Hier fühlt es sich an, als würde man über den Rand der Welt hinausschießen.“ Das breite Grinsen unterstreicht die fast hysterische Begeisterung in der Stimme. Plötzlich wird er still. Kein Lächeln mehr. Seine Augen folgen der Straße über die Kuppe ins Ungewisse.
Richard Quayle, genannt Milky, sitzt in Gedanken auf seiner 1000er und fegt den Bray Hill hinunter. In einer fliegenden Runde bedeutet das sechster Gang ausgedreht. Erst die Palme rechts im Vorgarten als Referenzpunkt anvisiert. Dann sofort das Bike kraftvoll links in Richtung Tannenbaum am Gehweg gedrückt - Gas stehen lassen! Volle Kompression. Bumm! Der Verkleidungskiel und der Auspuff schlagen auf den Asphalt.
Milky zuckt kurz, um diesen Tagtraum abzuschütteln. Das Grinsen kehrt schlagartig zurück. „Das ist einfach mega!“ Wir sitzen in einem Smart und haben unsere erste Runde über den 60,66 Kilometer langen Mountain Course, die Tourist -Trophy-Rennstrecke auf der Isle of Man, gerade erst begonnen. Aber längst ist -Milky in seinem Element. Die TT ist für den rothaarigen Manx-Man, wie sich die Inselbewohner selbst stolz bezeichnen, alles. Er ist hier geboren, hat als Junge schon davon geträumt, hier zu fahren, und 2002 als letzter Einheimischer ein TT-Rennen gewonnen.
Doch dann hatte er diesen furcht-baren Highspeed-Crash. Das war der -Moment aufzuhören. Losgelassen hat ihn die TT aber nicht. Heute bringt der 39-Jährige mit dem ewigen Lausbubengesicht Neueinsteigern bei, wie man die schnellste Piste der Welt so schnell wie möglich fährt. Nirgendwo gibt es so viel Highspeed-Anteil, erreicht man solche Durchschnittsgeschwindigkeiten wie auf der Isle of Man. Der bisherige Rekord liegt bei über 211 km/h. Im MotoGP ist alles über 170 km/h schon verdammt schnell. „Dieses Jahr wird es einen neuen Rekord geben“, ist sich Milky sicher.
Bis Ballacraine
Bray Hill, wenige Meter nach dem Start, ist das erste wichtige Stück auf der Runde. Drei Stellen sind für Milky aber Schlüssel für die ganz schnellen Zeiten. Ballagarey - eine brutal schnelle Kurve ziemlich am Anfang, Quarry Bends - eine wilde Kurvenfolge in der schwierigen Sektion bis Sulby, und Guthrie’s Memorial - ein haariges Eck auf dem Weg hinauf in die Berge. Bei einer nahezu perfekten Runde kommen noch Hunderte mehr dazu. Insgesamt 260 Kurven warten auf die Fahrer. „Es ist viel komplexer, als sich Kurven einzuprägen“, erklärt Quayle.
Die TT ist ein Langstreckenrennen - im Senior TT-Rennen geht es über sechs Runden. Außerdem kämpft der Fahrer gegen sich und den Kurs allein, denn gestartet wird einzeln im Zehn-Sekunden-Takt. An einen dranhängen, abwarten, auf den richtigen Moment lauern, all die Tricks von normalen Rennen auf normalen Rennstrecken - bei der TT funktioniert das nicht. Es geht um höchste Konzentration und vollen Angriff, sobald der Marshal am Grand Stand in Douglas seine Hand von der Schulter nimmt.
Dann warten da eine Menge Bäume, die alles in schummriges Licht tauchen, immer wieder die grelle Sonne, windige Ecken und Millionen Insekten. „Den -Geruch von den toten Viechern in den Belüftungsschlitzen meines Helms werde ich nie mehr vergessen“, lacht Quayle.
Aber das Schwierigste ist natürlich der Kurs selbst. Mauern, Zäune und hohe Bordsteine direkt an der Strecke, unterschiedlichstes Grip-Niveau, nach außen abfallende Straßenabschnitte, tausende Bodenwellen an den unmöglichsten Stellen und heftige Sprünge. Jedes Stück hat seine Eigenheiten, und Milky kennt sie wirklich alle.

„Hast du die beiden kleinen Terracotta-Hunde links auf dem Mäuerchen gesehen? Genau da musst du nach der Kurve sein.“ Da sind wir in Appledean. Gleich kommt Goarslia, eine sehr schnelle Kurvenfolge unter dichten Bäumen. „Auch hier wichtig: langsam rein, schnell raus.“ Milky lenkt den Smart in den Gegenverkehr. „Nicht zu hart bremsen, eigentlich nur Gas weg. TT fahren heißt, keine ultraharten Bremsmanöver, keine großen Schräglagen, sondern weich fahren und den Speed mitnehmen. Aber das Allerwichtigste: spät einlenken - meistens -jedenfalls. Bei 90 Prozent der Kurven kommt der Scheitel spät.“
Milky neigt den Kopf nach rechts, summt im fünften Gang, imitiert das -erneute Gasanlegen am Scheitelpunkt und schaltet akustisch in den sechsten. „Jetzt kommt gleich die Bodenwelle.“ Er zählt laut: „21,22, jetzt!“ Und tatsächlich: -Augenblicklich geht der Smart kurz in die Knie. „Es dauert Jahre, bis man das hier mit Vollgas hinbekommt.“
Schon fahren wir Richtung Ballacraine, eine der wenigen Stellen bis Kirk Michael, wo bis in den zweiten Gang zurückgeschaltet und entschlossen ge-bremst wird. „Bei den Fahrern heißt das Eck auch Balla-cry, es ist zum Heulen.“
Ballaspur, eine sehr schnelle Links-Rechts-Kombination, passieren wir gleich danach. Hier hat es Milky damals erwischt. In der Links war er etwas zu früh dran, blieb mit der Schulter an der Mauer hängen. Es riss ihn vom Lenker. Aufrecht sitzend und ungebremst knallte er in die Mauer der folgenden Rechtskurve. Ob es ihm etwas ausmacht, wenn er an der Stelle vorbeikommt? „Nein“, sagt er knapp, als wir Ballaspur durchfahren. Dann blickt er kurz zur schicksalhaften Mauer hinüber. „Schlampe“, zischt er und grinst. Aber er überspielt seine wahren Gefühle. Man merkt, dass hier das Ende eines Lebensabschnitts liegt.
Dann kommentiert Milky hektisch die nächste Stelle. Laural Bank ist eine idyllisch in einem engen Tal liegende Kurvenfolge. Aber für die bemoosten Hänge und das Bächlein hat Milky kein Auge. „Achtung in der letzten Kurve, gleich auf den ersten Leitpfosten außen zuhalten und rein. Das Knie nicht so tief, sonst bleibt man am Randstein hängen. Und Achtung: Der Scheitel kommt ausnahmsweise hier mal sehr früh.“
In Glen Helen geht es durch fiese Kurven einen Hügel hinauf. Das ist ein körperlich extrem anspruchsvolles Stück, das vor allem die kräftigen Fahrer wie der 17-malige TT-Gewinner John McGuinness sehr schnell nehmen, weil sie die 1000er entsprechend niederkämpfen können. Außerdem fällt die rechte Straßenseite in den Linkskurven nach außen. Die Highsider-Gefahr ist dort also sehr hoch. Genau solche Eigenschaften muss ein TT-Crack kennen - vor, in und nach jeder Kurve, auf jeder Geraden. „Die Denke ist immer: Was kommt als nächstes? Und alle Infos müssen im Kopf sein.“
Nach Glen Helen öffnet sich das Gelände, und man kann ein gutes Stück die Straße entlang schauen. „Ich sag den Newcomern immer, sie sollen hier besonders tief atmen, denn durch Glen -Helen bleibt keine Zeit, Luft zu holen.“
Verdammt schnell ist dieser Abschnitt mit den Superbikes. Sie fahren auch ab hier wieder einen hohen Vollgas-Anteil bis in den kleinen Ort Kirk Michael. Aber selbst dort gibt es Spezialisten, die nicht vom Gas gehen: „Neulich habe ich mir eine Onboard-Runde von Cameron Donald angesehen. Der ist ohne einmal mit dem Gasgriff zu zucken durch die Häuserschluchten durch“, zeigt sich Milky beeindruckt vom Australier, der die TT schon zwei Mal gewinnen konnte.
Über Kirk Michael
Als wir den Ortseingang von Kirk Michael mit der scharfen Rechtskurve erreichen, zeigt Milky Quayle auf ein leeres Grundstück auf der Innenseite. „Immobilienfritzen wollten hier letztes Jahr ein Mehrfamilienhaus bauen, aber das hätte die Kurve sehr viel gefährlicher gemacht. Also hat die Inselregierung den Bauantrag abgelehnt.“

Man weiß also auch von offizieller -Seite, was man an der Tourist Trophy hat. Allein für die Streckensicherheit und Aus-besserungsarbeiten an der Straße werden für die TT bis zu 90 000 Pfund jährlich ausgegeben. Die TT-Organisation ist direkt dem Wirtschaftsministerium der Insel unterstellt, Milky damit so etwas wie ein Racing-Beamter.
„Rhencullen ist ein mieses Ding.“ Direkt am Kurvenausgang lauert eine Bodenwelle, die die Bikes abheben lässt. Deshalb müssen die Fahrer das Motorrad schnell aufrichten und ganz nah an die Mauer außen heran bringen, wo sie am wenigsten springen. Bei Alpine Cottage ist es umgekehrt. Der Sprung bei knapp 240 km/h liegt direkt vor dem Einlenkpunkt. Im Alltag sind das ganz harmlose Knicke, aber im TT-Modus werden angsteinflößend scharfe Kurven daraus.
Nach dem berühmten Zweite-Gang-Sprung an der Ballaugh Bridge erreichen wir bald Quarry Bends, die Milky für eine der entscheidenden, aber auch gefährlichsten Stellen der Strecke hält. Die schnellen Kurven wechseln sich in der Richtung sauber ab. „Wenn man sie richtig gut erwischt, ist es wie Schlagzeugspielen“, sagt er. „Du drehst das Gas im Rhythmus, mit dem du das Bike umlegst, immer auf und etwas zu, sonst will das Ding nicht auf die andere Seite.“ Einmal, erzählt er schnell, habe so 1997 oder 98 mit der CBR 900 RR alles gepasst, aber hinterher waren durch den Krafteinsatz die Fußrasten verbogen.
In Sulby, der nächsten Ortschaft, gibt es eine lange Gerade. Dort kann man nach Konkurrenten Ausschau halten. „Es ist ein tolles Gefühl, wenn man einen vor sich sieht und so weiß, man hat Zeit gut gemacht. Aber es ist verdammt deprimierend, wenn keiner zu sehen ist.“ Hier hatte Milky außerdem immer einen Verwandten mit einer Boxentafel positioniert. Insgesamt waren es drei über die Strecke verteilt. „Um solche Dinge kümmern sich die Fahrer selbst. Jeder muss für sich entscheiden, wo ihm die Anzeige wichtig ist und wo er dann Zeit gut machen kann.“
Nach Sulby sind die Schläge und Bodenwellen inflationär. Selbst im Auto im normalen Verkehr wird man kräftig durchgeschüttelt. Wie soll das bei über 260 Sachen gehen?
MotoX ab Sulby
„Es ist wie Motocross auf Superbikes“, lacht Milky. Ab hier müssen die Fahrer das Bike fest bei den Hörnern packen. Gleichzeitig ist wieder viel Topspeed angesagt. Die Besten nehmen das Motorrad aufs Hinterrad und reiten wie Crosser über Waschbretter hinweg. „Die Streckenkenntnis ist wichtig, denn wer das Gas immer wieder zu- und aufdreht, weil er nicht weiß, wo er genau ist, bringt noch mehr Unruhe ins Motorrad. Stürze sind dann vorprogrammiert.“
Hinter Ramsey wird es endlich ebener aber auch wieder technischer. Die Hairpin ist der langsamste Teil der Strecke. Dann geht es im dritten und vierten Gang hinauf in die Berge. Noch einmal wird es sehr tricky, denn Water Works ist eine Kurvenfolge mit unterschiedlichen Radien. Während die ersten beiden Rechts mit Halbgas wie eine einzige Kurve im dritten Gang gefahren werden können, ist die zweite Rechts deutlich langsamer. Es ist aber die dritte und letzte, die es richtig in sich hat: „Vor der musst du vom Gas, noch einen Gang runter und das Tempo muss vor der Kurve schon stimmen“, erklärt Milky.
Water Works ist nämlich ein Paradebeispiel dafür, dass der TT-Kurs kaum etwas mit einer normalen Rennstrecke zu tun hat. „Du kannst hier nicht in die Kurve reinbremsen. Das wäre zu nah am absoluten Limit. Ein bisschen Spiel lässt jeder Fahrer. Und gerade Water Works ist so wellig, wer da beim Einbiegen noch auf der Bremse ist, verliert das Vorderrad und knallt in die Mauer.“
Gooseneck nach Terra Bends geht dagegen im Zweiten mit vorsichtigem Hineinbremsen. Und schon lauert Guthrie’s Memorial mit drei Linkskurven, die fast als eine gefahren werden. Die abschließende Rechts erfordert dann absolute Präzision. Der Belag fällt nach außen ab. „Lieber nicht zu schräg fahren und vorsichtig wieder ans Gas gehen, sonst ist das Vorderrad weg.“

In die Berge
Oben in den Bergen ist die Strecke endlich offen und die Fahrer können sehr weit sehen. Auch die meisten Kurven und besonderen Stellen sind gut zu erkennen. „Manchmal ertappt man sich hier oben, wie die Gedanken auf Wanderschaft gehen“, weiß Milky. „Die ganze Anspannung vom ersten Teil der Strecke fällt hier ab. Das kann fatal sein, denn das Stück über den Sneafell Mountain zurück nach Douglas hat es trotzdem in sich und außerdem stehen ja noch ein paar Runden an.“
Immer wieder hält Milky an. Wir steigen aus dem Auto und lassen die Blicke die Straße entlang schweifen. Man kann erahnen, wie schnell Superbikes hier oben sind, wenn nur mit leichtem Druck am Lenker und minimaler Gewichtsverlagerung die leichten Schwünge durchfahren werden. Gebremst wird kaum, höchstens mal das Gas zugedreht. „Dafür sind die Kisten doch gemacht“, meint Milky. „Die wollen ihre ganze Kraft in Speed umsetzen und nicht schon nach dem vierten Gang wieder brutal zusammengebremst werden. Superbikes sind perfekte TT-Bikes.“
Orientierungspunkte sind hier oben sehr schwer zu finden. Ein Marshal-Häuschen hier, ein Hinweisschild da, ein besonderer Zaunpfahl oder ein Pfeil auf der Straße - jeder Knick hat sein eigenes Signal für die Racer und man bringt bei 280 km/h besser keines durcheinander.

Back to Douglas
An der Windy Corner halten wir erneut.Als wir aussteigen, bläst uns an diesem sonnigen Tag trotzdem ein kräftiger Wind fast um. Den Namen hat sich diese lange Rechts verdient. „Der Wind kommt gern mal von beiden Seiten. Man muss höllisch aufpassen, dass man bei dem Tempo nicht einfach ausgehebelt wird.“
Milky stapft durch das sumpfige Gras auf drei große schwarze Säcke zu. Als er sie erreicht, dreht er sich um und schaut in die Kurve. „Das geht so nicht.“ Der Riding Coach berät auch die Sicherheitsverantwortlichen. Das hier scheint ihm nicht zu gefallen. „Wer da vorn übers Vorderrad stürzt, knallt hier in diese drei Ballen.“ Lieber wäre es den Fahrern, ungebremst über die matschige Wiese zu schliddern. Milky telefoniert sofort mit Shaun, dem Streckenwart. Am nächsten Tag sind die Säcke weg.
Zurück im Auto geht es links um Kate’s Cottage hinunter zum wohl berühmtesten Pub der Insel bei Cregny-Baa. „Hier musst du ganz früh fertig sein mit Bremsen, denn zum einen ist die Straße links grausam holprig, zum anderen ist es besser, bei Creg für richtig Schwung nach Brandish hinaus früh ans Gas gehen zu können und drittens sitzen hier genug Leute rum. Da willst du dich nicht zum Deppen machen und stürzen, auch wenn das Trostbier noch vor dem Rettungs-wagen da ist.“
Brandish kurz danach ist so ziemlich der Teil, der einer normalen Rennstrecke am nächsten kommt. Es gibt Curbs, eine Auslaufzone und einen griffigen, glatten Belag. „Früher war das ein enges Eck, aber nach dem Umbau vor ein paar Jahren lieben es alle. Und es hat eine Menge Zeit gebracht.“
Hillberry, Signpost und das Teilstück direkt vor der Zielgeraden, das man nur zur TT befahren kann, lassen wir hinter uns. Vor dem Grand Stand wird gerade die Straße neu gemacht. „Genau deshalb wird 2012 wieder einen Rundenrekord bringen, denn hier war es furchtbar holprig und man musste immer langsam ans Gas gehen. Das ist dieses Mal anders, ich tippe auf mindestens eine Sekunde allein hier“, sagt Milky. Dann fährt er rechts ran, schaut von der Seite mit diesem Lausbubengesicht und grinst: „Das war die Runde. Nice und easy, oder? Sulby Bridge - wo ist der Bremspunkt, wo der Scheitel, irgend etwas Besonderes?“ Als ich nach einer Minute angestrengten Überlegens noch immer nicht weiß, wie Sulby Bridge überhaupt aussieht, klopft mir Milky nachsichtig auf die Schulter: „Keine Sorge, jeder Fahrer hat drei Jahre, um das alles zu lernen.“ Ich lächle: „No way Milky!“ Es ist nach wie vor total verrückt, was die Jungs hier bei der TT treiben, aber aus Fahrersicht sieht die Sache ganz anders aus. Das ist hochkonzentrierter Rennsport und verdient vor allem eines: Respekt!




