Unterwegs von Helmstedt nach Berlin

Unterwegs von Helmstedt nach Berlin Eine Reise auf den Spuren der DDR

Unterwegs auf einem grau ausgebleichten Asphaltband, untermalt vom monotonen Takt der Querfugen bei Tempo 100. Die Transitreise nach Berlin war einst hinter dem Checkpoint Alpha alles andere als bunt und abwechslungsreich. Ganz im Gegensatz zu heute.

Eine Reise auf den Spuren der DDR Daams
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Sengül lacht. Seit Stunden steht sie in der prallen Sonne mitten auf der Berliner Friedrichstraße und nimmt Menschen in den Arm. Ein Trupp Rentner in Shorts, Slippern und Baumwollsöckchen naht und baut sich neben ihr auf. Sengül richtet den Kragen ihrer Uniform, greift die Fahne fester und strahlt in Richtung Kamera. Klick, klick, klick. Die Rentner ziehen ab, schon steht eine Gruppe Schulmädchen in Hot Pants und Flip-Flops bereit.

Ein kurzes Gerangel um die besten Plätze, der Kameraverschluss rattert, fertig, die nächsten bitte. Auf wie vielen Fotos sie mittlerweile in aller Welt eingerahmt ist, mag Sengül nicht abschätzen. Die 21-jährige Kurdin steht an einem der bekanntesten Orte, der einst die Welt teilte - und der heute Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt ist. Der makabre Showdown von 1961, als genau an dieser Stelle amerikanische und sowjetische Panzer aufeinander zu rasten und Weltkrieg Nummer drei in der Luft lag, ist nur noch auf Postkarten an den zahlreichen Ständen drum herum präsent. Heute herrscht am Checkpoint Charlie Showtime, und weder Russen noch Amis haben das Sagen.

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Unterwegs von Helmstedt nach Berlin Eine Reise auf den Spuren der DDR
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Denn der alliierte Kontrollpunkt mitten in Berlin ist 2010 fest in türkischer Hand. Rings um die originalgetreue Rekonstruktion der ersten Kontrollbaracke haben fliegende Händler ihre Stände aufgebaut. Die Devotionaliendichte aus der Zeit des kalten Krieges ist hoch. In Divisionsstärke hängen die Uniformen von Roter Armee oder Grenztruppen der DDR an Kleiderstangen oder liegen auf Tapeziertischen aus. Auch Pelzmützen und Orden mit Hammer und Sichel gehen gut, erzählt Kaya. Im Einheitsjahr 1990 ist der Türke nach Berlin gekommen und tingelt seitdem mit seinem mobilen Laden durch die Hauptstadt. Das Geschäft brummt, die Nachfrage ist bis heute ungebrochen. Und natürlich alles Originalware: "1993 habe ich Uniform-Bestände der NVA aufkaufen können. Da war alles dabei, von der Vopo bis zur Luftwaffe. Sogar die Restposten des Wachregiments Feliks Dzierzynski." Während sich Sengül mit ihrem Kollegen Dennis in französischer und amerikanischer Uniform zum nächsten Fotoshooting bereit macht, zerrt Stadtführerin Miriam eine Horde Jugendlicher zum Kontrollpunkt an der früheren Berliner Mauer. Begriffe wie Berlin-Blockade, Luftbrücke und Rosinenbomber fallen. Miriam ist mutig: "Wer weiß Genaueres?" Die Kids schauen sich fragend an, vereinzelt zuckt eine Hand, bei den meisten ist allerdings nur Schulterzucken angesagt. Die Zeiten, dass der Westteil von Berlin wie eine vergessene Insel im feindlichen Gewässer dümpelte, könnten an diesem sonnigen Tag mitten in Deutschlands Hauptstadt kaum weiter entfernt liegen.

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Von der sogenannten Beschauerbrücke aus wurde der Ausreiseverkehr aus der DDR kontrolliert. Mit dem Ziel: Schmuggler finden, Flucht verhindern.

Die Straßen sind gerammelt voll, die Besucherströme schieben sich aus Richtung Reichstag durchs Brandenburger Tor, vorbei am noblen Hotel Adlon, in die alte und neue Prachtstraße Unter den Linden. Drum herum beherrschen zahlreiche Shoppingmalls und angesagte Designerstores die neue Berliner Mitte. Viel unspektakulärer wird der Blick auf Deutschlands jüngste Geschichte, wenn man auf der überbreiten A 2 an Braunschweig vorbei Richtung Osten donnert und nach den Resten des Checkpoints Alpha fahndet.

Historisch korrekte Rekonstruktionen wie beim Berliner Pendant sucht man am Rande Niedersachsens allerdings vergeblich. Der nach dem ICAO/NATO-Alphabet benannte erste aller alliierten Kontrollpunkte an der ehemaligen Zonengrenze ist de facto nicht mehr vorhanden. Dafür hat die Kunst das Sagen.

Kurz hinter Helmstedt wird die Vereinigung von BRD und DDR auf dem Parkplatz "Schwarzer Kater" nochmals mit mächtigem Handschlag besiegelt. Im Schatten der neun Meter hohen gusseisernen Skulptur des Franzosen Josep Castell steht Grna aus Weißrussland mit seinem MAN-Truck. Sohn Vladislav hat gerade Ferien und begleitet Papa im 40-Tonner. Von Moskau quer durch Deutschland und zurück. Zehn Tage dauert eine Runde. Mit einem Kopfnicken deutet der Trucker rüber zum zugewucherten Zollhaus und grinst: "Nix Kontrolle, kaputt!" Das zermürbende Warten, die endlosen Kontrollen beim Wechsel von Ost nach West haben sich von diesem Ort endgültig verabschiedet. Der Trucker schaut auf die Triumph Thunderbird und zwirbelt nachdenklich seinen Schnurrbart. Dann grinst er wieder, kramt in seiner Geldbörse und zückt das zerfledderte Bild einer 2009er-Yamaha R1 heraus, aufgenommen in den Weiten der russischen Steppe: "Very good bike. Very fast", lacht er und klopft sich dabei stolz gegen die Brust.

Nur wenige Kilometer weiter wird die Geschichte der Teilung in Deutschlands einzigartigem Drive-in-Museum wieder lebendig. Direkt hinter der Esso-Tankstelle Marienborn sind die alten Kontrollanlagen der DDR perfekt konserviert - inklusive "Fiffi". Den Kosenamen haben die DDR-Grenzer der stählernen Rollschranke verpasst, mit der die Flucht aus der DDR unterbunden werden sollte.

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Zurück zur Natur. Die Alleendichte ist in Deutschlands Osten hoch und zum Teil ein Paradies für Selbstversorger.

Fiffi konnte auf Knopfdruck in Sekunden die strasse blockieren und hätte sogar einen 50-Tonnen-Lkw mit Tempo 80 unerbittlich gestoppt. Zehn Millionen Fahrzeuge passierten jährlich die Grenzübergangsstelle Marienborn, heute schlendern nur noch ein paar graumelierte Gruppenreisende und Familien mit nölenden Kindern durch die Abfertigungsbaracken. Keine 50 Meter entfernt rauscht der Verkehr über die sechs Spuren der A 2. Dem Geräuschpegel nach könnten es zehn Millionen an einem Tag sein. Auf jeden Fall viel zu viel, um mit der Triumph Thunderbird entspannt nach Berlin zu cruisen.

Was früher im Transitverkehr nach Berlin undenkbar war, ist heute natürlich ein Kinderspiel: runter von der Autobahn und auf ebenso schönen wie einsamen Wegen in Richtung Hauptstadt flanieren. Den zerfallenen Wachturm an der B1 hat ein anonymer Romeo für seine Zwecke genutzt: "Julia, ich liebe Dich!" prangt als großes Graffiti zwischen Schießscharten und Lüftungsschacht. Richtung Norden verschwindet der alte Panzerplattenweg im grünen Dickicht. Der Twin poltert durchs erste Ostdorf. Hätte Julia zu DDR-Zeiten hier in Morsleben gelebt und Freund Romeo aus Magdeburg auf eine Tasse Bohnenkaffee empfangen wollen, wäre das nicht so einfach möglich gewesen. Denn das DDR-Gebiet entlang der alten innerdeutschen Grenze war Sperrzone und nur mittels Passierschein zu erreichen. Romeo hätte verdammt gute Gründe vorbringen müssen, um seine Julia beglücken zu können.

Im Zickzack geht es durch Sachsen-Anhalts sanft geschwungene Hügellandschaft. Hinein in stille, fast vergessene Orte, die meist auf "-leben" enden und teils auf eine 1000-jährige Geschichte zurückblicken können. Kein Wunder, schließlich war die Region bei Magdeburg das Stammland von König Otto dem Großen, einst Herrscher über das ostfränkische Reich und später sogar römisch-deutscher Kaiser. Politisch wie wirtschaftlich ging hier im frühen Mittelalter die Post ab. Heute ist in diesem Landstrich eher Gemütlichkeit angesagt.

Entsprechend gemächlich lassen wir uns bei Flusskilometer 375 hinter Grieben über die Elbe ins Jerichower Land treiben. Die mittägliche Stille in den kleinen Käffern schlägt langsam auf den Magen. Das "Storchennest" in Ferchland lockt mit seinem schattigen Biergarten im Hinterhof. Schon bald steht eine kräftige Soljanka auf dem Tisch. Der scharfe Kraut-und-Gurken-Eintopf aus Russland, kultiviert in den 40 DDR-Jahren, ist auch heute noch fester Bestandteil der ostdeutschen Küche. Wir könnten zum Stammgast werden - genauso wie das Storchenpaar, das jedes Jahr hoch oben auf dem Schornstein bei Wirtsfrau Ursula Lüde Quartier bezieht und seinen Nachwuchs großzieht. Gemütlich bollernd schiebt sich der Reihentwin auf schattigen Alleen der Nase entlang weiter ostwärts.

Unterwegs von Helmstedt nach Berlin: Teil 2

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Blühende Landschaften im Osten? Natürlich auch in Rot.

Das Wegenetz im Havelland ist wie geschaffen für großvolumige Cruiser vom Schlage einer Triumph Thunderbird. Die wenigen Kurven werden im Vorbeischlenkern mitgenommen - und stellen weder Fahrer noch Gefährt vor echte Herausforderungen. Bis wir in Wachow den Weg nach Zachow suchen. "Schade ums schöne Teil", sagt der Wirt der Villa Wachow und deutet die Leninstraße hinunter. Das Kopfsteinpflaster geht am Ortsausgang in eine staubige Sandpiste über - was in der Mark Brandenburg keine Seltenheit ist. Die Triumph schluckt den Weg zunächst ohne Murren wie weitere, die mit Kopfsteinresten auf sandigem Untergrund kilometerweit im wahrsten Sinne des Wortes "übers Land" führen. Doch keine Frage, mit einer BMW GS hätten diese Ausflüge mehr Laune bereitet. Kaum zu glauben ist allerdings, dass man in dieser staubigen Einöde kaum weiter als 50 Kilometer vom Zentrum der 3,4-Millionenstadt Berlin entfernt ist.

Ebenso skurril wirkt die Deko der alten Bibliothek in dem kleinen Klosterstädtchen Lehnin südlich der alten Transitstrecke. Anstelle der Klassiker der sozialistischen Weltliteratur verstauben hinter den fast blinden Schaufenstern handfeste Jugendträume vom Schlage einer 73er-Kreidler Florett oder Zündapp Bergsteiger aus dem Jahre 1970 neben Raritäten wie einer Aprilia Guilietta von 1958.

Am Schwielowsee südlich von Potsdam kann man die berühmte Berliner Luft hingegen schon förmlich riechen. Die kleinen Städtchen Ferch und Caputh sind gerammelt voll mit sonnenhungrigen Ausflüglern aus der Hauptstadt. Überhaupt, Caputh, da war doch was... "Na klar, Einsteins Palast", hilft uns Aushilfskellner Sven im Fährhaus Caputh auf die Sprünge: "Ist aber eine Hütte wie alle anderen. Nüscht dran, bisschen drin. Da hab icke schon Besseres gesehen." Wir vertrauen der original Berliner Schnauze und verlassen Caputh ohne einen Blick auf Einsteins altes Heim zu werfen. Dafür nervt die Thunderbird mit quietschendem Zahnriemen.

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Der Touristen-taugliche Rest der Mauer in Friedrichshain.

Der Ausflug über staubige Pisten hat ihr doch etwas zugesetzt. Gut, dass Werner noch seine kultige Harley-Werkstatt an der Glienicker Brücke in Potsdam betreibt. Ein paar Stöße aus der Teflon-Spraydose sorgen schnell für Ruhe im Endantrieb. Werner selbst sehnt sich auch nach Ruhe. 1996 hat er die denkmalgeschützte Tankstelle von der Treuhand gemietet. Der Bau ist von 1937 und hat dank geschickter Architektur die Bomben des Zweiten Weltkriegs schadlos überstanden: "Auf Luftaufnahmen sieht die Tanke wie ein ganz normales Wohnhaus aus. Das hat sie gerettet", weiß Werner. Werkstatt und angeschlossenes Café sind laut Werner nicht nur für Motorradfahrer "der coolste Ort von ganz Berlin und Potsdam".

Nun hat ihm die Treuhand gekündigt. Werner muss einem neuen Besitzer Platz machen. Was kommt, ist offen. Genauso wie die Zukunft des Checkpoint Bravo. Seit Jahren steht der markante Rundbau an der A 115, früher als Grenzübergang Dreilinden-Drewitz Berlins wichtigstes Eingangsportal, leer. Die denkmalgeschützte Anlage aus Rasthaus und Tankstelle im schrägen 70er-Jahre-Look gehört mittlerweile einem Berliner Unternehmer und soll als Erlebnispark mit neuem Leben gefüllt werden. Wer hätte das gedacht? 20 Jahre nach dem Ende der DDR ist seine Geschichte wieder lebendig geworden.

Infos

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Hauptstadt: Berlin - Fläche: 357112 km2 - Gründung: 1949 - Währung: Euro - Einwohnerzahl: 81,76 Mio - Reisedauer: zwei bis drei Tage - Gefahrene Strecke: 330 Kilometer

Motorradfahren in der Mitte Deutschlands. Kurvensüchtige kommen hier weniger auf ihre Kosten. Dafür steigt aber die Entdeckerlaune.

Hintergrund:
Fixpunkte dieser Tour waren die alliierten Kontrollpunkte an der alten innerdeutschen, bzw. Berliner Sektorengrenze. Das Gegenstück zum Checkpoint Alpha am (westdeutschen) Kontrollpunkt Helmstedt war der Grenzübergang Marienborn auf ehemaligen DDR-Gebiet. Heute befindet sich auf dem Areal die Gedenkstätte "Deutsche Teilung Marienborn". Der alte Grenzübergang ist als begehbares Museum für Besucher frei zugänglich. Zusätzlich werden Führungen angeboten, ein Dokumentationszentrum informiert über die Geschichte. Die Zufahrt erfolgt am besten direkt über die Tankstelle Marienborn an der A 2. Infos: www.stgs.sachsen-anhalt.de. Der Checkpoint Bravo befand sich ab 1969 an dem Kontrollpunkt Drewitz/Dreilinden am südlichen Stadtrand von Berlin an der A 115. Teile der momentan ungenutzten Anlage sind über die Abfahrt Kreuz Zehlendorf, bzw. Potsdamer Chaussee/B 1 zu erreichen (Zollamt Dreilinden). Der Checkpoint Charlie durfte als Grenzübergang in der Berliner Friedrichstraße ausschließlich vom Militär und von Diplomaten genutzt werden. Nach Abriss der Baracke im Juni 1990 wurde zehn Jahre später der erste Kontrollpunkt rekonstruiert. Unmittelbar neben dem Checkpoint Charlie befindet sich das Mauermuseum und eine Freilichtgalerie mit historischen Motiven aus der Zeit der Berliner Mauer. Infos: www.mauer-museum.com

Varianten:
Die Tour lässt sich in viele Richtungen erweitern. Beispielsweise durch einen Besuch der Autostadt Wolfsburg mit vielen Ausstellungen sowie dem Experimentiermuseum Phaeno. Infos: www.autostadt.de und www.phaeno.de. Sehenswert in der Stadt Brandenburg ist das Industriemuseum, in der die Zeit der Stahlproduktion mit ihren gewaltigen Schmelzöfen wieder lebendig wird. Infos: www.industriemuseum-brandenburg.de. Die Havellandschaft drumherum lässt sich am besten per Schiff erkunden. Nähere Infos bei der Touristinformation (Telefon 03381/208769, www.stadt-brandenburg.de). Literaturtipp für weitere Entdeckertouren rund um Berlin und Brandenburg: "Vergessene Orte - Lost Places" von Thomas Sadewasser (16,90 Euro). Ausführliche Routenbeschreibung inklusive hilfreicher GPS-Koordinaten.

Übernachten:
In den größeren Städten (Magdeburg, Brandenburg, Potsdam) ist es kein Problem, auch zu später Stunde noch ein Zimmer für die Nacht zu finden. Schwieriger wird die Unterkunftsuche in kleineren Gemeinden. Vorsicht: Übernachtungshinweise am Straßenrand sind bisweilen hoffnungslos veraltet. Schräger Tipp für Berlin: Schlafen in der ehemaligen Fabrik von Paul Michaelsen. Hotel "Die Fabrik", Schlesische Str. 18, Berlin-Kreuzberg, EZ ab 38 Euro (Telefon 030/6117116, www.diefabrik.com)

Karte:
MOTORRAD-Reisekarten-Set "Norddeutschland" (1:300000) im wasserfesten Tankrucksackformat (24,80 Euro, www.motorradreisekarten.de)

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