Auch wenn der Eiserne Vorhang längst gefallen ist, es gibt wenige Dinge, auf die Amerikaner so empfindlich reagieren wie auf Kommunismus. Selbst die staatliche Krankenversicherung für jedermann ist bis heute umstritten, weil sie im Verdacht steht, kommunistisch zu sein, und damit angeblich gänzlich unamerikanisch. Wie wohltuend in diesen unruhigen Zeiten, dass es noch Reservate reinster US-Kultur gibt, wo Individualismus und Freiheitsglauben weiter hochgehalten werden.
Ein solcher Ort ist Milwaukee. Hier wurde der Mythos Harley-Davidson geboren, und an diesem Wochenende feiert Amerika den 110. Geburtstag der Marke mit einer großen Parade. Zehntausende säumen die Gehsteige, als der Motorrad-Korso durch die Stadt rollt. Sie bejubeln lange Bärte, lederne Kutten und reichlich verchromte Totenköpfe aus dem Custom-Katalog. Doch für kaum ein Bike gibt es so viel Applaus wie für die E-Glide mit den zwei mandeläugigen Männern im Sattel. Der Mann am Lenker winkt mit der Linken in die Menge, sein Sozius weht enthusiastisch mit einer riesigen Flagge. Es ist das Banner der kommunistischen Volksrepublik China. „Ist das nicht unglaublich?“, sagt ein Zuschauer begeistert. „Die sind von so weit hergekommen.“
Als Ehrengast von Harley-Davidson in Milwaukee
Zi Shu ist mit dem Flugzeug in New York gelandet und dann mit dem Bike weitergefahren, den gleichen Weg wie damals die zehn Ingenieure, die Harley-Davidson zurückkauften und zu neuer Größe führten. Eigentlich hatte Zi Shu den Plan, mit seinem eigenen Motorrad anzureisen, er wäre der Erste in Milwaukee gewesen mit chinesischem Nummernschild. Aber dann kam die Einladung. Zi Shu brauchte kein Motorrad mieten, kein Zimmer buchen, kein limitiertes 500-Dollar-Ticket lösen, um bei der Parade mitfahren zu dürfen. Er, der leidenschaftliche Fan, war eingeladen – als Ehrengast von Harley-Davidson.
Die erste Begegnung mit Zi Shu war ein Abendessen mit Bikern in Peking. Sie feierten sich selbst, weil sie als Mitglieder des Harley-Davidson-Clubs der chinesischen Hauptstadt plötzlich Protagonisten einer Geschichte in Deutschland waren. Es war die MOTORRAD-Ausgabe 5/2013. Zur Rechten saß ein unscheinbar wirkender, drahtiger Typ, der sich nie in den Vordergrund drängte und doch immer Mittelpunkt des Geschehens war. Als die Schüsseln geleert waren und alle aufstanden, wisperte einer der Biker: „Ist dir eigentlich klar, dass dieser Typ eine Legende ist?“
Die Legende empfängt Besucher an einem kalten und klaren Morgen im Osten Pekings mit leicht verschwommenem Gesicht, was am Dampf der Fertig-Nudelsuppe liegt, die er mit ein paar Freunden inhaliert. „Sorry“, sagt er, „Frühstück.“ Zi Shu hat einen kleinen Laden für Motorradzubehör neben einem Einkaufszentrum. Er verkauft Cowboystiefel aus Amerika und deutsche Koffer für die BMW GS. An der Wand hängt ein Poster von Michael Schumacher.
Motorradfahren ist in China keine Mode – noch nicht
Hier empfängt er Kunden, Kumpels und Freunde. Zi Shu hat viele Freunde. Er serviert Tütchen-Cappuccino aus Korea. Hat ihm ein Freund besorgt. Korea hat er im Vorjahr abgefahren. Es war einer der letzten Flecken, die ihm noch fehlten. Vor einigen Jahren hat er schon eine große Rundtour gemacht. Vietnam, Kambodscha, Thailand, Malaysia, Laos. Er ist der erste Chinese, der ganz Südostasien mit dem Motorrad bereist hat, und der erste Mensch überhaupt, der es mit einer Harley schaffte. Eine chinesische Motorradzeitschrift widmete ihm dafür zwei große Geschichten.
Zi Shu ist kein Mensch, den der Durchschnitts-Chinese auf der Straße erkennt, schon eher Sun Nan, den berühmten Sänger, mit dem er vor ein paar Jahren die amerikanische Ostküste bis auf die Florida Keys hinunterritt. Motorradfahren ist in China keine Mode – noch nicht. Die Volksrepublik erlebt seit zwei Jahrzehnten eine Wachstumsperiode, die das deutsche Wirtschaftswunder aus den Fünfzigern locker in den Schatten stellt. Und wie im Nachkriegsdeutschland fährt in China vor allem derjenige Motorrad, der sich noch kein Auto leisten kann. Eine 125er-Futong ist kein Statussymbol. Erst mit der wachsenden oberen Mittelschicht schwappen auch die westlichen Hobbys über die Große Mauer. Man spielt Golf und fährt neuerdings auch schwere Motorräder.
Mit der Harley die Taklamakan-Wüste umrundet
Den 36-jährigen Zi Shu hat der Virus vor einem Jahrzehnt befallen. Er erinnert sich gern an seine Honda Transalp, er fuhr eine BMW R 1200 GS, und weil ihm das alles zu einfach und kommod erschien, schaffte er sich eine 883er-Custom-Harley an, mit der er ganz China umrundete und Tibet durchquerte. Einmal stand er 15 Stunden auf dem Sattel, weil er die endlosen, von Lastwagen wie Wellblech in den Lehm gestanzten Bodenwellen sonst nicht bewältigt hätte. In der westlichen autonomen Region Xinjiang mühte er sich auf Sandpisten ab, bis die Arme ihm kaum noch gehorchten. Seines Wissens nach ist er der Erste, der mit einer Harley die Taklamakan-Wüste umrundete, die zweitgrößte Sandwüste der Welt. „Ich bin kein Übermensch, aber indem ich Dinge tue, die sonst noch keiner gemacht hat, kann ich stolz auf mich sein.“
In seinem Heimatland genießt Zi Shu längst Kultstatus. Er wird eingeladen, wenn sich neue Clubs gründen. Neulich ist er deshalb kurz rüber nach Xi’an gefahren, in die Heimat der legendären Terrakotta-Armee. Die 1200 Kilometer hat er an einem Tag abgeritten. In Peking gründete er 2009 den 10.000-Miles-Club und ist stolz auf mittlerweile 30 Mitglieder. Den US-Trip bekam er geschenkt, weil er im vorletzten Jahr 36.000 Kilometer gefahren war, mehr als jeder andere Harley-Pilot in China. In Milwaukee traf er Biker, die Aufnäher mit der Zahl 50.000 auf der Kutte trugen. Zi Shus Ziel sind die 100.000 Kilometer. Die Aufnäher gibt es nicht einfach im Handel. Harley China hat angekündigt, ihm einen anzufertigen.
Die Riesendistanz könnte er schaffen, wenn sein großer Traum in Erfüllung ginge. Zi Shu plant eine Weltreise. Er wäre der erste Chinese auf zwei Rädern. Außer der Lust an Rekorden treibt ihn die schiere Leidenschaft am Leben im Sattel an und die Lust auf die Fremde: „Du lernst auf dem Motorrad so viele Menschen kennen und in all den fremden Ländern neue Perspektiven.“
Zi Shu träumt vom Reisen, nicht vom Auswandern
Zi Shu träumt vom Reisen, nicht vom Auswandern, er ist gern Chinese. Mit Politik befasst er sich ungern. Dass sie in Milwaukee wenig von der politischen Führung seines Landes halten, versteht er gut: „Ich mag die kommunistische Partei selbst nicht.“ Und so war ihm auch die Sache mit dem Banner der Volksrepublik ein bisschen unangenehm: „Ich mag Rot nicht besonders. Die Farbe ist mir zu aggressiv. Aber was willst du machen? Das ist nun mal unsere Flagge.“ Was für ihn zählt, ist, dass ihn die Fremden vor allem als einen erkannten, der von weit herkam, um ihre Leidenschaft zu teilen.
Er will natürlich auf seiner Weltreise auch Deutschland besuchen und mit einem gemieteten Bike hinunter nach Afrika, während er sein Motorrad von Holland in Richtung USA verschifft. Amerika kennt er schon von zwei Reisen. Der Mann aus dem Land des Drachen hat natürlich in den Great Smoky Mountains in North Carolina den „Schwanz des Drachen“ mit seinen 319 Kurven auf elf Meilen befahren. Er war am Anfang und Ende der Route 66. Die Memory Lane, die ersten Kilometer der alten Route 66, sind eigentlich für den Verkehr gesperrt. Als 2013 die chinesische Abordnung eintraf, öffneten die beeindruckten Amerikaner für die Weitgereisten das Tor. Zi Shu besuchte Freunde in Kalifornien, was bemerkenswert ist, denn der Mann aus Dalian spricht kaum ein Wort Englisch, geschweige denn sonst eine Fremdsprache. Wie soll das dann in Afrika funktionieren oder in Europa? „Ich werde hoffentlich nicht allein reisen, und bisher hat es zur Not immer funktioniert, wenn du mit dem Finger auf das zeigst, was du benötigst.“ Zi Shu gibt zu, das mit der Sprache ist ein Problem, aber dann muss er lachen: „Ich würde etwas darum geben, wenn ich wenigstens 200 Wörter Englisch könnte, aber ehrlich gesagt habe ich als Chinese schon 1000 Kilometer von hier in Shanxi Probleme, die Leute im eigenen Land zu verstehen.“
Visa für all die fernen Länder
Ein weiteres Thema ist Geld. Bisher hat er für den Trip um den Globus noch keine Sponsoren. Er hat vor Jahren eine Firma für Motorradmode gegründet. Immerhin zieht das Geschäft an, weil sein eigener Bekanntheitsgrad steigt. Sein Label RPM CN (Revs per Minute China) soll in China einmal eine bekannte Marke wie Nike oder Adidas werden. „Wir sind sehr gut darin, andere nachzuahmen, aber wir haben kaum eigene namhafte Marken“, beklagt er und will auch hier ein Pionier sein. Aber bisher wirft seine Firma noch nicht genug ab, um sich selbst zu sponsern.
Und dann bliebe da noch das Thema mit den Visa für all die fernen Länder, denen sich seine Heimat nur zögerlich annähert. „Ich hoffe, dass wir eines Tages so frei sind, dass wir reisen können, wohin wir wollen“, sagt Zi Shu feierlich. Auf der Parade in Milwaukee trug er ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Free Spirit“.
Riesenparty und Motorrad-Korso zur Hochzeit
Die Tour rund um den Globus hat bisher keine Eile. Das nächste konkrete Projekt wird erst einmal die eigene Hochzeitsreise. „Ich muss total verrückt sein“, antwortet Wang Meiqi fröhlich auf die Frage, wie sie es mit so einem Rastlosen aushält. Sie hat Zi Shu vor sechs Jahren kennengelernt. Geheiratet hat sie ihn 2012. Wenn er unterwegs ist, schmeißt sie den Laden. Wenn sie zusammen verreisen, sperrt Zi Shu auch schon mal für ein paar Wochen zu. Woanders mag die Kundschaft böse sein, wenn sie vor geschlossenen Türen steht. Bei Zi Shu fragt sie sich mit verklärten Augen, zu welchem Abenteuer er gerade wohl wieder aufgebrochen ist. Mittlerweile kommen auch Besucher, die nichts kaufen wollen, sondern nur mal den Marathonmann Chinas besuchen möchten. Dann bittet er Wang Meiqi, heißes Wasser aufzusetzen für den Pulver-Cappuccino.
Er wird in diesem Jahr mit Wang Meiqi in die Flitterwochen nach Hainan fahren, Chinas großer Urlaubsinsel im Südchinesischen Meer. Wie das Motorradfahren zum Spaß entdeckt das 1,3-Milliarden-Volk hinter der Großen Mauer erst seit Kurzem den Badeurlaub. Vor dem Trip in den Süden findet in Zi Shus Heimat Dalian eine Riesenparty statt, und natürlich soll ein Motorrad-Korso organisiert werden. Zi Shu ist ziemlich sicher, dass es die größte Harley-Parade in der Geschichte Chinas wird.