Als im Januar 2014 im futuristischen, an eine fliegende Untertasse erinnernden Palau Sant Jordi in Barcelona der erste „Superprestigio Dirt Track“ Premiere feierte, hatte kaum jemand mit dem riesigen Erfolg dieser Veranstaltung gerechnet. Tausende begeisterter Fans bestaunten die Driftkünste ihres Idols Marc Márquez, aber auch Dirt Track-Profis wie den damals amtierenden US-Champion Brad Baker. Die Idee dahinter: in einem Sandoval das Fahrtalent von Piloten aus ganz unterschiedlichen Rennsportkategorien zu vergleichen. Denn während Dirt Track-Spezialisten selten oder nie die Chance haben, Straßenrenner zu bewegen, hält sich die Elite der Grand Prix-Stars mit Dirt Track-, Supermoto- und Motocross-Maschinen fit. Nach dem Vorbild der berühmten Kenny Roberts-Ranch in Kalifornien, auf der amerikanische Straßenweltmeister wie Wayne Rainey oder John Kocinski das Driften geübt hatten, verfügen auch einige Cracks der Gegenwart wie Valentino Rossi oder Marc Márquez über entsprechende Trainingsgelände, auf denen sie ihre Reflexe schulen können.
Márquez gilt als ein besonders glühender Dirt Track-Fan, was er auch beim Indianapolis-Grand-Prix als gern gesehener Ehrengast des AMA Pro Flat Track Grand National im dortigen Meilenoval beweist. Ein Dirt Track-Rennen mit internationaler Besetzung in seiner Heimat – das war Anfang 2014 quasi eine Erfolgsprämie für den frisch gekürten MotoGP-Weltmeister. Und als der zugesagt hatte, brauchte es keine Überredungskünste mehr, um andere Lichtgestalten wie Brad „The Bullet“ Baker für den Spaß zu gewinnen. So kam es zum Showdown beim ersten Superprestigio im Januar 2014, bei dem Márquez tapfer Gegenwehr leistete und den Gesamtsieg nur wegen eines Sturzes im Finale Baker überlassen musste.
Ein Duell, das nicht nur die Fans elektrisierte
Einmal Körper an Körper mit Marc Márquez um die Wette zu fahren war so verlockend, dass in der Nennliste für den zweiten Superprestigio Dirt Track am zweiten Dezember-Wochenende fast jeder auftauchte, der Rang und Namen hat. Für die offene Klasse war neben Titelverteidiger Baker auch der diesjährige AMA-Champion Jared Mees angemeldet, außerdem Shayna Texter, das erste Girl, das je ein AMA-Rennen gewann, der vierfache finnische Langbahn-Weltmeister Joonas Kylmäkorpi, der vierfache Enduro-Weltmeister Iván Cervantes, der fünffache Superenduro-Weltmeister Taddy Blazusiak sowie der dreifache Supermoto-Weltmeister Thomas Chareyre. 24 Open Class-Bewerbern standen 24 aktuelle und frühere GP-Piloten gegenüber, darunter die amtierenden Weltmeister Marc und Alex Márquez sowie Tito Rabat, der dreifache Superbike-Champion Troy Bayliss, Scott Redding, Bradley Smith und Mika Kallio. Aber auch Jonas Folger und Marcel Schrötter, die in ihrer Wahlheimat Spanien zwar viel mit Cross-Motorrädern trainieren, sich für den Superprestigio aber auf den ganz besonderen Dirt Track-Fahrstil umstellen mussten, waren dabei.
Zum Reglement: Neben reinrassigen Dirt Trackern sind auch Motocross-, Enduro- und Supermoto-Maschinen für den Wettbewerb zugelassen. Auch die Größe des Hubraums ist ganz den Teilnehmern überlassen, solange es sich um Viertakter mit mindestens 250 cm³ handelt. Vorgeschrieben sind jedoch Michelin-Supermoto-Regenreifen, die zwar ein Profil, aber keine richtigen Stollen aufweisen und auf dem losen Untergrund wenig Grip aufbauen. Vor allem aber müssen die Kandidaten ohne Vorderbremse auskommen.
Das bedeutete, den Speed beim Einbiegen in die beiden Kehren des insgesamt 200 Meter langen Ovals auf besonders spektakuläre Weise loszuwerden. „Pitching it in“ nennen die Amerikaner die für Normalsterbliche schwer nachvollziehbare Übung, das Bike am Kurveneingang in Schräglage zu zwingen. Dabei wird es entweder durch Gasgeben oder den Gebrauch der Hinterradbremse in den Drift gebracht und mit dem stahlbewehrten linken Stiefel ausbalanciert, um auf diese Weise in Schneepflug-Manier Tempo abzubauen. Dirt Track-Anfänger beschränken sich meist darauf, das Hinterrad wegrutschen zu lassen, während die Cracks sofort nach dem Ausbrechen des Hinterrads kräftig gegenlenken und auch das schräg zur Fahrtrichtung stehende Vorderrad zum Verzögern nutzen.
Noch mehr Feingefühl ist in der Kurvenmitte gefragt. Dort soll sich das Fahrzeugheck noch weiter um die Front drehen und dann schnell Richtung der nächsten Geraden deuten, um möglichst früh und effektiv beschleunigen zu können. Wer das hinkriegt, ohne einen Highsider zu provozieren, stellt den linken Fuß flink auf die Raste und verlegt sein Gewicht von der Seite nach hinten, um beim Beschleunigen möglichst viel Traktion zu erzeugen, bevor das Spiel einen Wimpernschlag später an der nächsten Kurve von Neuem beginnt.
Deutsche Außenseiter und ein Superstar zum Zuschauen verurteilt
Jonas Folger und Marcel Schrötter hatten gemeinsam für den Superprestigio trainiert und ihre Motorräder penibel auf den Event abgestimmt. Trotzdem kam Folger nicht über die Qualifikations-Heats hinaus und musste auf den Hauptwettbewerb am Abend verzichten. „Mein Auftritt war eher bescheiden, ich hatte mir mehr erhofft“, gestand der 21-jährige Oberbayer. „Leider habe ich zwei Rennen komplett vergeigt. In diesen Läufen bin ich in der Startkurve in Zwischenfälle verwickelt worden. Einmal bin ich gestürzt, beim anderen Mal ist der Motor ausgegangen. Logisch, dass ich so nicht sehr weit gekommen bin.“
Besser lief es bei Schrötter, der sich am frühen Nachmittag der Ein-Tages-Veranstaltung mit der neuntschnellsten Rundenzeit für den Hauptwettbewerb qualifizieren konnte. In den Ausscheidungsläufen fuhr aber auch er knapp am Einzug in die Finalrennen vorbei. Trotzdem war Schrötter insgesamt zufrieden: „Ich habe erfolgreicher abgeschnitten als beim ersten Superprestigio im Januar. Ich fand schneller den richtigen Rhythmus, mein Fahrstil war um einiges flüssiger. Doch um sich auch für die Finalläufe zu qualifizieren, ist eine noch bessere und intensivere Vorbereitung notwendig.“
Nicht nur die deutschen Außenseiter, sondern auch einer der Superstars war am Ende zum Zuschauen verurteilt: Brad Baker war zunächst der Schnellste der amerikanischen Flat Track-Abordnung, baute in der Qualifikation dann aber einen heftigen Sturz, bei dem er von seinem eigenen Motorrad getroffen wurde, das Bewusstsein verlor und in die berühmte Sportler-Klinik Dexeus gebracht wurde. Dort diagnostizierten die Ärzte eine ausgerenkte linke Schulter. „Zunächst lief alles prima, ich fühlte mich gut, war Schnellster in allen Sessions und hatte gerade eine extra schnelle Runde in 12,0 Sekunden gedreht“, schilderte er später. „Vor einer Kurve gab es ziemliche Bodenwellen, das Hinterrad geriet in eine Rille und drehte das Motorrad in die Gegenrichtung. Ich flog über den Lenker und fiel auf den Kopf, das Bike landete auf meiner Schulter.“ Dabei ging er „für mindestens eine halbe Minute“ k. o. „Als ich wieder zu mir kam, wusste ich nicht genau, was los war, ich musste die Einzelheiten Stück für Stück in meinem Kopf zusammenklauben. Kein angenehmes Gefühl“, erklärte er weiter. „Gott sei Dank habe ich keine Knochen gebrochen und keine Kopfverletzung. Nach Fahren ist mir heute nicht mehr zumute…“
Márquez besiegt den weltbesten Dirt Track-Spezialisten
An seiner Stelle legte sich Jared Mees ins Zeug. „Die Fans in Barcelona werden den besten Flat-Tracker der USA in Aktion erleben“, hatte der 28-Jährige aus Clio, Michigan, in typisch amerikanischer Art angekündigt. Er sei ein guter Starter, die im Flat Track-Gewerbe unübliche Startprozedur mit einer Schranke wie beim Motocross werde ihn vor keine Probleme stellen. Die Piste sei ganz ähnlich wie die von Daytona Beach, auch da erwarte er keine Umstellungsschwierigkeiten. Und tatsächlich segelte er wie von selbst durch die Ausscheidungs- und Qualifikationsläufe und schien nach dem Ausfall von Brad Baker in die Fußstapfen seines Landsmannes treten zu können.
Bis er auf Marc Márquez traf, der klar Schnellster aller Straßenrennfahrer war und gegen seine Asphalt-Kollegen drei der vier Qualifikationsläufe gewonnen hatte. Es folgte das zwölf Runden lange Abschluss-Event, das Superfinale der acht besten Fahrer. Márquez wurde ebenso wie Mees nach dem Start von Thomas Chareyre abgedrängt und in ein Gerangel am Pistenrand verwickelt, was dem spanischen Superbike-Meister Kenny Noyes eine frühe Führung in die Hand spielte. Márquez und Mees pirschten sich wieder an den in Barcelona wohnenden Amerikaner heran und quetschten sich wenige Runden vor Schluss an Noyes vorbei. Der Endspurt wurde zum Prestigeduell zwischen dem Weltmeister der Königsklasse und dem Kaiser des amerikanischen Driftsports. Nach der Niederlage vom Jahresanfang behielt Márquez diesmal das Gleichgewicht und die Oberhand. So vehement Mees auch attackierte, Márquez schloss jede Lücke, wusste auf jeden Trick die richtige Antwort und huschte am Ende mit 0,298 Sekunden Vorsprung vor Mees über die Linie.
Damit feierte der Superstar nach 13 Grand Prix-Siegen und seinem zweiten MotoGP-Titel in Folge nun auch in seinem Hobbysport ein historisches Erfolgserlebnis: Er hatte den weltbesten Dirt Track-Spezialisten besiegt. „Vor dem Start war ich ziemlich nervös, denn ich wusste, wie schnell Mees war und dass er in den meisten Qualifikationsläufen bessere Zeiten erzielt hatte als ich“, erklärte er. „Doch das fleißige Training in diesem Jahr hat sich bezahlt gemacht. Im Januar, beim ersten Superprestigio, bin ich ohne ordentliches Setup angekommen, und mir fiel auf, dass Baker sein Motorrad in vielen Details viel besser präpariert hatte. Seither haben wir viel am Setup gearbeitet, haben viel gelernt und viele Fortschritte gemacht.“
Nicht nur Márquez, Schrötter und Folger, auch die meisten anderen Straßenrennfahrer hatten den zweiten Event ernster genommen als den ersten und ihre Motorräder mit untenliegenden Auspuffanlagen und minutiös abgestimmten Federelementen in echte Dirt Tracker verwandelt. Ebenso professionell war der Medienrummel mit Live-Übertragungen der einzelnen Heats, die rund um den Globus für Begeisterung sorgten. Fahrer, Fans und Organisatoren waren wie von einem Fieber infiziert und überzeugt, das spanische Spektakel werde im nächsten Jahr nicht nur noch größer und besser werden, sondern in Form weiterer Dirt Track-Events in anderen Ländern Kreise ziehen.
Und tatsächlich war einer der Prominenten nicht nur als Teilnehmer, sondern auch als Beobachter vor Ort. Troy Bayliss ging in Barcelona zwar sportlich unter und fuhr am Finale vorbei. Doch am 17. Januar tritt der Australier abermals an – dann mit Heimvorteil. Denn an diesem Samstag steigt auf dem Fünften Kontinent zum dritten Mal der Troy Bayliss Classic Flat Track Racing Event. Im Vorjahr hatte Bayliss vor 6500 begeisterten Zuschauern überlegen gewonnen. Spannung ist auch dieses Mal garantiert: Zu den Stargästen zählen nicht nur Straßenrennfahrer wie Jack Miller, Broc Parkes und Chris Vermeulen, sondern auch Brad Baker. Bis Mitte Januar dürften seine Kopfschmerzen verflogen sein – die Revanche für die Niederlage in Barcelona steht an.
Künftig könnten Baker, Mees und die Stars des Straßenrennsports sogar mehrmals im Jahr aufeinandertreffen. Vertreter der AMA, die sich unter die knapp 10 000 Zuschauer gemischt hatten, kündigten an, den Superprestigio auch in die USA zu importieren, eine ähnliche Veranstaltung in Florida durchzuziehen und aus den Events in Barcelona und Amerika – dort möglicherweise in Daytona – eine Superprestigio-Meisterschaft zu schmieden. Dann könnte sich Marc Márquez einen lang gehegten Traum erfüllen und die US-Flat-Tracker in ihrem eigenen Land und auf einer ihrer eigenen Pisten herausfordern.
Ergebnisse
Superfinale:
1. Marc Márquez (E/Honda/MotoGP-Weltmeister), 12 Runden in 2.35,121 Minuten (Schnitt 55,69 km/h);
2. Jared Mees (USA/Honda/amtierender US Grand National Champion), 0,298 sek zurück;
3. Kenny Noyes (USA/Kawasaki/amtierender spanischer Superbike-Meister), +2,347 sek;
4. Gerard Bailo (E/Suzuki/Supermoto-Fahrer);
5. Dani Ribalta (E/Honda/Langstrecken-WM-Fahrer);
6. Oliver Brindley (GB/Kawasaki/Dirt Track-Fahrer);
7. Bradley Smith (GB/Yamaha/MotoGP-Fahrer);
8. Thomas Chareyre (F/TM/amtierender Supermoto-Weltmeister).
Schnellste Runde: Mees in 12,254 sek (Schnitt 58,75 km/h).