Reportage: Porträt des Ducati-Werksfahrers Cal Crutchlow

Porträt: Ducati-Werksfahrer Cal Crutchlow Cal Crutchlow, der Mister Unterdog

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Ducatis neuer An­greifer Cal Crutchlow überwintert in Kalifornien und bereitet sich dort auf seine größte Herausforderung vor: die teuf­lische Desmosedici zu bändigen. PS-Mitarbeiter Mat Oxley fuhr mit dem Briten einen Tag spazieren.

Cal Crutchlow, der Mister Unterdog Wood
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Das könnte das Paradies sein. Wir haben eine nagelneue Hypermotard und eine Multistrada und wollen von L.A. landeinwärts fahren. Die Sonne taucht alles in helles Silber. Lass uns durch die Hügel ballern – ins Indianerland! Wie ein Mann, der ständig schnelle Entscheidungen trifft, schnappt sich Cal Crutchlow die Multistrada: „Wir touren, ich fahr kein Rennen.“ Der Junge ist ein besserer Straßenfahrer als die meisten Racer, mit denen ich bisher auf öffentlichen Pisten herumgerollt bin. Cal ist schnell, fährt rund und vorausschauend. Tut sich eine Lücke auf, schlägt er zu, rechts, links, und wenn es sein muss, auch mal mitten durch. Und an jeder Ampel zieht er im Wheelie davon.

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Das ist also das Leben eines MotoGP-Werksfahrers. So einer verbringt das ganze Jahr damit, in der Businessklasse um die Welt zu fliegen, steckt sich eine sieben­stellige Summe in die Tasche, auf dem Motorrad hockend und feixend flankieren ihn aufgemotzte Promo-Girls, Promis sonnen sich in seinem Ruhm, und dann fährt er noch irrsinnig gemeine Motorräder. Wenn das dann alles vorbei ist und sich in England der trübe Winter einnistet, haut so einer ab nach Kalifornien, um Sonne zu tanken, zu trainieren und ein paar Motor­räder zu fahren. Lebe den Traum!

Einziger Wermutstropfen – so einfach ist es nicht. Direkt unter der dünnen Glamourschicht des MotoGP kann es ganz schön hässlich sein, wie dickes, tiefschwarzes Blut unter einer sauberen Kruste. Am Sachsenring fuhr Crutchlow 2013 das beste MotoGP-Rennen seiner Karriere. Für einen Moment sah es so aus, als könnte er als erster Brite nach 32 Jahren mal wieder ein Rennen der Königsklasse gewinnen. Nachdem er Marc Marquez davongefahren war, verpasste er den Sieg nur um 1,5 Sekunden. Da schien ein Mann auf dem Gipfel seiner Fähigkeiten zu sein – zumindest sah es vom Sofa so aus.

41 Stürze in drei Jahren

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Viermal Podest 2013, zweimal Pole – eine sehr gute Bilanz.

Tatsächlich ging es Crutchlow mies an diesem Tag. Der ehemalige Supersport-Weltmeister war im Training schwer zu Boden gegangen und dann spektakulär durch den Kies gepurzelt. Beide Arme waren übel aufgerissen. „Heute lach ich darüber, aber ich hatte damals echt Angst“, erzählt Cal. „Ich habe mir verdammt wehgetan und noch nie so viel Schmerzmittel geschluckt. Ich sagte dem Team, ich will unbedingt fahren. Deshalb haben sie mir im Clinica Mobile Schmerzmittel gegeben und meine Arme verbunden. In meinem Wohnmobil bin ich dann ins Delirium gefallen, hab mich vollgepinkelt und danach die ganze Bude in Schutt und Asche gelegt. Lucy hat wie verrückt geschrien.“ Frau Crutchlow, eine Sportlehrerin, die Cal vor wenigen Wochen geheiratet hat, war außer sich. „Ich war panisch. Cal rastete völlig aus und hat mich angepinkelt.“

Der Brite ist einer der härtesten Typen im MotoGP. Das ganze Fahrerlager staunt über seine Elastizität, seine Fähigkeit, auch die wildesten Abflüge wegzustecken, auf einen Roller zurück zur Box zu springen und anschließend sofort mit dem Ersatzmotorrad noch schneller unterwegs zu sein – ganz egal, wie sehr sein Körper danach schreit, endlich damit aufzuhören. Für die Statistiker: Crutchlow hatte 41 ­Stürze in den letzten drei Jahren.

„Cal ist so ein kleiner Boxer-Typ – rein in den Ring und voll drauf los“, sagt Ian Newton, der in England die Aprilia Superteen-Serie betreibt, die Crutchlow 2001 mit 16 Jahren gewann. „Absolute Entschlossenheit war immer schon sein Ding. Er stürzte sich praktisch zu Tode, aber das schien ihn überhaupt nicht zu beein­drucken. Nur ganz wenige sind so gestrickt.“

Die Glücksträhne wird auf eine harte Probe gestellt

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41 Stürze in drei Jahren MotoGP sind gewaltig viele Einschläge, die Cal aber überraschend gut weg­gesteckt hat.

Nach einer halben Stunde auf den kalifornischen Freeways wird die Straße enger und windet sich mal hier und dorthin an ausgewaschenen Hügeln vorbei, die wie eine Western-Kulisse aussehen. Crutchlow hat die Straße voll im Griff, mit perfektem Timing für blinde Kurven überholt er die Autos, wann immer es geht. Wir kommen sehr zügig voran. Auf dem Straßenschild steht etwas vom Pala Reservat. Hier leben die Cupan-Indianer, seit man sie 1903 von ihrem Heimatland vertrieben hat. Irgendwie hoffe ich, Rauchzeichen am Himmel zu sehen, ein paar Tipis und Krieger, die ihre Tomahawks schwingen. Stattdessen kommen wir an einem gigantischen Casinohotel wie in Las Vegas vorbei.

Die Uramerikaner besitzen Souveränität in ihrem Reservat, weshalb US-Gesetze sie nicht abhalten können, sehr profitable Spielhöllen zu betreiben – wie eine unbeabsichtigte Entschädigung für die schlimmen Verfehlungen vergangener Jahrhunderte.

Crutchlow ist auch ein Spieler. 2011 ließ er einen lukrativen Deal mit Yamaha in der Superbike-WM platzen, um alles auf MotoGP zu setzen. Jetzt macht er seinen größten Einsatz, indem er von der karriereförderlichen Yamaha M1 auf Ducatis karrierezerstörende Desmosedici umsteigt. Das Bike, das schon Valentino Rossi und andere zur Strecke gebracht hat.

Rossis Sturzrate verdreifachte sich, nachdem er 2011 bei Ducati angeheuert hatte. Da könnte Crutchlows Glückssträhne in den nächsten zwei Jahren also auf eine sehr harte Probe gestellt werden. Aber der kleine wütende Boxer ist nicht beunruhigt. „Ich habe keine Angst vor Schmerzen“, sagt der 28-Jährige. „Selbst jetzt habe ich eine Schulterverletzung. Aber man denkt: Scheiß drauf, wenn das alles ist, womit ich mich rumschlagen muss bei etwas, dass ich so sehr liebe. Die Schulter tut weh, aber was kann ich tun? Es ist meine Art zu leben, da denkt man nicht groß darüber nach. Das ist wie bei Jorge Lorenzo, als er 34 Stunden nach seinem Schlüsselbeinbruch in Assen das Rennen fuhr. Für uns Rennfahrer ist das normal, auch wenn es anderen Angst macht.“

"Ich mag die Rolle des Underdogs"

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Noch grinste Andrea Dovizioso freundlich, als er seinem künftigen Teamkollegen zum Ducati-Deal gratulierte. Aber Cal wird alles geben: "Ich fahr doch nicht nur so rum, wie Dovizioso."

Für normale Menschen macht das gerade noch Sinn, seinem Körper so etwas zuzumuten, wenn man dafür ordentlich Kohle bekommt, um den Rest seines Lebens ohne Geldsorgen verbringen zu können. Aber was passiert, wenn man einige Millionen verdient, ein schönes Haus und noch dazu eine hübsche Frau hat? Da muss man doch daran denken, das gute Leben zu genießen und nichts mehr zu riskieren, oder?

Crutchlow ist nun ein hoch angesehener und üppig entlohnter Werksfahrer – verdientermaßen. Gerüchte sprechen von über sieben Millionen Euro, die ihm Ducati bezahlt – genug für ihn und Lucy bis ans Ende ihrer Tage. Crutchlow widerspricht aber vehement jedem Verdacht, er könne deshalb nachlassen und weniger riskieren. „Ich bin überhaupt nicht besorgt, weich zu werden. Ich fahre solange ich es genießen kann, denn du vergisst nie dieses Gefühl, wenn dir etwas richtig gelingt oder du ein gutes Ergebnis einfährst. Egal, was die Leute sagen: Ich bin nicht wegen des Geldes zu Ducati gegangen. Ich bin dahin, um es den Leuten zu beweisen. Es kann nichts Schöneres geben, als dort etwas zu erreichen. Auf einer Yamaha erwarten die Leute, dass du vorn dabei bist, aber bei Ducati? Ich mag die Rolle des Underdogs und ich bin immer am besten, wenn mich niemand auf der Rechnung hat. Aufgeben gibt es für mich eh nicht. Aber versteh mich nicht falsch: Wenn es gar nicht läuft, schlägt das auch auf mein Gemüt.“

Exakt das ist ihm schon passiert. Als er vom Yamaha-Werksteam in der Superbike-WM zum Tech3-Satelliten-Team von Hervé Poncharal wechselte. „Ich wollte der Beste sein, und die Besten sind im MotoGP. Es gibt Superbike-Piloten, die sagen, dass sie da nicht hin wollten, aber das tun sie – glaub mir. Entweder bekommen sie aber nie die Chance oder sie möchten das Risiko nicht eingehen. 2011 hab ich alles auf eine Karte gesetzt. Nach vier MotoGP-Rennen habe ich dann aber gefragt, ob ich wieder zurück kann. Ich konnte das Bike nicht fahren, alles war irgendwie falsch. Ich war eine Situation überhaupt nicht gewöhnt, in der ich nicht wusste, was ich tun soll. Bis dahin hatte ich immer alles unter Kontrolle. Im MotoGP gab es Fahrer, die ich für absolute Flaschen hielt. Ich erinnere mich, wie ich dann versuchte, an denen dranzubleiben. Nach drei Runden waren sie weg. Das waren Jungs ganz hinten im Feld, keine Heroes.“

Aufgeben? Pah!

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Tech3-Teamchef Hervé Poncharal und Crutchlow sind sich in drei Jahren nähergekommen: „In Laguna Seca habe ich Hervé aus dem Wohn­mobil geworfen, heute sind wir Freunde.“

Nach einer Reihe von Moral-erschütternden Resultaten und schmerzhaften Abflügen schien alles in sich zusammenzufallen. Die Sache wurde immer brenzliger. „In Laguna hatten Hervé und ich einen Mega-Streit. Ich sagte ihm, er solle einen anderen anheuern und warf ihn sogar aus meinem Wohnmobil. Das war schon lustig, er hatte gar keine Schuhe mehr an. Heute betrachte ich ihn als echten Freund.“

Ab da wurden seine Rennen besser. „Wir Fahrer denken immer, wir wüssten alles besser. Man muss Fehler machen, um dahinterzukommen, wie es geht. Jorge ist in seiner ersten Saison zehnmal über den Lenker, bevor er es kapiert hatte. Ich habe schließlich auf Yamaha gehört, ab da klappte es.“ Crutchlows ersten beiden Podiumsplätzen 2012 folgten vier weitere in der Saison 2013 inklusive zweier Pole Positions, weshalb Ducati schließlich bei ihm angeklopft hat.

Jetzt ist er also Multimillionär. Das aber merkt man ihm nicht an. Stargehabe und Arroganz sind ihm fremd. Crutchlow ist ein britischer Troy Bayliss: schnell, lustig und mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Und er ist, wie Bayliss, vom Radfahren besessen. Cal spult täglich 100 Kilometer ab, sechs Mal die Woche. Nicht nur um sich fit zu halten. Er liebt es einfach und hat, wie so viele Racer, eine masochistische Ader. „Ich bin ein Sturkopf und leide ganz gern. Ich quäle mich bis zum Erbrechen und mag den Gedanken, es geschafft zu haben. Wenn ich ab und zu mit Profi-Radlern fahre, leiden die natürlich nicht so sehr wie ich, aber wenn ich sie dabei etwas rannehmen kann, ist es mir das wert. Da kommt wieder dieses Underdog-Ding durch. Aufgeben? Pah! Wenn es 50 Grad hat und vor mir steht ein riesiger Berg, dann radel ich da hoch – fertig.“

"Meine R6 war das beste Bike"

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Mit seiner Lieblings­maschine wurde der Brite 2009 SSP-Welt­meister.

Auf dem Motorrad sind Berge kein Problem, und Crutchlow genießt die Multistrada Pikes Peak. Bald wird er so eine auch in seinem Ferienhaus in der Toskana haben, neben einer Panigale und einer Diavel. Das ist eine Ironie des Lebens: Je mehr Geld du verdienst, desto mehr gibt’s umsonst. Und es sind nicht nur Motorräder. Dass Ducati Audi gehört beschert ihm freie Autos – Cal hat einen RS7 und Lucy einen Q7. Tatsächlich besaß Cal schon früher eine Ducati. „2008 kaufte ich mir zum Spaß eine Hypermotard, für Wheelies und so. Dann hab ich Lucy beinahe hinten abgeworfen und musste die Duc verkaufen.“

Sein Lieblingsmotorrad ist aber weder eine Ducati noch ein MotoGP-Bike. „Meine R6 war das ­beste Bike. Ich mag die GP-Motorräder nicht, es macht keinen Spaß, die zu fahren. Ich sag nicht, dass man sie nicht auch genießen kann, aber sie sind so viel schwieriger zu fahren. Die R6 hat Spaß gemacht. Da hatte man Zeit zum Denken – man fährt in Phillip Island die Gerade runter und freut sich ein Loch. Auf dem GP-Bike rackerst du dich ab, damit es im sechsten Gang nicht wheelt.“

Wenn Sie beim nächsten Mal MotoGP-Schauen auf Crutchlow und Co. wieder neidisch werden, denken Sie nochmal nach – es ist kein leichter Ritt, weder auf, noch neben dem Motorrad!

Lebenslauf

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"Ich habe keine Angst vor Schmerzen. Für uns ist das normal, auch wenn es andere Leute erschreckt." Cal Crutchlow, Ducati-MotoGP-Werksfahrer

Geboren: 29.10.1985, Coventry, GB, verheiratet mit Lucy seit 2013, keine Kinder. 

2013: 5. MotoGP-WM, Tech3-Yamaha  
2012: 7. MotoGP-WM, Tech3-Yamaha 
2011: 12. MotoGP-WM, Top-Rookie, Tech3-Yamaha 
2010: 5. Superbike-WM, Yamaha R1
2009: Supersport-Weltmeister, Yamaha R6 
2008: 3. British Superbike Championship 
2007: 9. British Superbike Championship 
2006: Britischer Supersport-Meister
2005: 3. British Supersport Championship 
2004: 10. British Supersport Championship 
2003: Vizemeister Virgin Mobile Yamaha R6-Cup 
2002: 4. Junior Superstock Championship 
2001: Meister der Aprilia RS 125 Challenge 
2000: 5. Aprilia RS 125 Challenge 
1999: Meister der UK Junior Challenge

Kann Cal die Ducati bändigen?

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Kann Cal aber die Ducati bändigen?

Einfache Antwort: nein. Crutchlow hat das nach dem ersten Test auf der Desmosedici im November sehr schnell einsehen müssen. „Ich habe nichts erwartet, nichts Schlechtes und nichts Gutes“, erzählt er. „Ich war nur zufrieden, dass ich die gleichen Rundenzeiten wie mein Teamkollege Andrea Dovizioso gefahren bin, was zeigt, dass das die Rundenzeiten sind, die man mit diesem Motorrad hinlegen kann. Willst du mehr, kommst du keine Runde weit.“

Und Crutchlow weiß, wovon er spricht. Er hat es versucht. „Ich wollte die Ducati so fahren, wie ich meine Yamaha gefahren bin. Acht Ecken ging das gut, dann rutschte mir das Vorderrad weg und ich bin gestürzt.“ Nein, die Ducati muss nicht gebändigt, sie muss ganz neu aufgebaut werden. Das passiert gerade. Gigi Dall’Igna – Mastermind des Aprilia-Erfolgs in der Superbike-WM und der MotoGP-CRT-Klasse – arbeitet gegenwärtig hart an Ducatis GP14. Die Tatsache, dass sein RSV4-angetriebenes CRT-Bike ständig die Werks-Ducatis ärgern konnte, trotz fast 30 PS weniger, spricht dafür, dass der Italiener das Abrakadabra beherrscht, mit dem man die Bridgestone-Einheitsreifen zum Arbeiten bringt. Was wohl aber nicht einfach wird.

„Da stimmt nicht nur etwas nicht an der Ducati“, sagt Cal. „Die müssen sich um ganz viele Dinge kümmern. Das Bike dreht zu viel hinten durch, es wheelt ständig, es fährt nicht gescheit durch die Kurven. Die müssen sich das ganze Paket anschauen, aber darin ist Gigi sehr gut. Über Nacht geht das nicht. Schau dir Honda an! Es hat Jahre gebraucht, bis sie wussten, wie man bremst, während Yamaha die Hondas ständig auf der Bremse abgeledert hat. Jetzt ist es anders herum.“

Am 4. Februar sitzt Crutchlow in Sepang wieder im Sattel der Desmosedici. Selbst wenn das Motorrad dann immer noch nicht besser ist, will er sein Bestes geben. „Ich bin doch nicht wie Dovi und fahr da einfach nur so rum.“ Selbstbewusstsein allein wird aber auch nicht reichen.

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