nur zu Fuß möglich ist. Vorbei an schwer beschädigten Häusern und verbarrikadierten Straßen erreicht man den Domplatz der Stadt, der wie ausgestorben wirkt. Der von der Regierung verkündete Wiederaufbau lässt auf sich warten, private Aufräumarbeiten verzweifelter Bürger werden immer wieder verhindert. Viele haben die Hoffnung aufgegeben und ihrer Heimatstadt den Rücken gekehrt. In den Dörfern rundum sieht es etwas besser aus, hier halfen einzelne italienische Regionen und ausländische Staaten unbürokratisch. Deutschland kümmert sich um das schwer zerstörte Dörfchen Onna (Onna wurde im Zweiten Weltkrieg Opfer der SS). Spenden sind nach wie vor willkommen, doch am meisten hilft nach Meinung vieler Abruzzeser ein Besuch vor Ort. "Gerade wir jungen Leute finden kaum Arbeit", sagt Francesca vom B&B Santo Stefano. "Mit etwas Tourismus könnten wir uns hier ein neues Leben aufbauen."
Infos

Reisegebiet:
Der Nationalpark Gran Sasso dItalia liegt in den Abruzzen (Mittelitalien), nördlich der Provinzhauptstadt LAquila. Einzigartig in Europa ist der Campo Imperatore, ein Hochplateau auf rund 1600 Metern Höhe, um das rundum die knapp 3000 Meter hohen Gipfel des Gran-Sasso-Massivs emporragen, höchster Punkt Italiens außerhalb der Alpen. Das Plateau wurde durch einen Gletscher geformt und liegt unweit von Europas südlichstem Gletscher, dem Calderone-Gletscher an der Nord-seite des Corno Grande. Kenner nennen das Gebiet "Klein-Tibet", weil es an das berühmte Plateau im Himalaja erinnert. Zwar ist es nicht so hoch und mächtig, aber für Europäer dafür viel leichter erreichbar.
Anreise:
Vom Brenner aus gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens auf der Autostrada del Sole (A 1) bis Terni in Umbrien (rund 680 Kilometer, um 40 Euro Mautgebühr) und von dort auf einer wunderschönen Strecke über Leonessa und Posta bis Amatrice (rund 90 Kilometer), dem Startpunkt unserer Tour. Zweitens entlang der Küstenautobahn (A 14) über Rimini und Ancona bis San Benedetto del Tronto (rund 650 Kilometer, 40 Euro), dann auf der Schnellstraße bis Amatrice (rund 90 Kilometer).
Reisezeit:
Wie die Alpen weist auch der Gran Sasso ein eher raues Klima auf. Die beste Reisezeit reicht von Juni bis September. Die Durchschnittstemperatur auf dem Hochplateau liegt selbst im Hochsommer bei nur zwölf Grad. Wetterumschwünge und plötzliche Gewitterstürme sind normal. Wer den Gran Sasso und den Campo Imperatore für sich haben will, sollte die Wochenenden und den Monat August meiden.
Übernachten:
Auf luftigen 2130 Metern Höhe liegt das Vier-Sterne-Hotel Campo Imperatore. Im Juni kostet die Übernachtung 75 Euro, im Juli und September 85 Euro (DZ, HP). MOTORRAD-Leser erhalten zehn Prozent Rabatt (außer an den WE und im August). Günstiger schläft es sich in der Jugendherberge gegenüber (30 Euro für Übernachtung und Frühstück). Vorbestellungen für beide Häuser unter www.hotelcam poimperatore.com. Weiterer Tipp: Bed and Breakfast in Santo Stefano die Sessanio. Francesca und Vittorio räumen Motorradfahrern Sonderkonditionen ein: 55 Euro für Übernachtung und Halbpension, gut bestückter Weinkeller. Infos unter www.tralebracciadimorfeo.net

Essen:
Da die Gegend viel von ihrer Ursprünglichkeit bewahrt hat, darf man getrost jede Dorfkneipe aufsuchen. Das Essen ist gut und schmackhaft, die Preise sind für italienische Verhältnisse günstig. Zu den Spezialitäten zählt wegen der riesigen lokalen Schafherden reiner Schafskäse (pecorino), den die Hirten auch direkt an der Straße verkaufen. Unbedingt probieren: Frischkäse aus Schafsmilch (ricotta di pecora). Weltberühmt ist außerdem der echte rote Safran (zafferano) aus den Abruzzen.
Literatur/Karten:
Die Gegend ist touristisch wenig erschlossen, selbst der Reiseführer aus dem Michael Müller Verlag ist derzeit vergriffen. Ausweichen kann man auf den Reiseführer "Mittelitalien" aus dem gleichen Verlag für 24,90 Euro. Karten: Kompass Rad- und Wanderkarte "Gran Sasso dItalia, LAquila", 1:50000, 7,50 Euro. Michelin "Abruzzen und Molise", 1:200000, 7,50 Euro. Mehr Infos: www.parconazionalegransasso.it
Touren

Die italienischen Abruzzen verzaubern Motorradfahrer mit grandiosem Bergpanorama, griffigem Asphalt, leeren Straßen, gutem Essen und netten Menschen. Hier testeten wir drei Routen (Mit einer Skala von 0-10 Punkten).
Reisedauer: 3 Tage
Gefahrene Strecke: 800 Kilometer

Tour eins: Die Strecke am ersten Tag hat zehn volle Punkte verdient. Sie ist mit rund 150 Kilometern zwar die kürzeste, lässt dafür aber viel Zeit, das Panorama des Campo Imperatore ausgiebig zu bewundern, den flotten Passo delle Capannelle mehr als einmal zu fahren und sich der sprachlos machenden Natur sowie der lokalen Küche zu widmen.

Tour zwei: Der zweite Tag würde acht Punkte erhalten. Die rund 300 Kilometer lange Strecke ist sehr abwechslungsreich und bringt reichlich Fahrfreude, reicht emotional aber nicht an Tour eins heran.

Tour drei: Erneut die volle Punktzahl erhält der dritte Tag. Hier jagt ein Höhepunkt den nächsten: Campo Imperatore, Grillfleisch am Motorradfahrertreff, die Festung Rocca Calascio, das mittelalterliche Dorf Santo Stefano, einmal mehr der Passo delle Capannelle und am Schluss der hoch gelegene Lago di Campotosto. Traumhafte Kurven. Mit der Zusatztour am Morgen insgesamt 350 packende Fahrkilometer.