An einer Wand meines Büros hängt die Tuschezeichnung einer Vincent Black Lightning von 1953 mit der Startnummer eins: ein unglaublich schönes, klares Motorrad mit luftgekühltem V2, 998 cm³, 70 PS und Vierganggetriebe. Man sieht nur wenig Rahmen, aber ganz deutlich sind Trapezgabel, Dreiecksschwinge, Reifen der Größe 3.00 x 21 vorn und 3.50 x 20 hinten sowie Trommelbremsen zu erkennen. Das exklusive Stück galt in den frühen 50ern als „schnellstes Serienmotorrad der Welt“. Die absolute Höchstgeschwindigkeit gab Vincent mit „not yet tested“ an. Mutige Männer holten mehr als 200 km/h heraus.
Kurz vor und längere Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die große Ära der Weltrekorde. Engländer und Amerikaner kämpften um den absoluten Geschwindigkeitsrekord auf zwei, drei und vier Rädern. Natürlich waren auch die Deutschen dabei, unvergessen Ernst Henne 1951 mit einer Kompressor-BMW auf der Autobahn Frankfurt-Darmstadt mit 274,4 km/h und Wilhelm Herz 1956 auf den Bonneville Salt Flats in Utah auf NSU mit 339,5 km/h.
Zurück zur Vincent: 1948 holte der Amerikaner Rollie Free auf der englischen Vincent Black Shadow einen Weltrekord auf zwei Rädern. Rollie war bei der Weltrekordfahrt nur mit Badehose, Bademütze und Turnschuhen bekleidet, weil die Vincent bei den Fahrten zuvor wegen flatternder Kleidung starke Fahrwerksunruhen hatte und nicht schnell genug lief. Das Motiv „Rollie Free at speed on his Vincent“ ist heute auf vielen T-Shirts und Sweaters zu finden.
Aktuell geht es um einen doppelten Vincent-Motor, den der Amerikaner Max Lambky schon 1988 konstruierte, in eine flache Zigarre einbaute und seither ununterbrochen weiterentwickelte. In der ersten Version hatte das Vincent-V2-Doppel zweimal 998 cm³ und damit rund zwei Liter Hubraum. Als Kraftstoff kommt reiner Alkohol zum Einsatz. Ein Kompressor, von einem 75 mm breiten Zahnriemen angetrieben, drückt das Gemisch in die vier Zylinder. Der Lader stammt von Weiand und wird im Alltag an „kleinen“ V8-Motoren bis vier Liter Hubraum verwendet. In der Zweiliter-Version leistete das zwangsbeatmete Vierzylinder-Triebwerk rund 350 PS.
Jahr für Jahr brachten Max Lambky und seine Freunde vom Vincent Owners Club den Streamliner bei der Speedweek in Bonneville an den Start des - je nach Wetterlage und damit Salz-/Fahrbahnzustands - neun bis elf Meilen langen „Speed Trails“. Doch entweder waren die Konkurrenten schneller oder es ging etwas kaputt. Im Jahr 2000 stellte Max den Streamliner in den Windkanal der Uni Los Angeles. „400 PS sind gut für 400 mph“, lautete das Ergebnis. Die theoretisch möglichen 645 km/h spornten Max erneut an. 2004 brachte er die beiden Motoren auf je 1500 cm³, die Leistung stieg auf 573 PS.
Doch geklappt hat es bislang noch immer nicht, weil ständig etwas kaputtging: Primär-Zahnkette gerissen, Hinterrad geplatzt, Kompressorwelle gebrochen, alle Zähne der Getriebe-Nebenwelle abgeschert, komplette Elektrik ausgestiegen, massive Schaltprobleme, Kupplung verbrannt oder der Quecksilber-Sicherheitsschalter löste die Bremsfallschirme aus, um nur die dramatischsten Schäden zu nennen. Einmal hat man sogar das Volltanken vergessen.
2004 kam ein Deutscher ins Spiel: Hartmut Weidelich, zu Hause im schwäbisch-alemannischen Aldingen zwischen Rottweil und Tuttlingen. Hartmut ist heute 49 Jahre alt, fährt seit Kindesbeinen auf allem Zwei- und Dreirädrigen und sportelt seit 30 Jahren regelmäßig im Crossgespann. Seine Brötchen verdient der Zweiradmeister im eigenen Betrieb vorzugsweise mit der Reparatur und Restaurierung englischer Motorräder und Motoren. Mit selbstentwickelten Detailverbesserungen von Vincent-Motoren hat er sich weltweit einen Namen gemacht. Deshalb holte ihn Max Lambky als zweiten Fahrer für das Projekt „Vincent Black Lightning Streamliner“ ins Team.

Doch der Streamliner blieb eine launische Diva. Und nachdem im letzten Jahr ein weiterer Anlauf mit einem Loch im Kolben endete, wollte Max Lambky aufhören und den Streamliner endgültig in die Ecke stellen. Denn der Gesundheitszustand des mittlerweile 73-Jährigen war nicht so stabil und auch das Geld wurde immer knapper, weil sich heutzutage kaum noch Sponsoren finden. „Aufhören? - nein!“ Hartmut packte seinen schwäbischen Sturschädel aus: „Schicke mir das Triebwerk, und ich werde es fachgerecht überholen“, sagte er zu Max. Der Motor kam Anfang Januar in einer Holzkiste. Hartmut rechnete mit 200 Arbeitsstunden, doch bis Ende April werden es sicher gut 500 Stunden sein.
Wenn der Antrieb dann zurück in die USA geht, hat er eine Komplettüberholung mit unzähligen Detailverbesserungen bekommen. Das betrifft sämtliche Innereien von Motor und Getriebe, außerdem gibt es für den Primärtrieb eine neue Einfach-Rollenkette mit doppelten Laschen. Das will alles erdacht und erarbeitet sein. Hartmut erledigt das meiste selbst, er hat eine Menge Fachwissen und gute Werkzeugmaschinen. Wo seine Möglichkeiten enden, springen Freunde ein. So konstruierte und baute Bernhard Spitznagel das neue Getriebe. Die Motoren des seit mehr als 30 Jahren in der Autorennszene hinter den Kulissen wirkenden Spezialisten errangen schon über 100 deutsche und europäische Meisterschaften. Selbst die Fliehkraftkupplung muss noch überarbeitet werden, ihre Belagscheiben entstammen einer Boeing 747. Und wenn alles fertig ist, wird vor dem Start des Motors der erste Gang manuell, also mit der Hand am Schalthebel eingelegt, dann der Elektrostarter aufgesteckt und der Motor gestartet, um anschließend mit infernalischem Lärm vor sich hin zu brabbeln. Bis rund 1500/min trennt die Kupplung, dann bekommt sie langsam Kraftschluss und bei 3000/min rückt sie vollständig ein. Der Fahrer schaltet mit etwas Gaswegnehmen über Knöpfe am Armaturenbrett per Druckluft.
Wenn Hartmut Weidelich gegen Ende August auf den Bonneville Salt Flats den Streamliner besteigt und zu einem neuen Weltrekordversuch startet, geht es um Alles. Wenn der von ihm überholte Doppel-V2 6500 Touren dreht, sind unter Berücksichtigung von fünf Prozent Schlupf am Hinterrad folgende Geschwindigkeiten möglich: Im ersten Gang 355 km/h, im zweiten 460 km/h und im dritten 590 km/h. Der Rekordversuch ist beim Weltverband FIM angemeldet, allerdings mit Seitenwagen. Momentan schnellster Mann auf drei Rädern ist die Schweizer Tunerlegende Fritz W. Egli, er erreichte 2009 in Bonneville 335 km/h.
Ob Hartmut Weidelich diese Marke bei seinem Speed Date toppen kann, wird sich zeigen. Mein Flug Stuttgart-Salt Lake City-Stuttgart im August dieses Jahres ist bereits gebucht, denn das „BUB Motorcycles Speed Trials 2012“ auf dem Salzsee muss ich mir unbedingt antun, in aller Konsequenz. Ohne Ohrenstöpsel, mit kurzen Hosen, Kappe auf dem Schädel und fetter Sonnencreme auf der Haut.
Und zur endgültigen Einstimmung schaue ich mir noch mindestens zweimal den Kultfilm „Mit Herz und Hand“ an, der Originaltitel „The World’s Fastest Indian“ passt um sooo viel besser. Hoffen wir, dass Hartmut Weidelich in der Realität so gut ist wie Schauspieler Anthony Hopkins als Burt Munro im Film.
Technische Daten

Motor:
Zwei über Zahnräder gekoppelte Zweizylinder-Viertakt-Motoren, Bohrung 95 mm, Hub 114,3 mm, Hubraum 2907 cm³, Leistung 573 PS bei 6500/min, Verbrauch 35 Liter Alkohol auf 15 km, Kühlung: Zylinder wassergekühlt, Zylinderköpfe mit Sprühkühlung, Kraftübertragung: Fliehkraft-Trockenkupplung, Dreiganggetriebe, Sekundärantrieb über Rollenkette
Kontakt:
HRD Dominator Engineering, Hartmut Weidelich, Rottweiler Str. 35, 78554 Aldingen, www.britishclassicbikes.de