Nun muss ich es auch einmal wieder tun, und der geneigte Leser möge es mir verzeihen. Aber diese Geschichte kann ich nicht anders schreiben als in der Ich-Form. Diese von Journalisten manchmal als anmaßend empfundene und von Chefredakteuren gern getilgte Erzählform ist nur statthaft, wenn es um ganz persönliche Dinge geht. Und genau darum geht es auf den folgenden Seiten. Um meine ganz persönlichen Erlebnisse mit dem Jahrzehnt-Motorrad der 90er-Jahre, der Ducati 916. ?Du musst mal mitkommen auf die Händlertagung in Bologna, bedrängt mich mein italienischer Freund Silvano. Er ist Ducati-Händler und erzählt mir mit leuchtenden Augen von einer ganz tollen neuen Maschine, die er schon mal in der Versuchsabteilung des Werks erspäht hatte. ?Bin doch Journalist, und die Ducati-Leute kennen mich, wehre ich ab. ?Kein Problem, du verkleidest dich als mein Mechaniker, da krieg ich Dich schon rein." Ein Angebot, das man nicht abschlagen konnte, vor allem, wenn man ein junger, hungriger Redakteur bei einer mittelgroßen Sportmotorradzeitschrift war... Ein kühler Sommermorgen in Bologna, ein trister Hotelhof, viele italienische Ducati-Händler, ich halte mich fern von allen Managern, aber knipse fröhlich. Neue Mito, eine neue Cagiva Elefant und ganz vorn eine unglaubliche Maschine: Roter Rahmen, extrem geduckte Linie, wahnsinnig schlanke Taille das war es. Silvano hatte nicht zu viel versprochen: Ducati würde wohl bald ein Superbike auf den Markt bringen, das alle 851 und 888 und alle Japaner sowieso verblassen lassen würde. Eine neue, viel rennmäßigere Maschine, mit Einarmschwinge, Doppelscheinwerfer, dickerem Motor. Ein paar Bilder noch, und ich verschwinde. Das ist doch nicht zu fassen! Mein Chef gibt mir eine gute Seite für die Geschichte, zusammen mit der Honda RC 45! Der Mann hat doch keine Ahnung, was ich hier mitbringe. Ich habe die weltweit ersten Fotos einer sensationellen, bahnbrechenden neuen Maschine, und dieser Erbsenzähler rückt keine Seiten raus. Das muss doch auf den Titel, groß! Es kommt nicht auf den Titel und es bleibt bei einer guten Seite. Lapidar schreibe ich von einer neuen, offensichtlich deutlich sportlicher ausgelegten Ducati, die mit zwei Millimetern mehr Bohrung 916 Kubikzentimeter Hubraum haben wird und 265 km/h wohl schon gelaufen sei. Kollege Peter Limmert, die älteren Leser mögen sich an ihn erinnern, fragte mich schon mal, warum ich mich immer so weit aus dem Fenster lehnen würde mit meinen Geschichten, und er hat ja so recht. Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, und die Italiener sehen zwar gut aus, aber funktionieren natürlich nicht wirklich. Januar 1994, Misano, Weltpräsentation der Ducati 916. Immerhin durfte ich auf die Veranstaltung, ich hätte sonst sofort gekündigt. Design-Guru Massimo Tamburini persönlich schiebt eine der vier gebauten Ducati 916-Kleinode aus der Box. Die Journalisten schweigen ergriffen: Das gab es noch nie. Diese schlanke Taille, diese geduckte Gesamtlinie, dieses schlanke Heck mit den beiden ovalen Endtöpfen drunter, Einarmschwinge, gegossene Verkleidungshalter, mächtige Airbox, 50er-Drosselklappen, 190er-Hinterreifen. Eine neue, schöne, unendlich attraktive, vielversprechende Welt! Mein Törn kommt nachmittags. Stundenlang muss ich zusehen, wie die Kollegen die Getriebe malträtieren, die Ideallinie nicht treffen und das Wetter schlechter wird. Fotograf Frank Herzog wird langsam sauer. Hat die Geschichte noch nicht im Sack. Eine 916 ging schon durch einen übermotivierten Japaner drauf, nun beginnt es zu tröpfeln, und der untalentierte Redakteur einer inzwischen vom Markt verschwundenen Kölner Motorradzeitschrift fährt weiter, als ob es trocken wäre. ?Das geht nicht gut, sage ich Frank und schon überschlägt sich die nächste 916 im Kiesbett. Das schmerzverzerrte Gesicht von Herrn Tamburini habe ich bis heute nicht vergessen. Er sperrt die Box zu und erklärt die Veranstaltung für beendet. Die vier Maschinen waren in Handarbeit für die Journaille aufgebaut worden, nach kaum fünf Stunden war die Hälfte eliminiert. Der Meister schwieg fortan und ergoss tiefe Verachtung über uns. Meine Geschichte? Was wird aus meiner Geschichte? Ich bearbeite den Ducati-Pressesprecher, ich spreche bei Herrn Castiglioni persönlich vor. Ich besteche die Mechaniker, ich gehe einfach nicht. Während die Kollegen schon verschwunden sind, rappelt das Rolltor nochmals hoch. Es gäbe da noch einen Muli, ohne Spiegel, in Gottes Namen soll ich halt noch ein paar Runden damit drehen. Es werden mit die schönsten Runden in mei-nem Motorradfahrerleben. Die Sonne glüht Richtung Horizont und ich habe dieses unglaubliche Motorrad unter mir. Niemand fährt mehr, Linse Frank liegt mit dem Tele in einer Kurve. Ich lasse es rollen. Zunächst zaghaft, denn der Motor schiebt schon in der Mitte richtig an. Dann etwas zügiger. Freue mich über das messerscharfe Handling und die trotzdem unglaubliche Stabilität. Irgendwann tastet das Knie über den Asphalt, und die Ducati hat immer noch immense Reserven. Die letzten Runden quetsche ich den Motor aus, schalte bei 10000/min, winkle voll zackig ab, bremse auf der letzten Rille. Das brüllt aus den Endrohren und hämmert in der Airbox, wie noch nie zuvor. Euphorie, pure Euphorie, so eine Maschine war ich noch nie gefahren. Und das mit Straßenzulassung, 109 PS, Garantie. ?Das hat Dir Spaß gemacht, oder?, fragt mich ein Ducati-Mechaniker, und auch Frank scheint endlich zufrieden. Er hat noch was mit Gegenlicht gemacht. ?Die Sonne hat direkt unter deinem Knie durch geschienen, sah ganz gut aus, aber nimmt ja keiner ins Heft. Frank ist der coolste Fotografenhund aller Zeiten und hat recht. Das Foto steht heute noch in meinem Regal, ein Bild zum Träumen für bikelose Winterabende. Über die 916 zu schreiben, ohne auf die Rennerei einzugehen, wäre Sünde. Denn dafür war sie hauptsächlich entwickelt worden. Die Herren Carl Fogarty, Troy Corser und Troy Bayliss wurden auf ihr sechsmal Superbike-Weltmeister. Die 916 gewann unzählige Rennen auf nationaler und internationaler Ebene. Ob es jemals wieder einen solch großen Wurf im Motorradbau geben wird? Heute eine unverbastelte 916 sein eigen zu nennen, bedeutet, einen Schatz zu besitzen. Sie zu pflegen, ist oberste Bikerpflicht.
Ducati 916
Motor: Zweizylinder-Viertakt-90-Grad-V-Motor, vierVentile pro Brennraum, desmodromisch gesteuert, Boh-rung x Hub 94 x 66 Millimeter, 916 cm3, 79 kW (109 PS)bei 9000/min, 86 Nm bei 7000/min, Einspritzung, E-Starter, Trockenkupplung, Sechsganggetriebe, Kettenantrieb.fahrwerk:Gitterrohrrahmen aus Stahl, Upside-down-Gabel, hinten Federbein, Einarm-Aluminiumschwingemit Hebelsystem, Doppelscheibenbremse vorn, Scheibenbremse hinten, Gussräder, Bereifung 120/70 ZR 17und 190/50 ZR 17. Maße und gewicht:Radstand 1410 mm, Lenkkopfwinkel 66 Grad, Sitzhöhe 770 mm, Gewicht vollgetankt211 kg, Tankinhalt 17 Liter, Höchstgeschwindigkeit256 km/h. preis 1994:?27900 Mark inkl. Nebenkosten (14265 Euro)