Es ist der zweite Samstag im Oktober 2013. Ein wolkenlos blauer Himmel überspannt ein weitläufiges, parkartiges Areal in Birmingham. Nicht in England, sondern in Alabama, USA. Es ist ein warmer Südstaaten-Morgen am Barber Motorsports Museum, der größten Zweirad-Ausstellung weltweit. George Barber, reicher Molkerei-Besitzer und Ex-Porsche-Rennfahrer, erfüllte sich seinen Traum: „Die Geschichte des Motorrads aus globaler Perspektive zu betrachten.“ Dafür schuf er eigens ein Museum, das rund 1350 Motorräder besitzt, 700 bis 800 davon ständig zeigt.
Und das einmal im Jahr beim Vintage Festival zum Epizentrum der US-Klassiker-Szene wird. Mit Rennen auf der herrlichen, 3,7 Kilometer langen Rennstrecke. Ihr flüssiger, raffiniert angelegter Kurvenverlauf inmitten grüner Wäldchen begeistert. Hinzu kommen Technik-Seminare, der Blick in die sonst unzugängliche Museums-Werkstatt, Sonder-Ausstellungen, Classic-Trial und Motocross, Auktionen, Flohmarkt und vieles mehr. Ein Programm der Superlative. Besucher aus allen 50 Bundesstaaten der USA pilgern zum Mekka des Motorrads.
Halb acht, das Festival öffnet mit dem „Swap Meet“, Tausch- und Teilehandel. Der Flohmarkt rund um zwei Räder offeriert Nippes und Kleidung, Werbeplakate und Kunstdrucke. Was darf’s sein, Ersatzteile oder Motorräder? Champion-Zündkerzen, Harley-Luftfilter aus den 40er-Jahren oder originalgetreue Auspuffanlagen? Sächsische Heidenau-Reifen, das Stück ab 60 Dollar, genießen in Amerika Kultstatus. Mitten in Amerika gibt’s nicht nur US-Bikes, sondern auch Vespa-Roller aus Italien oder Turbinen-Hondas aus Japan: gepflegte CX 500 und 650 Turbo stehen zum Verkauf.
Zeit mitbringen und Englisch sprechen

Man muss Zeit mitbringen und sollte Englisch können. Immer wieder sprechen dich aufgeschlossen-kontaktfreudige Amerikaner aktiv an, wenn du bloß schaust: „How are you?“ Die sehr relaxten US-Boys halten gern lange Gespräche mit dem „German“. Loben die geniale Grundkonstruktion des BMW-Zweiventilboxers oder schwärmen von einem Zündapp-Gespann KS 600. Auffallend freundlich die Leute. So wie Rick am Stand von „R3 Racing“ aus Wisconsin hoch im Norden. Er erzählt von kurzer Motorradsaison und langen Wintern mit Schneemobilen statt Zweirädern.
Rick kann etwas Deutsch, war vier Jahre mit der Army in Stuttgart; seine Frau stammt aus Bremerhaven. Er hat eine CB 350 Four „for sale“. Für 1600 Dollar, rund 1200 Euro scheint sie glatt eine Sünde wert. Okay, offene Vier-in-vier-Auspuffanlage, Höckersitzbank und Lenker der reinen Rennmaschine sind Eigenbau-Kreationen. Aber sie hat was, die kleine Rote. Beleuchtung und fehlende Originalteile wären vorhanden. Stolz schmeißt Rick den brüllenden Vierzylinder mit den kleinen Kölbchen an, demonstriert feine Gasannahme und stabilen Leerlauf. Not bad.
Weiter schlendern, weiter staunen. Terrassenartig ist das Fahrerlager der wie ein Golfplatz äußerst gepflegten Rennstrecke angelegt. Überall dröhnen Motoren. Es röhrt und röchelt, stampft und bebt an allen Ecken und Enden. 750 Teilnehmer spulen in diversen Klassen ein Rennwochenende der AHRMA ab: Die American Historic Racing Motorcycle Association hat fast 4000 Mitglieder. Etliche davon sind hier, fahren auf Typen von vor 1940 bis hin zu Superbikes der späten 80er-Jahre à la Ducati 888 und Yamaha FZ 750 in nationalen Rennserien um die Wette.
Die Rennen der AHRMA

Die Renn-Amazone Wendy Newton schraubte Stunden an ihrer Ducati herum, einer 350er-Straßenrennmaschine mit Königswelle. Vergeblich. Ein Loch im Kolben des Einzylinders kündet von falschem Zündzeitpunkt oder zu magerem Gemisch. Fast eine Woche brauchte die 48-jährige Kalifornierin für die Anreise mit Anhänger, vom Pazifik bis nach Alabama. Alles für die Katz? Nein, ein Racer-Kollege von der AHRMA leiht ihr kurzerhand seine Honda „Ascot“ 500. Deutsche kennen sie als FT 500.
Das hässliche, treue Entlein mit Radial-Single hat in den USA viele Fans. Weshalb, verrät ein Besitzer: „Ich habe 1000 Dollar fürs Motorrad bezahlt, nochmal 1000 Dollar für bessere Bremsen und Federelemente und fuhr damit 127 Rennen.“ Nun darf Wendy damit ran, den Zopf wild hinterm Helm wehend. Verwegen geht es bei den „Lost Boyz“ zu. Bob erklärt: „Wir hängen gemeinsam ab, haben viel Spaß und versuchen nicht erwachsen zu werden.“ Nun, Bob ist Mitte 40. Fast so alt also wie seine Honda CB 160 von 1966. Sie hat einen 175er-Twin, Tuning-Pleuel, andere Kolben und leichtere Ventile, hitzefest gemacht per Ölkühler. Gute Exemplare hätten rund 20 PS. Besonders bunt, diese Bonsai-Bikes. Da dient schon mal eine Millers-Bierdose als Auffangbehälter der Kurbelgehäuse-Entlüftung, prangt ein Peace-Zeichen auf dem Tankdeckel. Bob freut es, wie „locker und sozial“ alles ist, wie einfach die Mini-Hondas „zu verstehen und zu warten“ sind. Sie starten spektakulär in Le Mans-Manier. Im Rennen haben die nicht immer zierlichen Fahrer auf den Geraden eine Menge Zeit.
Eine Klasse für sich: Historische Harleys und Indians, Ex-Board Tracker aus den 30er- bis 50er-Jahren, beharken sich auf der Strecke, tragen einstigen Zwist erneut aus. Gel(i)ebte Rivalität. Ihre Fahrer gasen engagiert an, nehmen die Rennen ernst. Doc Batsleer aus Florida fährt seit 1979/80 Rennen auf Indian. Der 69-Jährige brachte sieben Motorräder mit, alle technisch gut, aber optisch mit ehrlicher Patina. Und mit Startnummer 35. Motorräder aller Art, Alter und Erhaltungszustände stehen im Fahrerlager und auf den riesigen Parkplätzen nebeneinander.
Gold Wing mit Benzinpumpe, Kompressor, Sechskolbenbremsen
Selten: Eine Indian 841. Ihre Zylinder stehen nach links und rechts ab, die Kurbelwelle liegt längs. Die Kardan-Maschine war einst im Militär-Dienst, zur Erprobung bei der Army. Nebenan parkt ein zerstürzter AJS-Single neben V2- wie V4-Sportlern von Buell und Aprilia, sind Triumphs aus Meriden, Hinckley und Thailand vereint. Gold Wings mit Anhänger sind nicht selten. Schon mal eine Motus MST-R mit V4-Motor live gesehen? Hier stehen gleich drei, Heimspiel für die Maschinen aus Alabama.
Randall Washington von der Firma Randakk’s motzte eine Gold Wing 1000 mit Benzinpumpe, Kompressor, Sechskolbenbremsen und vielen Tuning-Parts auf. Noch ausgefallener: das „Alligator“-Motorrad mit tiefstmöglichem Sitz und Fußrasten weit vorn – quasi ein Liegerad mit 650er-Honda-Single. 36 davon baute Dan Gurney, zwei parken vorm Museums-Eingang. Ehrensache: Ein weiteres Exemplar steht in der Ausstellung. Diese Häufung an gepflegten Verrücktheiten! Dazu gehören auch die mehr oder weniger ästhetischen Skulpturen an verschiedenen Plätzen des Parks, bis hin zu Motorrad-verschlingenden Ameisen.
12 Uhr, high noon. Mittagspause. Eine riesige US-Flagge wird gehisst. Aus Lautsprechern tönt die amerikanische Nationalhymne, live intoniert von einer Sängerin mit großer Stimme. Alle halten inne, fassen sich mit der rechten Hand ans Herz. „God bless America.“ Dazu passt die aufblasbare Kirche (!) im Außengelände. Dann folgt das absolute Highlight: Das „Century Race“, für Maschinen, die mindestens 100 Jahre auf dem Buckel haben. Die rund ein Dutzend Fahrer nehmen’s mit Humor. Einer bringt, dem Anlass angemessen, ein künstliches Skelett mit zum Vorstart.
Ein rollendes Museum
Das ist wirklich ein rollendes Museum. Um nur die wichtigsten Methusalems zu nennen: eine 1906er-Griffon-Twin, ein 1909er-Einzylinder von Excelsior, 1911er-Singles von Indian und Triumph, eine Abbington King Dick und eine Flanders, beide von 1912, sowie eine Dixie Flyer Special und eine Rudge Multi von 1913. Letztere wird Dritte, ist Star der Firma Reters Restorations. Der 499-Kubik-Single sieht aus wie am ersten Tag, soll mit 85er-Bohrung und 88 Millimeter Hub 7,5 PS bei 2000 Touren leisten.
Später stehen fünf schwarze 500er-Rudges aus den 30er-Jahren beisammen. Solch eine Massierung ist so beeindruckend, dass George Barber höchstpersönlich vorbeischaute. Das berichtet David Sproule aus Kanada, einer der Fahrer stolz. Dann gesellen sich der Rudge-Experte Ingo Reters und seine zwei Söhne Stan und Peter dazu. Die Reters‘ stammen aus Düsseldorf, wanderten 1980 nach Kanada aus. Peter (21) fährt hier ein Motorrad, das mehr als dreimal so alt ist wie er selbst. Kauzig: Rodi Beno (66), mit grauem Bart wie Leder. Er bewegt und wartet drei Nortons: zwei Manx 500 sowie eine echte Kuriosität, einen 750er-Parallel-Twin aus der P 11 in einem echten Enduro-Chassis. Mit langen Federwegen, Speichenrädern und 21-Zöllern vorn. Dazu in rot-gelbe Plastikteile gehüllt. Rodi kaufte die P 11 im Jahr 1967 neu, fährt seither Straßen-und Enduro-Rennen. Mehr als 100 allein 2013! Alles andere als alltäglich: eine Penton-Enduro, stilecht mit Twin-Shocks, grünem Tank und Sachs-Zweitaktmotor.
Schön: eine 68er-BSA Lightning in gutem Zustand. Hier bekommt man an einem Wochenende mehr geboten als sonst in einer ganzen Saison. Nicht verpassen: Fallschirmspringer und Flugshow. Sehenswert: Steilwand-Artisten auf ihrer Jahrzehnte alten Indian. Irre: Im „Globe of death“ umkreisen sich die Crosser, als gäbe es keine Schwerkraft. Es hat etwas von Volksfest, mit eimerweise Popcorn. Lieber ab in den Pub, ins Ace Cafe à la London. Ein kostenloser Tram-Service – offene Anhänger mit Sitzbänken hinter Pick-up-Trucks – bringt die Schaulustigen von Attraktion zu Attraktion. Der Vintage Japanese Motorcycle Club (VJMC) kümmert sich nicht nur um historische Maschinen der vier verbliebenen Marken Nippons, sondern auch um Motorräder von Fuji, Tohatsu, Marusho/Lilac, Rikuo, Hodaka und Bridgestone. Rat und Tat für japanische Exoten also, deren Zungenbrecher-Namen so unvergessen bleiben.
Replik der Hildebrand & Wolfmüller bewundern

Nächster Stopp: das Museum. Die Replik der Hildebrand & Wolfmüller bewundern und die Flying Merkel – einen Sieben-PS-Twin aus Ohio, gebaut 1913. Anspruchsvoll sind die technischen Seminare. Die Kursleiter geben Hilfestellung, verraten Tricks und Tipps rund um Restaurierung, Motorüberholung, zeitgenössische Leistungssteigerung oder Korrosionsschutz. Rasch noch mal rüber zur Motorrad-Auktion. Ausgefallene Stücke warten.
Wie die Indian Camelback von 1905 mit 2,25-PS-Einzylinder-Motor und buckligem Kamelhöcker-Tank überm Hinterrad. Sie landet für 54000 Dollar unterm Hammer. Plus zehn Prozent Kommission für den Auktionator. Schnäppchen? Eine 1978er-Triumph Bonneville, Zustand 3, für nur 2500 Dollar. Eine 1997er-Ducati des weltbekannten australischen Tuners Vee Two erscheint für 5400 Dollar kaum zu teuer. Und die Harley-Davidson Dyna Wide Glide von 1999 für 4600 Euro klingt sogar nach einem guten Geschäft. Da könnte man fast schwach werden. Doch Transport und Zoll wären danach große Hürden...
Die Atmosphäre erinnert an die weltgrößten Motorrad-Auktionen in Las Vegas. Bis um 18 Uhr das seit zehn Stunden geöffnete Museum schließt, die vorher übervollen Parkplätze sich wieder leeren. Im Fahrerlager riecht es nach BBQ. Fahrer jeden Alters diskutieren über Ideallinie(n), Überhol-Aktionen und Motoren. Zikaden zirpen lautstark wie im Sommer. Jemand erzählt von Freitagabend, von „motorcycles by moonlight“. Da war das Barber Museum bis zehn Uhr offen. Aber nur für die Gäste des Gala-Dinners zu 150 Dollar.
Dafür gab’s gutes Essen. Plus interessante Einblicke in Leben und Werk der Motorrad-Designer Miguel Galluzzi und Pierre Terblanche. Sir Alan Cathcart, weltbekannter Motor-Journalist, interviewte die Schöpfer von Ducati Monster und 999. Am Samstag wiederum fährt Alan eine BMW Formula 750. Charme und bunte Mischung zeichnen das Barber Vintage Festival aus. Sonntags lichten sich die Reihen früh: 60000 oft interessante Motorradmenschen haben mitunter noch weite Wege vor sich.