Na klar, es hat sie gegeben, die Enttäuschten und Verprellten. Zum Beispiel die Honda-Fans. „Wo, bitte, steht die neue Africa Twin?“, war eine der meistgestellten Fragen in Köln. Die Antwort: in Mailand. „Und die Honda RCV?“ Wahrscheinlich auch. Genau wie die neue, von vielen Yamaha-Fans mit Spannung erwartete R1. Oder das neue Vierzylinder-Funbike BMW S 1000 XR. Mailand, alles erst in Mailand. Nun kann man natürlich ins Feld führen, dass Köln auch jede Menge Premieren hatte. Aber wird das die Skandinavier oder Briten trösten, die viele Hundert Kilometer Anreise in Kauf nehmen mussten? Oder die Dresdner und Leipziger, die von Ost nach West einmal quer durch Deutschland fuhren, um alle neuen Brenner hautnah zu erleben?
Eher nicht. Wie soll das Kölner Publikum auch verstehen, warum ihm einige der spannendsten Kracher vorenthalten werden, während der südeuropäische und alpenländische Biker einen Monat später die versammelte Palette aller Saisonneuheiten 2015 geboten bekommt. Dem INTERMOT-Besucher ist das Hauen und Stechen der Messegesellschaften um die spektakulären Premieren vermutlich ziemlich egal. Er fragt sich vielmehr, womit denn die kriselnden südeuropäischen Märkte diese liebevolle Zuwendung verdient haben, während der derzeit wieder kräftig wachsende und stückzahlenmäßig ohnehin große deutsche Markt so stiefmütterlich behandelt wird. Antworten? Es gibt nichts wirklich Tröstliches. Die üblichen Verweise der Hersteller auf internationale Datenströme und allgegenwärtige Online-Präsenz ist ein eher hilfloser Versuch. Als ob so ein virtuelles Cyber-Meeting ein Ersatz wäre für die vieldimensionale Erlebniswelt beim ersten Probesitzen? Sehen, fühlen, berühren – das ist so sinnlich wie die erste Ausfahrt.
Die Lust am Motorrad ist in Deutschland neu entflammt
Aber, und jetzt kommt die gute Nachricht: Alle Hersteller, die wenig oder nichts zeigten, werden sich ein wenig ärgern. Die Lust am Motorrad ist in Deutschland neu entflammt. Und zwar nicht nur bei den alten Hasen, sondern auch bei vielen Motorradeinsteigern – und damit potenziellen Kunden. Ein gehöriger Anteil der rund 201 000 Besucher, die sich in diesem Jahr durch die Hallen drängten (INTERMOT 2012: 203 000), war ganz offensichtlich jüngeren Baujahrs. Da stört auch die leicht rückläufige Besucherzahl kaum, zumal man die auch vor dem Hintergrund betrachten muss, dass dem „normalen“ Publikum in diesem Jahr ein Messetag weniger zur Verfügung stand, weil der Mittwoch zum „Fachbesuchertag“ erklärt worden war. „Über 90 Prozent der Fachbesucher und Aussteller befürworten die Einführung des Fachbesuchertages“, resümierte Messechef Gerald Böse im Schlussbericht. Und verkündete, man habe eine „signifikante Steigerung bei europäischem Fachpublikum, insbesondere aus Italien“, verzeichnen können. Wie, die Italiener gehen nach Köln? Darf man daraus schließen, dass trotz der Mailänder Gala Anfang November gerade die Profis gerne an den Rhein kommen? Weniger Glamour, mehr Infos? Möglich ist das.
Wobei: Es ist ja nicht so, als hätte es unter dem Dom nichts Spektakuläres zu sehen gegeben. Allen voran auf dem Kawasaki-Stand, wo die Grünen ein Motorrad jenseits aller bisherigen Leistungskoordinaten präsentierten. Die Ninja H2R mit kompressorbeatmetem 1000er-Reihenvierzylinder und um die 300 PS war schon im Stand auf dem Messestand so beeindruckend schnell, dass viele sich gedanklich kurz vorm Abheben wähnten. Dass die dazugehörige Straßenvariante Ninja H2 erst in Mailand präsentiert wird, fiel da kaum ins Gewicht. Ebenso gut bedient dürften sich viele Ducati-Fans gefühlt haben. Vielleicht sogar jene, die mit so Leistungsträchtigem wie der neuen Multistrada oder gar einer noch stärkeren Panigale geliebäugelt hatten, denn schließlich wurden sie mit einer Neuheit entschädigt, die so manchem PS-Protz die Show stahl: Die neue Ducati Scrambler, ein 75-PS-Motorrad mit zierlichen Ausmaßen und gelungenem Alt-neu-Mix, begeisterte alle. Und traf den Puls der Zeit damit ebenso wie der neu gestylte Klassiker Yamaha XJR 1300 oder unzählige andere Umbauten, die nicht so sehr auf technische Innovation als gefühlsmäßige Inspiration setzten. Wohin die führen kann, wurde auf der Sonderausstellung zur Custombike-WM in Halle 10 nachdrücklich vorgeführt. Dort kämpften die Kreationen der besten Customizer der Welt um Ruhm und Ehre, während BMW nur zwei Hallen weiter beim Kampf um die Marktanteile ganz entschieden die nächste Runde einläutete. Die Boxer-Modelle R 1200 R und R 1200 RS (MOTORRAD 22/2014) überraschten mit einer formalen Dynamik, die man den Münchnern so ohne Weiteres nicht zugetraut hätte. Eine Neuauflage der Supersportler-Ikone S 1000 RR hingegen durfte man so erwarten – mit noch mehr Leistung und noch mehr Hightech.
Yamaha, Ducati, Aprilia und Honda werden nachziehen, Mailand ist Superbike-Revier. Wenn es jedoch um eine Messe als Trendindikator für die neue Saison geht, dürfte Köln mit Mailand zumindest gleichauf liegen.