Der führende Marc Márquez nahm einen schon sehr extrem weiten Bogen in die erste Kurve der 14. von 29 Runden des Moto2-Rennens auf dem Sachsenring. Der "Profiteur" Stefan Bradl drehte sich noch in der Bergab-Rechtskehre verdutzt nach
dem gerade 17-jährigen Spanier um. Der WM-Tabellenführer und Lokalheld hatte sofort kapiert: Fahrfehler sehen anders aus.
Es war also klar, dass der 125er-Weltmeister einen
für Bradl und die Rekordkulisse von über 101 000 Fans an der engsten und trickreichsten Rennstrecke des Grand-Prix-Kalenders eher fiesen Plan hatte. Nachdem der
gelungen war, konnte er ihn auch generös zugeben.
"29 Runden lang vornweg fahren, das ist nicht gut, außer du könntest dich absetzen, aber daran war angesichts eines Gegners wie Stefan nicht zu denken", referierte der jugendliche Angreifer im Ziel völlig cool. "Da kapierst
du überhaupt nicht, was die anderen so drauf haben, wo sie stark sind und wo deine eigenen Vorteile liegen."
So rollte der Spanier hinter WM-Tabellenführer Bradl und einige Runden lang sogar hinter dem Routinier Alex de Angelis auf Rang drei einher, bevor er mit einem spektakulären Manöver Stefan Bradl außen herum in der ebenso schnellen wie bösartigen Bergab-Rechtskurve hinter dem Fahrerlager - im Freitagstraining gingen hier ausgerechnet die Superstars der MotoGP-Königsklasse gleich reihenweise zu Boden - wieder
vom Platz an der Sonne verdrängte.
Der allerdings wusste auch
schon vor dieser 22. Runde, dass es ein äußerst schwieriges Unterfangen sein würde, den von allen erwarte-
ten Heimsieg auch zu liefern. "In den letzten sieben oder acht Runden wird der Hinterreifen nicht mehr perfekt funktionieren", war seine Analyse der Trainingstage schon vor dem Rennen.
Tatsächlich verloren hatte der Kalex-Fahrer das
Rennen allerdings erst in der vorletzten Runde, als er sowohl auf den führenden Márquez wie auch den
nie abzuschüttelnden Verfolger de Angelis mehr als
eine halbe Sekunde einbüßte. "Ja, das war der Moment, als ich merkte, dass es doch zu riskant sein könnte,
wenn ich mit dem zu Ende gehenden Reifen noch weiter voll angreifen würde."
Stefan Bradl zeigte Spielübersicht, brachte den zweiten Platz ins Ziel, führt weiterhin deutlich mit 42 Punkten vor Márquez, der bekanntlich einem katastrophalen Saisonauftakt mit drei Rennen ohne Punkte hinterherhechelt. Dennoch war nach dem Rennen Bradls Vorstellung des zufriedenen Zweitplatzierten, der jetzt wohl-
gelaunt in die knapp vierwöchige Sommerpause zieht - beim US-GP in Laguna Seca am 24. Juli fährt ja nur
die MotoGP-Klasse -, etwas weniger überzeugend als die Performance auf der Strecke selbst. Denn es war den meisten klar, und allen voran natürlich auch Stefan Bradl selbst: Diesen Deutschland-GP hatte er zwar knapp,
aber dennoch ohne echte Chance gegen Marc Márquez verloren. Und den begründeten Ärger darüber konnte
er bei aller Professionalität dann doch nicht ganz verbergen. Es gibt also einiges zu tun bis zum Brünn-GP am 14. August, für ihn, sein Viessmann-Kiefer-Team und die Technik-Füchse bei Kalex in Bobingen.
Allerdings wird auch niemand
in Panik verfallen, denn die WM-Tabelle spricht eine klare Sprache. Selbst wenn der junge Spanier alle noch ausstehenden Rennen vor
Bradl gewönne, hieße der Weltmeister am Ende Stefan Bradl. Marc
Márquez kann also, um ein Wort aus der Fußballersprache zu bemühen, "aus eigener Kraft nicht mehr den Titel holen".
Noch in der Sommerpause, am Montag vor dem Brünn-GP, wird übrigens eine Entscheidung darüber fallen, welche die Zukunft von Stefan Bradl deutlich stärker beeinflussen wird als selbst der Sieg oder die Niederlage im WM-Titelkampf. "Am
8. August, nach den Werksferien der Firma, wird entschieden, ob Viessmann zusammen mit Stefan Bradl und uns in die MotoGP-Königsklasse aufsteigen wird", erklärte Teammit-
besitzer Stefan Kiefer mit optimisti-
schem Lächeln im Gesicht.
"Zu Beginn des Sachsenring-Wochenendes habe ich eine Chance von knapp über 50 Prozent gesehen für die Verwirklichung des Viessmann-Kiefer-Honda-MotoGP-Teams mit Stefan Bradl für 2012", fasste
er am Sonntagabend seine Gesprä-
che zusammen, "inzwischen ist
die Wahrscheinlichkeit um einiges gestiegen."
Dabei hängt das Projekt des ersten deutschen MotoGP-Teams mit deutschem Fahrer ganz klar an der Entscheidung von Dr. Martin Viessmann, dem Besitzer des gleichnamigen Heiz- und Klimatechnikkonzerns. Und Viessmann, der regelmäßig deutlich macht, dass es ihm um die persönliche Förderung Stefan Bradls als Sportler und weniger um Motorsport-Engagement im Allgemeinen geht, hat wohl am Rande des Sachsenrings durch-
blicken lassen, dass er sich eine deutliche Erhöhung des Budgets für Bradl durchaus vorstellen kann. Vor diesem Hintergrund klärt sich die Situation relativ schnell auf.
Viessmanns Anteil an dem für einen vernünftigen MotoGP-Einsatz nötigen Budget von um die fünf Millionen Euro pro Jahr müsste bei 1,5 bis zwei Millionen liegen. Dann wären Jochen und Stefan Kiefer in der Lage, eine seriöse Struktur für MotoGP-Einsteiger Stefan Bradl auf die Beine und Räder zu stellen - mit zwei weiteren Sponsoren. Der Windenergiefonds Windreich steht wohl schon bereit, die MotoGP-Vermarktungsagentur Dorna und der Motorradausrüster Honda selbst haben ebenfalls bereits Entgegenkommen signalisiert.
Bekanntermaßen ist Bradl auch bei den MotoGP-Teams Tech3-Yamaha und LCR-Honda sehr willkommen - aber sicherlich auch nur mit einem nennenswerten Viessmann-Scheck. Mit dem Vollmond, der im Abend-
himmel über dem sich allmählich leerenden Hardcore-Fan-Camp
Ankerberg aufging, mehrten sich die Zeichen, dass Stefan Bradl 2012
mit einem neuen Motorrad in einer
neuen Klasse, aber mit seinem an-
gestammten Viessmann-Kiefer-Team antreten wird.
Dies wäre eine gute Nachricht für die deutsche Rennsport-Welt, aber nicht für alle ihre Protagonisten. Max Neukirchner nämlich stünde ganz oben auf Kiefers Liste für den Fall, dass sie Bradl verlören. Aber eine sich verflüchtigende Chance auf einen Platz in einem Moto2-Top-Team
für nächstes Jahr war sicherlich das kleinere Ärgernis
des MZ-FTR-Piloten bei seinem Heimrennen.
Denn der Sachse, er ist ja wirklich nur gut zehn Kilometer von der Piste entfernt zu Hause, war hervorragend mit großem Vorwärtsdrang unterwegs und gerade drauf und dran, den Spanier Aleix Espargaro und seine Pons-Kalex von Rang sechs zu verdrängen, als sich der in der Linkskurve vor der Karthalle völlig ansatzlos per Highsider von seiner Maschine katapultierte. "Da war gar nichts mehr zu machen", erinnerte sich Max, "ich war vielleicht zwei Meter hintendran." Neukirchner verletzte sich zwar nur geringfügig bei dem völlig unvermittelten Ab-
flug über Espagaros Motorrad, war aber trotzdem reichlich sauer. Vor allem angesichts der Ergebnisliste, denn Stefan Bradls Teamkollege Randy Krummenacher aus der Schweiz hing zu diesem Zeitpunkt noch deutlich hinter dem ebenfalls höchst motivierten Sachsenpfeil auf Rang 14 zurück, wurde am Ende jedoch strahlender Vierter. "Für mich ganz klar der Mann des Rennens", so lautete der verbale Ritterschlag von Vater Helmut Bradl, dem 250-cm³-Vizeweltmeister von 1991.
Dennoch durften die Sachsen einen Sieg feiern, zwar am grünen Tisch, aber langfristig gesehen wahrscheinlich den wichtigsten. Denn
die recht lautstarken, allerdings bei etwas intensiverer Betrachtung, völlig grundlosen Ängste, nach
dem 2011 auslaufenden Vertrag den Grand Prix Deutschland nach 13 Jahren wieder zu verlieren, konnten zerstreut werden. Dorna-Chef Carmelo Ezpeleta und der ADAC Sachsen verkündeten im Laufe des Wochenendes, dass der GP bis mindestens 2016 weiter auf dem Sachsenring stattfinden wird. Und ob Ezpeleta seine geforderte Aufstockung der Antrittsgebühr von zwei auf vier Millionen Euro pro Event durchsetzen konnte, darf
bezweifelt werden.
Denn, wo bitte schön, hätte der Katalane, von dem wir wissen, dass ein Deutschland-GP zwingend auf seiner Agenda steht, mit seinem Zirkus denn hingewollt? Auf den Nürburgring zum Geisterrennen? Nach Hockenheim, wo man gar nicht so genau weiß, auf welcher Streckenvariante eigentlich Motorräder fahren sollen? Auf den gigantischen Eurospeedway Lausitz, wo selbst die über 100 000 vom Rennsonntag eher verloren wirkten, ganz abgesehen davon, dass sie nicht vollzählig kommen würden? Nein, nein, der Motorrad-GP gehört auf den Sachsenring. Und da bleibt er auch, zumindest bis Stefan Bradl MotoGP-Weltmeister ist.
Noch Knapper gehtS nicht
Zu den großen Verlierern auf dem Sachsenring zählten die deutschen 125-cm³-Fahrer. Nach einem Sturz im morgendlichen Warm-up lief die eilig reparierte Mahindra von Marcel Schrötter nicht mehr wie zuvor, weshalb sich der Bayer mit Rang 15 bescheiden musste. Seine Klassenkameraden Jonas Folger und Sandro Cortese lieferten sich derweil zwar ein spannendes Duell, leider jedoch 13 Sekunden hinter der Spitze. "Ich habe wohl zu oft auf die
Tabelle geschaut und Punkte gezählt", seufzte Cortese selbstkritisch, der die Hoffnungen, 2011 um den WM-Titel mitzukämpfen, längst begraben musste. Beim Heim-GP erreichte er nur den niederschmetternden 15. Startplatz und fuhr im Rennen, von Folger geschlagen, als Achter über die Ziellinie.
Weniger eindeutig war, wer das Rennen eigentlich gewonnen hatte. Johann Zarco und Hector Faubel flitzten exakt gleichauf über die Ziellinie. Weil er die schnellere Rennrunde gedreht hatte, wurde Hector Faubel als Sieger gewertet.
Bei manchen Zuschauern im Zielraum war von Herzschlagfinale, bei anderen aber auch von Schiebung die Rede. Zunächst hatte die Elektronik über die im Fahrzeugheck eingebauten Zeitnahme-Transmitter nämlich einen Vorteil von einer Tausendstelsekunde zugunsten von Zarco registriert, den die Rennleitung nach Analyse der Videoaufnahmen aber nicht bestätigen mochte.
Manche Anhänger des jungen Franzosen regten sich auf, weil der nach dem Barcelona-GP nun schon zum zweiten Mal den sicher geglaubten Sieg am grünen Tisch verloren hat. Damals war er wegen eines äußerst umstrittenen Fahrmanövers gegen Nicolas Terol kurz vor dem Ziel zu einer 20-Sekunden-Strafe verdonnert worden, die ihn von Rang eins auf sechs zurückwarf.
Dass Zarco auch nach dem Sachsenring-GP weiter auf seinen ersten Sieg warten muss, nahm sein deutscher Cheftechniker Stefan Kurfiss mit Humor: "Am besten ist es, du hast im Ziel eine Minute Vorsprung. Dann bist du auf jeden Fall Sieger - auch, wenn dir hinterher 30 Sekunden aufgebrummt werden." fk
"Nach Erfolg schnell aufsteigen
Der 21-jährige Tscheche Karel Abraham braucht keine Sponsoren zum MotoGP-Fahren. Er konnte seinen Vater von seinem Talent überzeugen.
Den MotoGP-Sieg von Daniel Pedrosa auf dem Sachsenring durften die Fanmassen erwarten. Entsprechend unspektakulär wurde er gefeiert. Denn noch immer kommt die Mehrheit - auch zum deutschen GP - nur wegen
Valentino Rossi. Doch wer auf ein ähnliches Wunder des Doktors wie 2010 hoffte, als er beim frühen Comeback nach einem Schienbeinbruch bis ins Ziel um einen Podestplatz kämpfte, wurde enttäuscht. Rossi wurde wieder gedemütigt und im Rennen von Suzuki-Solist Bautista und dem eigenen Teamkollegen Hayden gebügelter Neunter. Noch schlimmer war es im Training, nachdem er als 16. in der letzten Startreihe Aufstellung nehmen musste und nur noch Capirossi-Ersatz Sylvain Guintoli hinter sich hatte. Jetzt will Rossi die brandneue Ducati Desmosedici GP 11.1 schon wieder einmotten. Das Fahrwerk, das im Wesentlichen schon der 2012er-Tausender entspricht, erwies sich als Rohrkrepierer. Rossi und Konstrukteur Filippo Preziosi finden nach wie vor keine Lösung, weshalb Ducati jetzt im Prinzip wieder da anfängt, wo der erfolgreichere Casey Stoner im Vorjahr aufgehört hat.
Gleichzeitig steigt der Druck. Vielleicht blickte Valentino mit gewissem Neid auf den Fahrer, der am Start des Sachsenring-GP unmittelbar vor ihm stand und völlig unbeschwert aufdrehen konnte: Der 21-jährige MotoGP-Rookie Karel Abraham aus Brünn tanzte Rossi 2011 schon öfter auf der Nase herum, ohne die gewaltigen Investi-
tionen von gut fünf Millionen Euro für eine MotoGP-Saison mit entsprechenden Resultaten rechtfertigen zu müssen. Denn er ist der einzige MotoGP-Gentleman-Fahrer. Sein Vater, Karel Abraham senior, kann sich den Spaß auch ohne Sponsoren leisten. "Das ist mein Hobby", erklärt der steinreiche Unternehmer, der mit seiner Medizintechnik-Firma Cardion AB nicht vordergründig aus werblichen Gründen auf der Verkleidung des Sohnes vertreten ist, beim finanziellen Einsatz für den Rennsport "ohne Limit" spielt und bereits den Folgevertrag für die nächste Saison auf Ducati-Werksmaschinen in der Tasche hat. "Dabei kann ich als Vater eigentlich nicht einmal zusehen bei dem, was da draußen passiert", räumt er ein.
Es war auch keineswegs väterlicher Ehrgeiz, sondern der bis dahin begeistert Ski fahrende Sohn selbst, der mit elf Jahren anfing, um Motorräder zu betteln. Und selbst jetzt, wo Karel Abraham wohl auch anderswo als bezahlter Profi unterkommen könnte, gibt es für den Vater Wichtigeres als Gasgeben: "Kaja studiert Jura. Und wenn er schwänzt, fährt er auch nicht Motorrad."
Doch wenn er schon fährt, dachte sich Abraham senior, dann richtig. Als die Zeit reif war, klapperte der Senior so lang die GP-Teams im Fahrerlager ab, bis er einen Einstiegsplatz für den Junior gefunden hatte. Für die 125er-Klasse war der Halbwüchsige bald zu groß. In der 250er-Nachfolgeklasse Moto2 holte Karel Abraham 2010 seinen ersten GP-Sieg, und der nächste Aufstieg stand bevor. "Auf einem Erfolg musst du sofort aufbauen, statt mühsam versuchen, ihn zu bestätigen", so Abraham senior klar und deutlich, "denn wer weiß, ob dir der Erfolg dort, wo du bist, ein zweites Mal gelingt."
Eher vorm Gegenteil, dem bodenlosen Absturz, scheint der neunfache Weltmeister Rossi allmählich Angst zu entwickeln. Besonders geschwätzige Spatzen pfeifen derzeit von italienischen Dächern, der Doktor würde sich heimlich schon nach einem praktikablen Honda-Deal für die MotoGP-Saison 2012 umschauen. Auch Ducati soll das gemeinsame Projekt schon aufgegeben haben und mit dem stürmischen Junghelden Marco Simoncelli verhandeln. fk