Wir schreiben den Herbst 2009. Ganz Deutschland ist ein freies Land. Ganz Deutschland? Nicht ganz, denn noch immer existieren besetzte Gebiete, militärische Sperrzonen, wo der Zugang für Zivilisten - wenn überhaupt - nur selten möglich ist. Die Senne ist einer dieser Truppenübungsplätze, ein 120 Quadratkilo-meter großes Areal zu Füßen des Teutoburger Waldes, wo schon die kaiserliche Armee erstmals 1888 Krieg übte. 1945 besetzten die Briten die Senne und nutzen sie seitdem als Übungsplatz für ihre Rheinarmee. Auch die Bundeswehr darf hier trainieren. An manchen Wochenenden öffnen die Briten die Schranken und erlauben auch uns Motorradfahrern einen flüchtigen Blick in die unbesiedelte Landschaft, die noch fast so aussieht wie im 19. Jahrhundert.
Birgit und ich nutzen eine dieser Chancen, um mit unseren Enduros über das Kopfsteinpflaster alter Alleen in die Senne zu fahren. Nördlich von Schloss Neuhaus beginnt das kleine Abenteuer. Große bunte Schilder warnen davor, anzuhalten oder gar die Straße zu verlassen, es könnte scharf geschossen werden. Die realen Gefahren für uns lauern aber direkt unter den Stollenreifen: Der nächtliche Regen hat dem Pflaster seinen Grip genommen, Löcher und Wellen erfreuen die langen Federwege von XT und R 80 G/S. Mit kaum 50 Sachen rumpeln wir voran. Schön, dass es solche Straßen hierzulande noch gibt.
Hohes gelbes Gras, das niemals gemäht wird, wechselt sich ab mit verblühten Heidebüscheln und braunen Farnen. Knorrige Kiefern wachsen bestens auf dem sandigen Boden, den die letzte Eiszeit hinterlassen hat. Schafe klettern über zehn Meter hohe Dünen, eine geologische Besonderheit so weit abseits der Küsten. Weit und breit sind kein Handymast, keine Hochspannungs-leitung und kein Windrad zu sehen. Die seltenen blechernen Wegweiser sind klein und schwarz, entsprechen so gar nicht der deutschen Norm. Große gelbe Schilder weisen auf gesperrte Nebenstraßen nach Mandalay, Camp 5 oder Hannover Barracks, allesamt militärische Adressen, für Zivilisten normalerweise verboten.
Wir erleben eine merkwürdige Zeitreise durch eine ganz eigene Welt. Allerdings würde dieses Biotop längst nicht mehr existieren, hätte es sich genauso entwickelt wie der Rest des Landes. Nicht zuletzt dank ihrer Abschottung gilt die Senne als der wertvollste ursprüngliche Naturraum in Nordrhein-Westfalen, und viele Anwohner träumen von einem künftigen Nationalpark. Der aber ist so gar nicht im Sinn des Militärs, das hier noch bis mindestens 2040 Krieg spielen möchte.

Vor 30 Jahren, ich bin in Schloss Neuhaus aufgewachsen, war die Senne auch für mich ein einzigartiger, wenn auch verbotener Spielplatz. Mit meinem ersten Motorrad, einer Honda XL 250 S - das war die mit dem riesigen 23-Zoll-Vorderrad - baggerte ich mit guten Freunden und viel Freude über die Panzerstrecken, tiefsandiges und schlammiges Offroad-Terrain vom Allerfeinsten. Damals wurden hier auf langen und anspruchsvollen Rundkursen sogar Läufe zur Enduro-Meisterschaft ausgetragen. Natürlich wollten wir es unseren Idolen wie Herbert Scheck und Rolf Witthöft nachtun, aber nicht nur einmal versenkten wir unsere Enduros anfängerhaft bis an die Spiegel in metertiefen Pfützen.
Von solchen verbotenen Spielen lassen wir heute besser unsere Finger, folgen lieber einer schnurgeraden, von dicken Laubbäumen gesäumten Pflasterallee bis Haustenbeck. 1939 wurden sämtliche Bewohner des kleinen Ortes enteignet und umgesiedelt, die Häuser von der Wehrmacht besetzt. Sogar Max Schmeling soll als Soldat hier einige Zeit verbracht haben. Nach dem Krieg wechselten die Besatzer, die Rheinarmee übte fortan den Häuserkampf, und heute zeugen nur ein Gedenkstein und ein paar Ruinen vom ehemaligen, friedlichen Dorf.
Die Landschaft wirkt vergessen, verlassen und melancholisch. Kaum ein Auto ist unterwegs. Ab und an kommt uns ein oliv-grüner Youngtimer der Marke Land Rover entgegen. Am Straßenrand versuchen Soldaten einen gestrandeten alten Bedford-Laster zu reparieren. Verrostete, zerschossene und ausgebrannte Panzer stehen in der Heide, dienen wohl auch für Übungszwecke. Zwei Mercedes G der Feldjäger jagen durchs Gelände.
Vor Augustdorf endet das Pflaster. Wir verlassen den Truppenübungsplatz und biegen in Hiddessen ab zum Hermannsdenkmal, dem Touristenmagnet der Region. Das 53 Meter hohe Monument, erbaut zwischen 1838 und 1875 von Ernst von Bandel, erinnert an den Cheruskerfürsten Arminius, der im Jahre neun die Römer unter Varus vernichtend schlug. Die ließen fortan ihre Finger von Germanien und überquerten den Rhein nie wieder ostwärts. Zu gefährlich.
Der Teutoburger Wald, auf den Arminius seinen strengen Blick richtet, geht eher als unspektakuläres Mittelgebirge durch. Immerhin wagen sich dessen Hügel weiter nordwärts als jedes andere deutsche Gebirge. Jenseits des "Teutos", wie ihn die Einheimischen nennen, schleppt sich das platte Land bis zur Nordsee. Wir schlagen die andere Richtung ein. Eine kleine, fast verkehrsfreie Straße schlängelt sich durchs Tal, hält direkt auf den Mont Blanc des Teutos zu, den 468 Meter hohen Velmerstot. Hier geht der Teutoburger Wald in das Eggegebirge über, das sich seinerseits weiter südlich im Sauerland verliert. Ostwestfälische Provinz ist das hier: unauf-geregt, idyllisch.
Allzu viel hat sich hier nicht geändert in den vergangenen 30 Jahren, nur die zahlreichen Windräder auf den Höhen und der IC, der über den monumentalen Viadukt von Altenbeken rauscht, zeugen von den Innovationen der Neuzeit. Im alten Ortskern der Eisenbahnergemeinde Altenbeken erinnert die perfekt restaurierte Dampflok 044 389 an die alten Zeiten. Bis 1976 war die 044er hier aktiv, und ich habe sie als 16-Jähriger noch bewundern dürfen, wie sie 1300 Tonnen schwere Güterzüge die Steilrampe vom Bahnhof hinauf ins Eggegebirge gewuchtet hat. Es waren hinreißende akustische und optische Ereignisse, wie sie die moderne Bahn mit ihren leblosen Elektroloks niemals inszenieren kann.
Genug der Träumerei, die Enduros wollen noch ein wenig bewegt werden. Inzwischen hat sich die Novembersonne durch die Wolken gemogelt, taucht die rostroten Buchenwälder in warmes, weiches Licht. Die engen Täler der Egge weichen allmählich den weiten Wiesen und Äckern der Paderborner Hochfläche. Der Wind ist hier meist zügig unterwegs, und Hunderte von Windrädern wandeln die schnelle Luft in sauberen Strom um. Kleine Orte wie Herbram, Asseln und Hakenberg fliegen vorbei, die Straße eilt kurvenfrei auf den Horizont zu. Erst im Diemeltal, das die Warburger Börde durchschneidet, bekommen auch die äußeren Profilblöcke unserer Enduro-Reifen wieder Bodenkontakt.
Warburg, auf halbem Weg zwischen Paderborn und Kassel, hatte das Glück, den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet zu überstehen. Warburg ist einfach sehenswert, protzt mit einem Ensemble bilderbuchschöner Fachwerkhäuser, viele sind über 500 Jahre alt. Wir parken die Motorräder auf dem Marktplatz, laufen uns auf grob gepflas-terten Gassen die kalten Füßen warm und staunen über die Baukunst des späten Mittelalters. Nicht viel anders sah es auch vor 65 Jahren in Paderborn aus, aber der Bombenhagel der Alliierten ließ von der Altstadt zu Füßen des architektonisch strengen Doms nicht viel übrig. Lediglich rund ums Paderquellgebiet unterhalb des Doms finden wir schöne alte Häuser wie das Adam-und-Eva-Haus von 1560.
Bevor die Sonne sich viel zu früh in die Äcker westlich der Stadt stürzt und dem Novembertag den Garaus macht, nehmen wir noch einmal Kurs auf die Senne, kommen vorbei am strahlend weißen Renaissanceschloss von Schloss Neuhaus und huschen durch Sennelager: ein merkwürdiger Ort, eingestellt auf die Bedürfnisse der britischen Familien. Englische Möbelhäuser, Fish & Chips-Buden, Pubs, ein Bordell und eine Kaserne säumen die Straße, dazwischen aber auch gewöhnliche deutsche Geschäfte. Eine skurrile Mischung.
Noch zweimal abbiegen, und wir sind wieder in der Senne. Oder besser gesagt, vor der geschlossenen Schranke des Truppenübungsplatzes. Es ist Sonntagabend. Hier und jetzt endet die Freiheit zu fahren, wohin wir wollen. Der uralte Abenteuerspielplatz Senne ist wieder dicht. Frühestens am kommenden Wochenende gewähren die Briten eine neue Chance, das besetzte Land zu erkunden. Was für ein Anachronismus im Herbst 2009.
Infos

Die ostwestfälische Provinz überrascht. Sei es mit malerischen Städten, noch schöneren Schlössern, der einsamen Sennelandschaft oder tollen Motorrad-Strecken in Teutoburger Wald und Eggegebirge.
Allgemeines Die Senne ist mit 120 Quadratkilometern der achtgrößte von zahlreichen Truppenübungsplätzen im Lande. Die größten sind Bergen mit 284, Altmark mit 232 und Grafenwöhr mit 226 Quadratkilometern. Genutzt werden diese Gebiete von Briten, Amerikanern, der Bundeswehr und sporadisch auch von anderen Nato-Armeen. Der freie Zugang ist strikt geregelt. Sperrzeiten für die Senne werden von der britischen Rheinarmee festgelegt und im Internet beispielsweise unter www.augustdorf.de veröffentlicht.
Ostwestfalen ist - wie der Name vermuten lässt - das Gebiet des östlichen Westfalens. Ursprünglich reichte Westfalen bis etwa zur Weser, östlich davon erstreckte sich Ostfalen bis zur Magdeburger Börde. Die größten Städte in OWL, der heutige Name für Ostwestfalen-Lippe, sind Bielefeld und Paderborn.
Anreise Von Westen oder Osten kommend führen die schnellsten Wege über die A44 bis Paderborn oder Warburg, bzw. die A2 bis Bielefeld und Sennestadt.
Sehenswert Neben der einsamen und ursprünglichen Heidelandschaft der Senne lohnen vor allem einige Städte einen Besuch: Paderborn, Warburg, Lemgo und Detmold. In der gesamten Region gibt es viele wunderschöne Schlösser, oft im Stil der Weserrenaissance. Zu bewundern: Schloss Neuhaus, erbaut 1524 bis 1526 als fürstbischöfliche Residenz, Schloss Brake, Hämelschenburg bei Bad Pyrmont, Schloss Holte und Schloss Vinsebeck.
Der Besuch des Hermannsdenkmals bei Detmold gehört zum touristischen Pflichtprogramm. Eigentlich müsste das Hermannsdenkmal Arminiusdenkmal heißen, aber durch einen Übersetzungsfehler wurde aus Arminius Hermann. Ebenfalls sehenswert sind der Eisenbahn-Viadukt von Altenbeken, das Westfälische Freilichtmuseum bei Detmold mit rekonstruierten Häusern und Gehöften der letzten 600 Jahre und die Adlerwarte in Berleburg.
Literatur "Senne und Teutoburger Wald, ein guter Landschaftsführer, den es für 16,80 Euro über das Naturschutzzentrum Senne unter www.biostation-senne.de gibt. "Ostwestfalen und Lippe, Aschendorff Verlag, 14,80 Euro. "Ostwestfalen und Teutoburger Wald, älterer Bildband von Ellert und Richter. Als regionale Karte eignet sich die Generalkarte, Großblatt 3, von Marco Polo.
Infos Wie so häufig ist die ergiebigste Infoquelle das Internet. Zum Beispiel auf diesen Seiten: www.sennefenster.de, www.owl-tourist.de, www.sehenswertes-owl.de, www.foerderverein-nationalpark-senne.de.
Reisedauer: zwei Tage
Gefahrene Strecke: 400 Kilometer