Niemals wird dieses Bild verblassen: Die selbst restaurierte R 25/3 macht es sich im Vierten so richtig gemütlich, Uwe auf der Horex schnurrt leicht nach rechts versetzt voraus, Lichtflecken tanzen in den Laubbäumen neben der Straße. Er hat seinen Kumpel abgeholt, sie wollen zum Motorradfahrer-Gottesdienst nach Waldbröl. Schon Hunderte Male ist Markus Bittcher hier langgefahren, mit dem Auto, mit dem Motorrad, und er könnte wetten, jede Kurve dieser Kreisstraße auswendig zu kennen. Trotzdem verträumt er den leichten Rechtsschwenk. Dort, wo er nun normalerweise – und schlimm genug – geradeaus in die Wiese holpern würde, kommt ausgerechnet in diesem Moment ein Auto.
Dieser eine winzige Moment ...
Dieser Moment. Durch den Frontalaufprall beschleunigt der Kopf wie irrsinnig, wird nach vorne geschleudert, zerbröselt den fünften Nackenwirbel. Der sechste bricht. Markus hört es knacken, bleibt bei Bewusstsein. Der sofort alarmierte Notarzt kennt sich aus und macht alles richtig: Per Hubschrauber wird Markus von der Unfallstelle im Oberbergischen Kreis direkt ins Querschnittzentrum nach Bochum geflogen. Arme und Beine fühlt er nicht mehr. Auch nicht am nächsten Tag. Aber er darf hoffen, denn das Rückenmark wurde nicht durchtrennt, sondern nur gestaucht und gedehnt. Bis zu zwölf Wochen braucht der Körper manchmal, um derart gestörte Verbindungen wieder aufzubauen. Nach 13 Wochen kann Markus seine Arme und Hände sehr eingeschränkt, die Finger jedoch gar nicht bewegen. Vom Rest seines Körpers spürt er halsabwärts nichts. Dieser eine winzige Moment...
BMW R 35, MZ ES-Gespann, BMW R 12, IFA RT 125, ...
Heute liegt Markus vor seinem Laptop und berechnet die Strömungsverhältnisse von Pkw-Belüftungssystemen. Diesen Job hat er vor dem Unfall, acht Jahre ist das her, auch schon gemacht. Der gelernte Maschinenschlosser und Maschinenbau-Ingenieur hatte sich bereits als Student der Lüftungs- und Strömungstechnik gewidmet, ein großer Automobilzulieferer lockte irgendwann mit guter Position und Home Office. Prima Sache für jemanden, der seine Heimat liebt und dort, bei Familie und Freunden, fest wurzelt. Auch als Motorradrevier haben Markus die munteren Hügel zwischen Rothaargebirge und Bergischem Land stets begeistert, auf der flottgemachten BMW R 80 R ebenso wie auf diversen Klassikern.
Der Uwe habe ihn schon während des Studiums mit diesem alten Schrott infiziert, lacht der 47-Jährige und zählt auf: BMW R 35, MZ ES-Gespann, BMW R 12, IFA RT 125 – es kommt einiges zusammen, was unter seinen Händen wieder flott und wieder schön wurde. Die IFA BK 350 hat er beinahe vergessen. Wahrscheinlich, weil bei der ständig die Kerzen verölten. Ach ja, den Verkauf der hübschen R 35, den hat er damals bereut. Aber wenige Wochen später, da steht sie beim Toyota-Händler im Dorf. Zum Verkauf. Markus hat nicht lange überlegt – und unterm Strich einen kleinen Gewinn gemacht. Er engagiert sich im BMW-Einzylinder-Forum, fährt zu Rallyes und Treffen, ist anlässlich eines runden BMW-Geburtstags schon im Festkorso quer durch München gekreuzt. Markus erzählt wie alle, die Motorräder lieben. Nur eben liegend.
Rolli-tauglicher Seitenwagen
Das Sitzen nämlich fällt ihm schwer bisweilen. Eine Druckstelle. Und er wollte seinen Körper heute doch für die Ausfahrt schonen. Mit einem Lift bugsiert ihn Annett, seine Frau, nun in den Rollstuhl, per Fahrstuhl geht es hinunter in die Garage seines rollstuhlgerecht umgebauten Hauses. Ebene Strecken schafft Markus allein, rollt auf seine R 51/3 zu. Selbst restauriert. Die Pflegeversicherung zahlt ihm einen Assistenten für die Freizeit. Der eine hat beschrieben, der andere hat gemacht. Ein paar Stunden pro Woche nur, aber über die Monate hat es gereicht. Alex war meine Hände, sagt Markus und strahlt das blitzblanke Ergebnis ihrer gemeinsamen Arbeit an. Parallel entstand am Computer die Konstruktion eines Rolli-tauglichen Seitenwagens. Der sollte stilistisch zur Nachkriegs-BMW passen, außerdem von hinten befahrbar und mit einem Haltebügel versehen sein, an dem Stuhl plus Passagier fixiert werden. Den Unterbau stellt ein stark verbreitertes Steib-Fahrgestell, der Bootskörper besteht – wie alte Segelflugzeuge – aus einer bespannten Alu-Rohrkonstruktion. Annett hat dafür etliche Betttücher ihrer Oma geopfert, dann kam Kleber auf die Rohre, an allen Ecken und Enden wurde kräftig gezogen, danach hat sie mehrere Schichten Spannlack aufgetragen, der sich beim Aushärten zusammenzieht.
Die Welt wurde wieder etwas runder

Und nun schiebt Annett ihren Mann von hinten ins Boot, rückt die Auffahrrampen hochkant an die Flanken, setzt Markus die Halbschale auf, verzurrt alles. Tupfen? Klar! Annett tritt den Kickstarter durch. Noch mal tupfen! Jetzt kommt der Boxer, aber es dauert eine Weile, bis er in stabilen Leerlauf fällt. Ihn stört das, sie weniger. Annett dreht fröhlich am Gas, muss die Kupplung einige Meter schleifen lassen, damit das große Gespann – 1,40 Meter Spurbreite – gegen die kleine Steigung in Fahrt kommt.
Sie haben sich drei Jahre nach dem Unfall kennengelernt. Annett teilt die Freude am Alteisen. Und sie teilt in Freude ihr Leben mit Markus. Der hat nach dem Unfall nie gefragt: Warum ich? Sondern immer: Wofür? Wenn er auf Annett schaut, meint man, eine seiner Antworten zu kennen. Und auch die anderen haben meist mit Menschen zu tun, mit der Familie, den Freunden, Alex, den Einzylinder-Kumpeln aus dem Forum. Erst auf dieser Basis konnte der Wunsch nach einem Gespann keimen.
Bei der Probefahrt, sagt Markus, sei seine neue Welt wieder ein Stück runder geworden: Ahhh, Fahrtwind, endlich wieder Fahrtwind. Der wirkt auch heute, denn spätestens als Annett in den dritten Gang schaltet, hat Markus diesen blöden, unwilligen Leerlauf vergessen. Er dreht seinen Kopf nach links und ruft seiner Frau etwas zu. Beide lachen.