MOTORRAD-Designer Stefan Kraft ist kein Mann lauter Worte. Stattdessen zeichnet er. Zum Beispiel das, was er sich gewünscht hätte, aber in der Neuheiten-Flut dieses Modelljahres nicht fand.
MOTORRAD-Designer Stefan Kraft ist kein Mann lauter Worte. Stattdessen zeichnet er. Zum Beispiel das, was er sich gewünscht hätte, aber in der Neuheiten-Flut dieses Modelljahres nicht fand.
Telegabel statt Telelever? Kein Problem, das ist mit ein paar Bleistiftstrichen erledigt. Dazu ein minimalistisches Rahmenheck ohne störende Beifahrer-Haltegriffe, Kofferträger oder gar eine Gepäckbrücke? Auch das ist schnell gemacht, bedeutet zunächst nur ein paar flüchtig hingeworfene Skizzen. So oder doch lieber ganz anders? MOTORRAD-Designer Stefan Kraft hat alle Möglichkeiten, auf einem weißen Blatt Papier oder am Computerbildschirm entstehen Visionen auf zwei Rädern. Einfach so, ohne Zwänge oder Businesspläne. Ein Traum.
Genau, ein Traum. Denn eigentlich, im echten Leben, geht das alles ja ganz anders. Da haben alle was zu sagen, wollen alle mitreden. Die Motorenleute haben ganz spezielle Ansprüche, die Elektriker auch. Und die vom Fahrwerk wollen wieder etwas anderes. Die Package-Truppe schließlich versucht, all diese unterschiedlichen Ansprüche unter einen Hut zu bringen. Und wenn sie das dann geschafft hat, dann kommen die vom Einkauf oder die Controller mit dem spitzen Rotstift und straffen hier und streichen dort. Und ganz zum Schluss staunt der Designer angesichts dessen, was von seinem einstmals kühnen Entwurf noch übrig blieb.
Bei den „Wieder-nichts-dabei-Entwürfen“ auf diesen Seiten ist das ganz anders. Da redet keiner rein. Wenn der 51-jährige Stefan Kraft von seiner ganz persönlichen BMW R 1250 R träumt, dann tut er einfach das, was er schon immer tun wollte. Er lässt das Telelever weg, wie BMW es bei der kommenden R 1200 R ja anscheinend auch tut. Weil es die Linie stört. Weil es nicht zusammenpassen will mit Krafts Mix aus konservativem Grundlayout und progressiver Formensprache. Jawohl, konservativ, denn die Proportionen dieser R 1250 R sind durchaus klassisch. „Mir schwebt eine Synthese aus klassischem Naked Bike und dynamischem Streetfighter vor. Und das passt zu der technischen Entwicklung, die der Boxer genommen hat. Denn bei der jüngsten Generation hat es sich mit der bayerischen Gemütlichkeit. Jetzt ist Leben in der Bude, und das sollte man auch sehen. Ein Roadster soll knackig sein, und davon ist die aktuelle R 1200 R doch weit entfernt. Und weil ich schon beim Träumen bin: Ein wenig mehr Hubraum täte dem Boxer trotzdem nicht schlecht.“
Aha! Ganz klar: In Sachen Hubraum gibt man sich gerne generös, wenn ein Schnapsglas mehr nur einen Pinselstrich bedeutet. Daher teilt Kraft seiner wiedergeborenen Kawasaki Z1 nach dem Motto „Viel hilft viel“ gleich die doppelte Kubikzentimeter-Ration der historischen Vorgängerin zu. Ein Statement für die Marke soll Krafts moderne „Z“ sein, und dazu gehört eben ein mächtiger Motor. Also sechs Zylinder, genau wie damals bei der Z 1300. Aber dieses Mal im historischen Kawasaki-Stil mit ausgeprägten Ventildeckeln und – ganz wichtig – den guten alten Kühlrippen, trotz Wasserkühlung. Dazu die stilprägende, klare Formensprache des Klassikers, wie so oft bei Kraft-Entwürfen kombiniert mit aktueller Fahrwerks- und Bremsentechnologie – und fertig ist eine beeindruckende Z 1800, die sich vermutlich viele Klassik-affine Kawa-Fans gerne in die Garage stellen würden. Wenn es sie denn zu kaufen gäbe.
Überhaupt, die Klassiker. Die haben es dem 51-jährigen Kraft angetan. Norton Manx, Triumph Trident, Yamaha SR 500. „Die sehen heute noch gut aus“, schwärmt er. Und sind damit mindestens ebenso prägend für seinen Yamaha-Entwurf wie die historischen Vorbilder SRX 600 und TRX 850. Krafts Yamaha SR 850: Das bedeutet einen filigranen Café Racer im englischen Ace-Cafe-Stil mit ganz viel sichtbarer Technik. Dabei fechten ihn Abgas- und Geräuschvorschriften ebenso wenig an wie die Tatsache, dass Yamaha gerade einen famosen 850er-Triple lanciert hat und in dieser Hubraumkategorie gewiss nicht über einen Single nachdenkt. Erst recht nicht über einen luftgekühlten, denn so soll Krafts SR-Motor sein. Aber einer mit dohc-Technik natürlich, mit vier Ventilen und Einspritzung. Dazu weithin sichtbare K & N-Luftfilter und unlackierte Rahmenrohre aus Chrom-Molybdän-Stahl, wieder kombiniert mit moderner Fahrwerkstechnik. Und dieses Mal mit einer knapp sitzenden Cockpit-Verkleidung und einem klassischen Uhren-Arrangement. Dazu passt die schwarze Farbe ebenso perfekt wie Chrom und viel poliertes Aluminium.
Zu guter Letzt erlebt sogar der Kickstarter eine Renaissance und lässt so manchen, der sich schon mit dem 500er-Single seiner SR herumschlug, angesichts von 850 Kubikzentimetern wohlig erschaudern. Aber keine Angst: Vor den Fußbruch setzten auch die Kraftschen Fantasien einen zusätzlichen E-Starter. Sicher ist sicher. Ebenso sicher ist auch, dass viele, die an Honda und an die Langstrecke denken, auch heute noch vor allem RCB und RSC meinen. Zu prägend war der Stilmix der Honda-Endurance-Renner der 70er- und 80er-Jahre, der eigentlich eine krude Kombination aus hochprofessioneller Technik und nachträglich angeschraubten Langstreckenutensilien wie Scheinwerfern darstellte. Das blieb im Gedächtnis haften.
Auch bei Stefan Kraft, der bei seiner modernen Interpretation der Endurance-Legenden die zwei Scheinwerfer durch einen asymmetrisch angebrachten ersetzte und so Raum schuf für einen überzeichneten Lufteinlass. Der muss bei diesen Vorbildern natürlich ebenso sein wie die angedeutete Schnelltank-Vorrichtung und die dominierenden Startnummern. Und natürlich die Kühlrippen des wassergekühlten Reihenvierers, die jedoch anders als beim Vorbild nicht von einer bauchigen Vollverkleidung verdeckt werden. Auch hier verbindet ein Gitterrohrrahmen Lenkkopf- mit Schwingenlager, auch hier sind moderne Fahrwerkskomponenten und aktuelle Felgen- und Reifenformate im Einsatz.
Allerdings kombiniert Kraft die mächtige Upside-down-Gabel mit zwei konventionellen Federbeinen und einer Kastenschwinge mit Vierkant-Unterzügen. Doch genau dieser Mix ist es ja, der den charmanten Ansatz des Vorbilds wieder aufnimmt und aktuell interpretiert. Was den Hubraum angeht, ist Kraft hingegen zurückhaltend. 1000 Kubikzentimeter – das ist die aktuelle Hubraumgrenze im Spitzensport, und an der soll auch die neue Honda mit dem alten Spirit nicht rütteln.
Ebenso wenig wie Harley an dem über ein Jahrhundert alten V2-Bekenntnis. Ein Eisen aus Milwaukee braucht den Big Twin wie die Luft zum Verbrennen. Aber wo, bitte schön, steht geschrieben, dass bei einer Harley der Lenker hoch und die Sitzgelegenheit ganz tief sein muss. XR 1400 R – da ist die Anlehnung an die leider nicht sehr erfolgreiche XR 1200 schon hinsichtlich des Namens nicht zu übersehen. Und auch sonst lassen sich Parallelen zwischen Krafts Fantasien und Harleys Versuch, das erfolgreiche Dirt Track-Engagement zu vermarkten, kaum übersehen. Das fängt beim Stoßstangen-Motor statt des weitaus moderneren V-Rod-Aggregats an und hört bei der Krümmerführung noch lange nicht auf. Als Synthese aus Streetfighter, Muscle Bike und Café Racer sieht Kraft seine 1400er, kopiert den Stil amerikanischer Muscle Cars – ganz wichtig die offene Ansaughutze mit sichtbaren Drosselklappen – und kombiniert ihn mit moderner Technik und Leichtmetallrahmen. Das wirkt dann doch nochmals deutlich progressiver als die im Vergleich etwas bieder daherkommende Sportster XR 1200 und könnte in dieser Form vermutlich nicht nur Harley-Fans begeistern.
Ebenso wie eine Moto Guzzi Le Mans IV ganz gewiss auch Fans in anderen Lagern finden würde. Auch deshalb, weil Kraft nicht nur in Nostalgie schwelgt und die selige Le Mans von 1976 wieder auferstehen lässt, sondern einen modernen Zweizylinder-Sportler konzipiert, der die klassische italienische Formensprache mit zeitgemäßer Technik kombiniert.
Ganz wichtig dabei natürlich: ein moderner, wassergekühlter Motor mit zwei obenliegenden Nockenwellen und vier radial angeordneten Ventilen pro Zylinder, der in Guzzi-typischer Manier seine roten Ventildeckel im 90-Grad-Winkel in den Fahrtwind streckt. Den Hubraum lässt Kraft zunächst offen. Seit jedoch der ausgeglichene Charakter und die feinen Wesenszüge des neuen 1290er-KTM-Twins bekannt sind, weiß man, was diesseits des Leistungssports möglich ist, und kann sich diese Hubraum-Kategorie auch in der Sport-Guzzi jederzeit vorstellen. Wie übrigens auch die Einarmschwinge in Verbindung mit einer Kardanwelle. BMW hat das mit dem Traum-Boxer HP2 eindrucksvoll vorgemacht, wie das geht. Leider aber auch, dass sich diese Motorrad-Träume oftmals kaufmännisch nicht rechnen. Und darum meistens Träume bleiben müssen.
„Das Bild im Kopf“
Stefan Kraft, Jahrgang 1962, studierte von 1982 bis 1986 Produktdesign in Schwäbisch Gmünd, bevor er sich als Designer selbstständig machte. Schon während seines Studiums zeichnete Kraft für MOTORRAD und tut das bis heute. Privat fährt der gebürtige Stuttgarter am liebsten seine über 20 Jahre alte Honda VFR 750 mit mehr als 100 000 Kilometern auf der Uhr. Eigentlich läuft die Sache ja anders. Da ist es Stefan Kraft, der nachfragt. Manchmal geht es um Basisinformationen wie das Motorenkonzept oder die Rahmenbauart, häufiger jedoch um Details wie Krümmerführung, die Form der Seitendeckel oder die Bauart von Bremszangen. Jedenfalls dann, wenn Kraft Motorräder zeichnet, deren Bild andere – zum Beispiel die MOTORRAD-Redakteure – im Kopf haben. Oder zumindest glauben, im Kopf zu haben. Dieses Mal jedoch zeichnete Kraft, was er im Kopf hatte. „Ich wollte einfach nur Motorräder zeichnen, die ich mir auch in die Garage stellen würde“, beschreibt er die Entstehung dieser Zeichnung. Das dabei die klassischen Formen und Proportionen überwiegen, wird jeder verstehen, der mit einer Kawasaki Z1, einer Yamaha SR 500 oder einer Moto Guzzi Le Mans aufwuchs oder von ihnen träumte. Dass der Schwabe darüber die Zukunft nicht aus den Augen verliert, zeigt sein gelungener BMW-Entwurf. Und damit vermutlich der Einzige dieser Kraft-Ausdrücke, der gute Chancen auf ein Leben nach der Zeichnung hat. Denn einen Roadster mit dem neuen Wasser-Boxer wird es geben. Und zwar schon bald.