Das Jahr 2015 wird von Vollgas-Feinschmeckern und Leistungs-Gourmets als sehr guter Jahrgang eingestuft werden. Als spektakuläre Highlights werden die bayrische BMW S 1000 RR, die Überwaffe mit Heizgriffen und Cruise-Control, die atemberaubend scharfe Yamaha YZF-R1M aus Japan und die beiden italienischen Göttinnen Ducati 1299 Panigale und Aprilia RSV4 RF gelten. Aber als größte Sensation wird sicherlich die Kawasaki Ninja H2 in die Annalen eingehen. Sie teilt mittels Supercharger dermaßen hart aus, dass gehemmte Klemmer zwar mahnend den Zeigefinger heben können, aber kein Wort herausbringen. Weil es ihnen nämlich die Sprache verschlagen hat, wie man so sagt.
Um sich das irr mächtige Beschleunigungsvermögen der Kawasaki Ninja H2 vorzustellen, wechseln wir kurz in das Wochenendhaus des braven Bürokraten Gustav Knunz: Während er akkurat mit dem Löffel auf sein Frühstücksei klopft und oben die Schale abhebt, erreicht die H2 aus dem Stand 200 km/h. Von null auf 200 in 7,0 Sekunden! Das ist schon sehr gewaltig, das ist weltklasse, das ist im Serienbau bisher unerreicht. Und das charakteristische Trillern des Kompressors, dessen „Schaufelrädchen“ mit Überschallgeschwindigkeit die Luft verdichten und in den Vierzylinder blasen, wird den guten Knunz glauben lassen, dass draußen die Vögel zwitschern: „Erna, heute ist aber ein besonders schöner Tag!“ Seine Holde am Fenster wird ihn mit unruhigen Augen anschauen und sagen: „Ich weiß nicht, Gustav. Ich habe auf der Straße gerade einen Kometen gesehen.“
Nach 299 km/h kann man bei 200 gut denken
Die Kawasaki Ninja H2R, also die Wahnsinnsrakete schlechthin, bin ich noch nicht gefahren. 20 Kilo weniger und 90 PS mehr als die herkömmliche Kawasaki Ninja H2 kann ich mir gar nicht vorstellen. Weil mich die zulassungsfähige Kompressor-Kawa schon so irrsinnig arg durch die Welt geschossen hat, dass ich beim Absteigen echte Schwierigkeiten hatte, mit der Flamme des Feuerzeugs in den Pfeifenkopf zu treffen. Das Adrenalin ließ mich bibbern wie die Kälte einen Küchengehilfen mit Sonderauftrag im Kühlhaus: „Bevor du mir noch drei Teller fallen lässt, zähle die Nordseefilets und schichte die Rinderhälften!“ Unglaublich, wie mörderforsch der Vierzylinder mit dem Supercharger anreißt! Selbst bei 250 Sachen auf der Uhr war da noch ein unerwartet harscher Beschleunigungsschub, der den Allerwertesten hinten in die perfekt geformte Sitzstütze presste. Wow! Was für ein brachiales Triebwerk!
Bei 299 (das sind echte 295 km/h) machte dann aber die Elektronik dem Treiben unmissverständlich ein Ende. Möglicherweise wird es einen ausgezuckten Superspeed-Freak geben, der ob der Abregelung in bester „Fisch-namens-Wanda“-Manier in den Helm brüllt: „Ich bin enttäuscht!“ Aber die meisten Menschen werden wie ich einen Moment der Ruhe brauchen, wenn sie fünf Kilometer weit 299 auf dem Tacho hatten. Eine Geschwindigkeit von 80 Metern in der Sekunde ist kein Kindergeburtstag. Für Knunz und seine Erna wird die folgende Erkenntnis wenig Bedeutung haben, doch für Reiter einer Kawasaki Ninja H2R ist sie fundamental: Nach fünf Kilometern im Sechser Vollgas fühlen sich dann 200 km/h wie entspanntes Cruisen an. Man sitzt auf der scharfen Rakete mit der unvergleichlichen Stabilität, schneidet scheinbar widerstandslos die Luft und ist so unterfordert, dass das Hirn eigene Wege einschlagen kann.
"Mein erster Sturz seit 25 Jahren"
Ich dachte verträumt an die PS-Odenwald-Ausfahrt im Mai. War schon eine feste Andrückerei mit für mich überraschend vielen Kurven. Das Highlight im Sinne der Dynamik war sicher das Kuddelmuddel nach einer scharfen Linken. Der an fünfter Stelle gegen den Verlust des Anschlusses kämpfende Weißkopfadler namens Baron von Richthofen im legendären Gericke-Ledersack-Einteiler verstand im Eifer des Gefechtes eine Nuance zu spät, dass der führende Jacko die hungrige Meute links in einen Parkplatz leiten wollte, presste sich mit seiner Big Enduro noch rechts haarscharf am Supersportler des sich wundernden Öhlins-Mannes vorbei (ein Blinker ging dabei „beuli“, also musste dran glauben), riss dann die Maschine nach links (warum auch immer) und parkte sie mit stotterndem ABS direkt in die linke Flanke der einbiegenden Jacko-Panigale. Beide gingen zu Boden. Höchsten Unterhaltungswert hatte dann nicht nur die sachlich nüchtern gestellte Frage an Richthofen: „Was war denn das?“, sondern auch seine Antwort: „Ich weiß es nicht. Ist mein erster Sturz seit 25 Jahren.“ Das Bild, wie dann die linke Verkleidungshälfte der Panigale aus dem Parkplatz-Mülleimer ragte, ehe wir die Stätte, die ab sofort die Ortsbezeichnung „Richthofens Attacke“ trägt, wieder verließen, werde ich nicht vergessen. Ein Meisterwerk moderner Kunst.
In dieser netten Erinnerung eingebettet lächelte ich jetzt auf der Kawasaki Ninja H2 verträumt vor mich hin, als weiter vorne plötzlich ein Fernfahrer seinen riesigen Blechhaufen zum Überholen auf die mittlere Spur manövrierte. Im Vergleich zu 299 sind 200 nichts, aber im Vergleich zu 100 eine Lawine. Ich habe Einsteins Relativitätstheorie nie ganz verstanden, doch dass sich ein ausscherender Lastwagen zu einem Supersportler verhält wie ein auftauchendes U-Boot zu einem Jet-Ski war mir schon klar.
Kawasaki Ninja H2 ist der irrste Seriensportler
Das Ausweichen war selbstverständlich eine leichte Übung, die den Puls in keiner Weise beschleunigte. Kawasaki hat sehr viel Erfahrung mit Boden-Boden-Raketen (schon mit der ersten ZX-12R bin ich seinerzeit mit echten 310 km/h durch die Lichtschranke gefahren – bevor sich die vor der europäischen Bürokratie fürchtenden Japaner einigten, dass kein Straßeneisen schneller als 299 marschieren sollte), und die Kawasaki Ninja H2 ist die beste zulassungsfähige Maschine, die sie je gebaut haben. Das Geschoss beschleunigt nicht nur atemberaubend, sondern es bremst auch so und hat die Lenkpräzision eines Supersportlers. Dass die H2 mit 239 Kilo vollgetankt doch deutlich schwerer ist als rennorientierte Tausender wie ZX-10R & Co. ist richtig, darf aber nicht zum Schluss führen, dass es sich um einen Tourensportler handelt. Das wäre eine echte Verirrung, eine peinliche Fehleinschätzung, ein Wahnsinn. Die Kawasaki H2 ist für mich definitiv der irrste Supersportler aller Zeiten, aber sie ist nicht vorrangig auf der Welt, um Rundenrekorde zu brechen.
Ich bin die Maschine auf der Rennstrecke in Brünn und am Red Bull Ring gefahren und war einfach nur fassungslos, welch irren Druck der Motor erzeugte. Begeistert war ich auch von der Elektronik. Normalerweise hätte ich sicher mindestens zwanzig Runden gebraucht, um einigermaßen zuversichtlich die schiere Gewalt des aufgeladenen Blocks abzurufen, im Vertrauen an die Rettungssysteme nietete ich aber schon nach der dritten Runde voll ein. Unfassbar großartig! Als ich bei Vollgas mittels Schaltautomat vom Dreier in den Vierer wechselte, hob brüllende Kawasaki Ninja H2 ganz leicht die Front und beschleunigte wie nichts anderes bisher – mit dem Vorderrad zehn Zentimeter über dem Asphalt. Man kennt das aus dem MotoGP. Mörder Elektronik!
Der Prüfstand liefert die Bestätigung: 218 PS
Den subjektiven Wahnsinn, den ich auf der Kawasaki Ninja H2 erlebte, bestätigt dann der Prüfstand: Der 1000er-Reihenvierer mit Kompressor bringt es auf sagenhafte 217,9 PS an der Kurbelwelle bei 11.300/min! Das ist jenseits von Gut und Böse. Da frohlocken die Engel im Himmel, und Satan kippt in bester Laune einen Sack voll Briketts in den Ofen. Fast 218 PS! Da haben alle eine Freude. Dazu noch 139,3 Nm bei 10.800/min. Nun könnte man annehmen, dass in diesen beeindruckenden Werten die Ursache für die enorme Beschleunigungskraft der H2 zu finden ist, aber Kawasaki hat außerdem die ersten drei Gänge relativ kurz übersetzt. Der Einser reicht „nur“ bis 125 km/h, der Zweier bis knapp 160, der Dreier bis 195, der Vierer bis 230, der Fünfer bis 261, der Sechser bis 295. Bei den „herkömmlichen“ Supersportlern bringt der Einser rund 150, der Zweier langt bis 190.
Den kurzen Einser in Verbindung mit der konkurrenzlos brachialen Power in eine Serienmaschine zu pflanzen, wäre vor wenigen Jahren undenkbar gewesen, weil man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen hätte können, dass es die Piloten, die unbedarft am Gas drehen, ganz normal nach hinten überschlägt. Heute ist das kein Thema mehr. Weil die Kawasaki Ninja H2 mit einer höchst funktionalen Elektronik ausgestattet ist. Um noch mal auf den erwähnten Schaltvorgang vom Dreier in den Vierer einzugehen: Ohne Wheelie Control hätte ich rasch Gas wegnehmen müssen. Ein Abgang nach hinten jenseits der 200 km/h ist ja nichts, das man gerne in seinen Lebenslauf eintragen möchte. Es gibt Dinge, die muss man nicht ausprobieren, die kann man ruhig auslassen, da versäumt man nichts.
Auf der Landstraße ausreichend motorisiert
Die Kawasaki Ninja H2 ist konstruktionsbedingt auf der Rennstrecke, wenn es um die letzten Zehntelsekunden geht, den modernsten High-End-Superbikes ganz klar unterlegen, weil man das Mehrgewicht halt in jeder Bremszone und in jedem Radius spürt. Aber für spaßorientierte Hobbyracer ist das kein Thema. Weil sie trotz des etwas längeren Radstandes und der unbedingt notwendigen Highspeed-Stabilität (die H2R, die im Wesentlichen identisch ist mit der H2, marschiert über 330 km/h und braucht einen Geradeauslauf der Extraklasse), sehr willig einlenkt. Möglicherweise spürt man das Vorderrad nicht ganz so klar wie auf ZX-10R & Co., aber deutlich genug, um rennorientiert auf der Bremse in den Radius zu stechen.
Das einzig Heikle ist die Gasannahme im Scheitel. Die ist im wahrsten Sinne des Wortes gewöhnungsbedürftig. Legt man das Gas so an wie immer, wird man fest das Aug‘ aufreißen, wie man so sagt. Ja Himmel, da schwemmt es abrupt so viel Kraft auf die hintere 200er-Walze, dass die Linie weit wird. Ein klarer Fall für heiße Ohren unterm Helm. Sich mit einer der seltenen und preislich nicht gerade supergünstigen Kawasaki H2 ins Kiesbett zu legen, klingt sehr nach „verhängnisvoller Affäre“. Das Gute ist, dass man nach wenigen Runden weiß, was einem blüht, und dass man sich auf diese Charakteristik einstellen kann. Man geht halt sehr sensibel zu Werke.
Mörder Druck in allen Drehzahlbereichen
A priori hätte ich angenommen, dass der starke Leistungseinsatz auf der Landstraße eine ernste Bedrohung sein könnte, da ja dort der Platz für eine erweiterte Linie nicht immer gegeben ist. Aber ich hatte null Problem damit. Sobald man einigermaßen eingeschossen ist auf die Kawasaki Ninja H2 und das rechte Handgelenk mehr feinfühlig als grobschlächtig werkt, rabaukt man wie selbstverständlich durch die Welt. Mörder Druck in allen Drehzahlbereichen, sehr straffes, aber nicht unbequemes Fahrwerk, supersportliche Lenkpräzision, top Anker. Einfach eine Wahnsinnsmaschine.
Zwei Sachverhalte müssen einem aber bewusst sein, wenn man mit einer Kawasaki Ninja H2 unterwegs ist: Erstens kann man Vollgas auf der Landstraße im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten einfach vergessen, und zweitens bilden sich immer Menschentrauben, wenn man absteigt. Egal wo. Die H2 ist ein Blickfang, der Bewunderer um sich schart. Unter Umständen muss man die Frage „Wie zwitschert der Kompressor?“ mehrmals am Tag beantworten.
Auf Übermut folgt ein kurzer Panikschub
Nach zwei kurzen Sessions auf der Rennstrecke und einem großartigen Ausflug im freien Land war ich mit der göttlichen Kawasaki Ninja H2 soweit eins, dass ich übermütig wurde. Ich vertraute voll auf Traktions- und Wheeliekontrolle und ließ die Maschine nach dem Abbiegen auf einer T-Kreuzung im sanften Hügelland fast aus dem Stand einen rennorientierten Start hinlegen. Ordentlich viel Gas, forsches Einschleifen der Kupplung, volle Kraft voraus! Vollgas! Unvorstellbar brachialer Anriss! Kometenartiger Abzug! Höchstes Glücksgefühl im klopfenden Herzen. Aber in dem Moment, in dem ich mir dachte: „Jetzt lege ich noch den Zweier nach!“, stieg die Maschine vorne ziemlich harsch in die Galerie, und ich lupfte reflexartig das Gas. Wow! Damit hatte ich einfach nicht mehr gerechnet. Mir war, als ob mir die Elektronik, die das unfassbar anreißende Geschoss bisher immer in Bodennähe gehalten hat, sagen wollte: „Wir sind bis jetzt wunderbar miteinander klargekommen. Aber vergiss nicht, dass der Motor 218 PS serviert und meine Aufgabe nur darin besteht, so wenig wie möglich davon zurückzunehmen, wenn du überdosierst. Denk immer an den Spruch deiner Oma: Übermut tut selten gut! Und ja: Solltest du mich schrotten, verzeihe ich dir das nie. Und der Importeur wird dich vierteilen.“
Bei einem Beruhigungspfeiferl sinnierte ich dann vor mich hin: Die verwegene, einzigartige Highspeed-Optik der H2, der konkurrenzlose Motor mit dem faszinierenden Kompressor und einem tollen Elektronik-Paket sowie die Tatsache, dass Kawasaki in Zeiten, in denen die persönliche Freiheit von Reglementierungswütigen und Kontrollfreaks immer weiter zurückgedrängt wird, so eine Rakete an den Start schiebt, machen mich wirklich glücklich. Gäbe es einen Orden für herausragende Leistungen im Fahrzeugbau, hätten sich die Kawasakler für die Kawasaki Ninja H2 unbedingt einen verdient.
Technische Daten

Power, Power und nochmals Power – immer und überall. Schnurgerade fräst der Motor den Druck übers Leistungsband in den Asphalt. Auf dem PS-Prüfstand brachte es der Reihenvierer der Kawasaki Ninja H2 auf sagenhafte 217,9 PS.
Fazit

„Wenn ich so über Dich nachdenke, liebe H2, bist du für mich das absolute Highlight des sowieso schon spektakulären Jahrgangs 2015. Die Ausstattung mit Kompressor lässt mich ehrfürchtig nicken, der PS-Prüfstandslauf trieb mir Tränen der Freude in die Augen. 218 PS serienmäßig! In der ganzen Welt wird der Reglementierungs- und Kontrollwahn in unangenehmer und jegliche Eigenverantwortung im Keim erstickender Weise auf die Spitze getrieben, aber Kawasaki hält wie das unbezwingbare Gallierdorf dagegen und stellt für die unbeugsamen Freiheitsliebenden statt des Zaubertranks halt eine Maschine mit unbändiger Kraft vors Tor. Das rechne ich ihnen ganz hoch an. Danke, Kawasaki!