Zwei Wochen Alpen liegen vor mir. Zwei Wochen Kurven-, Pisten- und Höhenrausch im feinsten Motorradrevier Europas. Von Südfrankreich aus will ich dem Bogen der Berge folgen, einfach fahren und genießen. Mal sehen, wie weit ich komme. Dolomiten? Slowenien? Oder darüber hinaus? Egal, jetzt gilt es erst mal dem hochsommerlichen Dauerstau entlang der Côte dAzur zu entrinnen: Fréjus, Cannes, Nizza, Grenze. Und bei Ventimiglia weg von der Küste. Über eine gewundene, nahezu verkehrsfreie Nebenstraße klettert die Enduro ins Hinterland. Endlich umgibt mich dieser unverwechselbare mediterrane Duft nach Kiefern, Pinien und Eukalyptusbäumen. Aufatmen. Eintauchen. Dann hoch in die italienischen Seealpen. Schon weicht der Teer einer Piste, und ein kleines Schild verspricht den ersten Klassiker der Reise: die Ligurische Grenzkammstraße. Über 100 Kilometer geschotterte Einsamkeit. Zahlreiche Stichstraßen machen die Orientierung in dem dichten Netz alter Militärwege nicht gerade einfach, zumal Schilder eher Seltenheitswert besitzen. Da helfen nur gute Landkarten und etwas Orientierungssinn.Aber zunächst habe ich kaum ein Chance, mich zu verfahren. Die schmale Piste hangelt sich am Steilhang bergan. Links geht es fast senkrecht hinauf, rechts geradewegs in die Tiefe. Kilometerweit ist volle Konzentration gefragt. Noch ein paar enge, ausgefahrene Kehren, und ich erreiche den Gipfel des Monte Saccarello, 2200 Meter hoch. Im Süden breitet sich das Mittelmeer unter einer Dunstglocke aus. Beinahe unwirklich. Hier oben fühle ich mich wie in einer anderen Welt: kein Sonnenölduft, kein Autolärm, keine plärrenden Radios. Nur Stille und dieser grandiose 360-Grad-Panoramablick.Nördlich vom Monte Saccarello entartet die Piste zu einer holprigen Spur, oft keine zwei Meter breit. Fette Steine, felsige Stufen, fiese Serpentinen, dazu atemberaubende Steilstücke ohne jegliche Sicherung am Abgrund. Mit der voll beladenen Dominator ein Balanceakt zwischen Spaß und Tortur. Zur Belohnung für dieses miserable Stück wartet am Ende der Ligurischen Grenzkammstraße die berühmte Südrampe des Tendepass. 48 geschotterte Kehren sind sogar in den Alpen eine Attraktion. Die Nordrampe lässt dagegen jegliche Dramatik vermissen. Dafür sorgen feinste, gut geteerte Kurven für Fahrvergnügen der anderen Art. Jedoch nicht lange, denn bald lockt die Maira-Stura-Höhenstraße. Auch sie wurde als Militärpiste angelegt und ignoriert die Errungenschaften des modernen Straßenbaus. 1800 Höhenmeter kraxeln in verzwickten Serpentinen und knackigen Steilstücken hinauf zum Colle dAncoccia, wo aus weiten, mit bunten Blumen gespickten Sommerwiesen dramatisch schöne Berge wachsen. Wie der Felskoloss Rocca la Meia, der verdächtige Ähnlichkeit mit den berühmten Lavabergen im algerischen Hoggar-Gebirge hat. Weit über mir zieht ein Steinadler seine Kreise. In den Wiesen flitzen Murmeltiere geschäftig hin und her. Eine fantastische Landschaft.Für den Grenzübertritt nach Frankreich suche ich anderntags einen der höchsten Pässe aus, den Col dAgnel mit 2748 Metern. Dumm nur, dass dichte Wolken aufgezogen sind. Die Sichtweite schrumpft auf unter zehn Meter, im ersten Gang tuckere ich zur Passhöhe. Es wird immer kälter, und zu allem Überfluss fängt es auch noch zu regnen an. Erst in Briançon mogelt sich die Sonne wieder durch. Briançon ein Name, der Endurofahrern das Wasser im Mund zusammen laufen lässt, lockt das Grenzgebiet doch mit unzähligen Schotterpisten. Aber seit ich vor 18 Jahren zum ersten Mal hier war, hat sich viel verändert. Erst kam die Karawane der motorisierten Stollenritter, dann fiel die Geländewagenfraktion über die alten Militärwege her, und schließlich setzte auch noch der Mountainbike-Boom ein. Weshalb es immer häufiger zu brenzligen Situationen und Unfällen kam, vor allem, weil manche im Rallyestil über die schmalen Strecken jagten. Die Konsequenz: Sperrungen. Zwar gibt es nach wie vor eine Handvoll freier Verbindungen, fragt sich nur wie lange noch.Bevor ich der Dominator allerdings erneut Schotter gebe, darf sie noch mal ordentlich Kurven kratzen. Auf einem der ganz großen Alpenklassiker: dem Col du Galibier. Gewissermaßen als Vorspiel leistet sich dieser den Col du Lautaret, der nahezu kurvenfrei im breiten Tal an Höhe gewinnt. An der Abzweigung des Galibier nagelt mich die Aussicht auf die Ostwand des la Meije fest, die sich fast 4000 Meter hoch in den tiefblauen Himmel bohrt. Dann aber der Galibier. Ein griffiges Asphaltband, das sich in perfekten, weiten Bögen durch blumenübersäte Wiesen schwingt. Vor mir ragen rotbraune Felsen auf, im Rückspiegel der verschneite Barre des Ecrins, östlichster Viertausender der Alpen. Von der Passhöhe reicht der Blick bis zum 100 Kilometer entfernten Mont Blanc. Genial. Und die Abfahrt geradezu euphorisierend. Wunderschöne Kehren münden in den Col du Telegraph, der mich nach dem Motto »das Schönste zum Schluss« in fantasievollen, nicht enden wollenden Kurvenkombinationen nach St. Michel führt. Einfach geil.Grinsend parke ich die Honda vor einem Café, fülle meinen Flüssigkeitsspeicher wieder auf. Und dann? Keine Frage: noch mal. Zurück bis Briançon. Baguette, Käse und Rotwein kaufen und gleich wieder weg, hoch in die Berge zum Col de Buffère. Dort oben treffe ich Esther und Guido, die das Gleiche im Sinn haben wie ich: einen ruhigen und aussichtsreichen Platz zu finden. Wir suchen gemeinsam.Nach einer saukalten Nacht jagt uns die Sonne schon früh aus den Zelten. Wie könnte ein Tag besser anfangen, als mit einem Outdoor-Frühstück vor der Kulisse der gewaltigen Berge? Doch bereits der erste Blick auf die Landkarte, noch vor der zweiten Tasse Kaffee, verdrängt alle epischen Gedanken: Assietta-Kammstraße! Eine Panoramastrecke erster Güte. Wie fürs Endurowandern geschaffen, schlängelt sie sich über den langen Bergrücken zwischen dem Valle Chisone und dem Valle Dora Riparia. Perfekt. Die Gratwanderung beginnt am Colle Basset und bleibt ständig über der 2000-Meter-Marke. Außer bei Regen hält die Piste nachweislich keinerlei Überraschungen parat. Kein Wunder also, dass uns neben zahlreichen Enduros auch eine Harley begegnet. Wir tuckern gemütlich von einem Pass zum nächsten, bis es hinter dem Colle dellAssietta in ein Hochtal hinunter geht, das durch seine karge Vegetation an das norwegische Fjell erinnert.An der Abzweigung nach Susa treffen wir ein Pärchen, das mit einer fetten BMW 1100 GS über den Colle delle Finestre gekommen ist. Die beiden sind klitschnass geschwitzt, fluchen über die »Höllenstrecke«. Hoffentlich hat Esther das nicht gehört, sie fährt erst seit einer Woche Motorrad. Die Passhöhe des Finestre ist jedoch schnell erreicht, aber noch liegen 1700 Höhenmeter bis ins Tal vor uns. Und dichter Nebel. Ganz zu schweigen von 54 engen, kompakt übereinander gestapelten Kehren, deren Verbindungsgeraden nahezu geizig kurz geraten sind. Aber es hilft nichts: Wir müssen da runter. Holpernd rumpeln wir los. Doch von Kehre zu Kehre wird die Piste besser, geht schließlich in glatten Asphalt über, und Esther seilt sich mit ihrer leichten DR 350 lässig nach Susa ab. »Wo war das Problem?« grinst sie.Wir wechseln wieder hinüber nach Frankreich, kurven über den Col de lIseran, mit 2770 Metern der zweithöchste Pass der Alpen. Im Val dIsere ist allerdings Schicht. Stau. Mitten im Gebirge. Zentimeterweise schieben wir uns voran. Was für eine Panne. Und doch nichts anders als der ganz normale Wahnsinn im Ferienmonat August. Erst als ich inzwischen wieder allein über den Großen Sankt Bernhard in die Schweiz rolle, bessert sich die Lage. Viel weniger Verkehr, die Straßen picobello, genügend Raum auf den Campingplätzen. Trotzdem fühle ich mich nicht richtig wohl. Ob es an der clean wirkenden Atmosphäre der Dörfer liegt, oder daran, dass hier alles ein wenig zu perfekt organisiert scheint? Jedenfalls bin ich froh, als mich das Stilfser Joch wieder rüber nach Italien befördert. Doch der unglaubliche Rummel auf der Passhöhe stürzt mich in die nächste kleine Krise. Wo kommen nur diese vielen Leute her? Und wie komme ich so schnell wie möglich aus diesem Gedränge? Der »Denzel«, die Bibel aller Alpenfahrer, weiß Rat: Eine Piste, die mit 30-prozentiger Steigung zum 3030 Meter hoch gelegenen Ortlerhaus führt. Dort oben herrscht garantiert Ruhe.Es dauert eine Weile, bis ich den Einstieg am Ende eines Parkplatzes entdecke. Die Steigung ist atemberaubend, zusätzlich garniert mit zwei Kehren und losem Kies. Da hilft nur Gas geben. Also los. In der ersten Kurve kommt mir doch tatsächlich ein Geländewagen entgegen. Na klasse. Bloß nicht anhalten. Mit schleifender Kupplung quetsche ich mich an dem Jeep vorbei. Noch mal gut gegangen. Die Steigung läuft in läppische 25 Prozent über, kein Problem also, das Ortlerhaus zu erreichen. Ich parke die Honda direkt am Gletscherrand. Skifahrer wedeln zu Tal, der Schlepplift bringt die bunt verpackten Bretterakrobaten weiter hinauf. Sieht verdammt nach Winter aus. Hier oben wächst nichts mehr, es gibt nur noch graues Geröll, den grauen Gletscher, und es ist einfach kalt.Das ändert sich schlagartig, als ich die Westrampe des Stilfser Jochs unter die Stollenreifen nehme. Mit jedem Meter wird es grüner und wärmer, und unten in Bormio läuft der Schweiß in Strömen. Abhilfe verschafft der nächste Pass, der sich als besonders gelungenes Kurvenreich entpuppt. In unzähligen Kehren windet sich der wenig befahrene Gavia durch den Wald bergan. Jenseits der Baumgrenze empfängt mich ein weites Hochtal, das mit einem sanftgrünen Grasteppich ausgelegt ist. Verschneite Gipfel markieren den Horizont. Kurz vor der Passhöhe leuchtet das gelbe Steinhaus des Rifugio Berni, lockt mit Kaffee und Kuchen. Eine perfekter Platz, um die Berge zu bestaunen und den Bikern zuzusehen, die den Gavia hoch flitzen. War die Nordrampe des Gavia schon toll, setzt das südliche Pendant noch einen drauf. Die buckelige, kaum Lkw-breite Strecke tanzt am Abgrund entlang ins Tal, wo ich auf die Hauptstraße nach Bozen abbiege. Auf der Karte wirkt diese wie eine schnelle, stinklangweilige Verbindungsetappe, in natura vermittelt sie Fahrspaß pur. Die nächsten beiden Pässe Tonale und Mendel zählen weder zu den Alpenklassikern, noch stellen sie irgendwelche Höhenrekorde auf, nichtsdestotrotz taugen ihre Kurvenkombinationen für ein Schräglagenfestival der Extraklasse. Einziger Störfaktor ist der viel zu dichte Verkehr.Wer der Touristenkarawane entkommen will, muss verflucht früh aus den Federn. Aber es lohnt. Tatsächlich habe ich die Straße am nächsten Morgen für mich alleine. Nebelschwaden steigen aus den Tälern, die Wiesen sind noch nass vom Tau der Nacht. Aus dem Dunst schälen sich die Silhouetten bizarr zerklüfteter Felsformationen, sehen aus wie riesige Burgen und Schlösser die Dolomiten. Langsam wird die Sonne kräftiger, verdampft die letzten Dunstschleier und gewährt dadurch immer neue Blicke auf die spektakulären Berge. Ich kann gar nicht genug davon kriegen, setze die Dolomiten an die Spitze meiner Alpen-Hitparade. Nirgendwo sonst gibt es diese Kombination aus himmelhohen Felstürmen, parkähnlichen Wiesen und tiefblauem Horizont. Dazwischen Dörfer, die den Drahtseilakt zwischen Kitsch und Authentizität wagen. Eine real existierende Traumlandschaft. Und als ob das nicht reichen würde, haben die Südtiroler Straßenbauer unzählige feinste Pässe in diese Landschaft gemeißelt. Egal, ob Grödner-Joch, Falzarego oder Passo di Giau, sie alle machen süchtig. So süchtig, dass ich den östlichsten Teil der Alpen aus meiner Reiseplanung kappe. Ich disponiere um und kreuze noch ein paar Tage durch die Dolomiten, weil sie den Alpen-Mix einfach perfekt beherrschen: spaßige Pässe, spannende Pisten und spektakuläre Landschaften.
Info
Die Alpen sind das vielseitigste Motorradrevier Europas. Wer in zwei Wochen dem Bogen der Berge von Nizza bis zum Großglockner folgt, erlebt nicht nur Pässe und Pisten, sondern sammelt ganz nebenbei auch noch über 50000 Höhenmeter.
ANREISEDie schnellsten Wege zur Côte dAzur, Ausgangspunkt der Tour, führen durch Frankreich über die gebührenpflichtigen Autobahnen E 15 und E 80 bis Nizza oder über die Gotthard-Strecke und die italienischen Maut-Strecken E 35, E 62, E 80 bis zur Riviera und von dort in die Seealpen. Die bequemste Anreise bietet der Autozug, der von Hamburg und Köln bis Fréjus an der Côte dAzur fährt. Für eine Person und ein Motorrad kostet die einfache Passage ab Köln saisonabhängig ab 386 Mark. Infos bei DB-Autozug, Telefon 0180/5241224, oder im Internet unter www.dbautozug.de. Wer die Rückreise mit dem Autozug antreten möchte, findet Verladestationen in Villach, Bozen und Innsbruck.REISEZEITHauptreisemonat in Frankreich und Italien ist der August. Staus und nervige Zimmer- oder Zeltplatzsuche sind die Folge. Besser geht es im Juni, Juli und September voran. Wobei die hohen Pässe im Juni noch im Winterschlaf liegen können.ENDURO FAHRENFranzosen und Italiener sind sehr tolerant, was das Befahren alter Militärpisten angeht. Allerdings hört auch bei ihnen der Spaß auf, wenn Geländeheizer die Wege als Rennstrecke missbrauchen. Die Folge sind Streckensperrungen mit drastischen Strafen bei Zuwiderhandlung. Noch gibt es einige freie Strecken, die sich perfekt zum Endurowandern eignen. Wie lange sie uns erhalten bleiben, hängt einzig und allein vom Fahrverhalten der Nutzer ab. Also Leute, bitte, nehmt das Gas raus. Hier gehts ums Naturerlebnis.ÜBERNACHTENDie Alpen bieten alles zwischen Campingplatz und Fünf-Sterne-Hotel. Im August können Zimmerreservierungen in Frankreich und Italien vonnöten sein. Während der übrigen Monaten gibt es kaum Probleme, ein Bett für die Nacht zu finden.SEHENSWERTIn den Alpen reiht sich ein Highlight ans nächste. Wobei Biker die Qual der Wahl haben, sich ganz und gar dem Kurvengenuss hinzugeben, Höhenmeter auf unzähligen Pässen zu sammeln, urige Dörfer und quirlige Städte zu besichtigen oder einfach nur die grandiose Landschaft zu bewundern. Am besten, man mixt sich einen Cocktail mit den Zutaten seiner Wahl.LITERATURHintergrundliteratur, Bildbände und Reiseführer über die Alpen füllen meterlange Regale in den Buchhandlungen. Herausragend in Sachen Navigation ist der »Grosse Alpenstraßenführer« vom Denzel-Verlag, liebevoll »der Denzel« genannt. Der dicke Wälzer kostet 65 Mark und beschreibt so ziemlich alle fahrbaren Straßen im gesamten Alpenraum. Wer den Alpenbogen fahren möchte und dabei auch die kleinen Wege erkunden will, kommt um eine dicke Kartensammlung nicht herum. Für den französischen Teil empfehlen sich die Michelin-Karten 1:200000, Einzelblätter 74, 77, 81 und 84. Für Italien kommen die Generalkarten 1:200000, Einzelblätter 2, 3 und 4 in Frage. In der Schweiz sammelte ich gute Erfahrungen mit der Straßenkarte vom Bundesamt für Landestopographie, Blatt 6010, ebenfalls in 1:200000. Und in Österreich benutzte ich die Michelin-Karte im Maßstab 1:400000.